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Sonntag, 11. Oktober 2020

Proust und die Frage, wer sich hinter dem Rezensenten Louis Chevreuse verbirgt?

Auf den folgenden Seiten bekommt der Pariser Roman immer mehr Kontur. 

Foto: Journalist und Schriftsteller Robert Dreyfus, 1873 - 1939
sucht Anregungen oder Tipps bei seinem Freund Georg de Lauris bezogen auf die Figuren der Guermantes. Ach, wie vertraut mir doch dieser Name Guermantes nur ist. Aber 
die Antwort bleibt aus und Proust bohrt nach. (631)

Auf der Seite 648 gibt Proust seinem Freund Georges de Lauris am Ende seines Briefes bekannt, dass sein Roman kurz vor dem Abschluss stehen würde. Ui, denke ich mir, niemals kann die Recherche schon beendet sein. Ich bin so gespannt, wie sich dieser Prozess, von dem Proust selbst noch nichts ahnt, sich entwickeln wird. 

Leben Sie wohl, lieber Georg, ich schlafe nicht mehr, ich esse nicht mehr, ich arbeite nicht mehr, gibt noch vieles andere, was ich nicht mehr tue,  und zwar schon lange nicht mehr. Trotzdem, mit ein wenig Schwung wäre mein Buch in zwei Monaten fertig, aber werde ich diese zwei Monate je haben. (Februar 1911)

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die Recherche sein Lebenswerk war. Kurz vor seinem Tod hatte er sie beendet. Hier ist er erst Ende 30 und gestorben ist er mit 51 Jahren.

Doch es gab einen Brief, der mich positiv schmunzeln ließ, als einer seiner besten Freunde unter einem Pseudonym einen lobenswerten Artikel zu Prousts Übersetzung über die Bible d`Amiens geschrieben hatte. Es ist charmant zu lesen, wie verblüfft Proust war, als sich herausstellte, wer sich hinter diesen Decknamen verbarg. 

An Robert Dreyfus
8. Oktober 1910, Proust ist hier 39 Jahre alt

Ich hätte ja nichts dagegen, wenn Du mich weiterhin für scharfsinnig hieltest, aber ich muss doch der Wahrheit die Ehre geben: Nicht eine Sekunde lang habe ich vermutet, dass Du Chevreuse bist, und habe völlig naiv an Dich geschrieben, ohne zu ahnen, dass ich an Chevreuse schreibe. Besonders töricht war es, dass ich mir zwar dachte, es könne ein Pseudonym sein, dass hinter diesem Pseudonym Bonnard, Beaunier (...) stecken könnten (ein sehr elastisches Pseudonym) und dass jedes Mal, wenn man sich irrt, mir nicht einmal die bloße Möglichkeit, dass Du es sein könntest, in den Sinn kam. Es ist mir im Traum nicht eingefallen! Vielleicht weil ich, da Du schon als D. sehr nett zu mir gewesen bist, gedacht habe, damit wäre es genug für das ganze Leben und Du würdest nie wieder auf die Idee kommen, meinen Namen zu erwähnen. (...) Was Du gesagt hast, ist überaus nett, aber vor allem ist es überaus nett, dass gerade Du es gesagt hast. Gewiss, es ist schmeichelhaft, unbekannte Freunde zu haben. (...) Und dieser Chevreuse, der an der Bible d`Amiens Gefallen fand - ich habe Dich zwar gefragt, ob das nicht das Pseudonym von jemanden sei, den ich kenne, aber im Grunde habe ich doch gehofft, dass es jemand ist, den ich nicht kenne, jemand ungeheuer Talentiertes, der die Bible d`Amiens so sehr mochte, dass er es unbedingt mitteilen musste. Aber eigentlich bin ich doch nicht enttäuscht, dass dieser sympathische Chevreuse mit jemandem verschmolzen ist, dessen Beifall nur ein Beweis seiner Freundschaft ist. Ich habe dem Unbekannten nicht nachgeweint, ich habe mich lebhaft gefreut, dass es der Freund war. So preise ich Dich, liebe Dreifaltigkeit, in drei Personen, ich bin D. und Chevreuse äußerst dankbar, aber Robert Dreyfus ist mir von den dreien der Liebste. (636f) 

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Proust am 6. oder 7. Oktober in einem Brief seinen Freund Robert Dreyfus um Auskunft bat, wer die Person Louis Chevreuse denn sei?

Prost fragten in einen Brief an Dreyfus, den Dreyfus gerade beantwortet hatte: > Wer ist ein gewisser Monsieur Louis Chevreuse, der mich kürzlich ( ...) auf sehr liebenswürdige Weise zitiert hat, in einem äußerst interessanten Artikel über die Kathedrale von Straßburg. Ist es ein Pseudonym, ist es jemand, den ich kenne? < (638)

In den weiteren Briefen ging es wieder recht geistreich zu. Proust hat ein Theatrophon abonniert, das er allerdings wegen der schlechten Hörqualität wenig nutzen würde. Von zu Hause aus konnte er Opern und Theaterstücke verfolgen, ohne das Haus verlassen zu müssen. Mit dem Theatrophon wird nochmals deutlich, wie krank er ist, und immer wieder liest man in seinen Briefen, dass er wochenlang oder gar monatelang das Haus nicht verlassen hat.

Aber bei den Opern Wagner, die ich fast auswendig kenne, machen mir die Unzulänglichkeiten der Akustik nicht viel aus. (648)

Erstaunlich, dass er Wagners Opern zum großen Teil auswendig kennt. Er tauscht sich mit seinem Musikerfreund Reynaldo Hahn im März 1911 über verschiedene Opernstücke aus. Ich wusste nicht, dass Goethes Werther auch zu einer Oper komponiert wurde.

Und man liest viel Schmeichelhaftes. Reynaldo Hahn würde mehr Tiefgang haben als der große Wagner. Das war sicher wieder so eine Schleimerei von Proust.

Aber Proust kann auch sehr empathisch sein. Sein Freund Reynaldo Hahn hat am 09.11.1910 seinen Bruder Henri im Alter von 54 Jahren verloren, der in seiner Wohnung verstarb. Der ganze Brief an seinen Freund ist wundervoll geschrieben, ich aber nur die letzten Zeilen zitieren möchte.

Wenn ich etwas für Dich tun kann, sag es mir. Selbstlosigkeit ist ein Ablenkungsmittel für ohnmächtige Zuneigung. Was das Unglück selbst angeht, so kannst Du Dir all die Fragen denken, die ich mir stelle. Aber da ich sie nur Dir stellen will und in diesem Augenblick um nichts auf der Welt will, dass Du mir antwortest, begnüge ich mich damit, in Gedanken Deine Hand in der meinen zu halten und (nicht nur in Gedanken) mit Dir zu weinen. Dein tief trauriger Marcel Proust (642)

Puh, Proust ist nie um Worte verlegen. Er findet selbst in solchen schwierigen Momenten eines Menschen den richtigen Ausdruck, wo manch andere lieber schweigen würden.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 653 – 663.

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Proust Zitate

Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

Kennzeichen wahrer Originalität ist,
über ein nichtssagendes Thema nichts zu sagen.
(Brief an Georg de Lauris)

Es genügt, mit den Menschen zusammen zu sein, die man liebt; man kann träumen, mit ihnen sprechen, nicht mit ihnen sprechen, an sie denken, an unwesentlichere Dinge denken, in ihrer Gesellschaft ist das alles gleich. Wenn man mit den Menschen zusammen ist, die man liebt, ist es ganz gleich, ob man mit ihnen spricht oder nicht.
(Marcel Proust zitiert 
Jean de La Bruyère)


Montag, 20. Juli 2020

Der feinfühlige Marcel Proust

Foto: Pixabay
Weiter von Seite 543 bis 554. 

Es gibt eine Änderung zu unserem proustischen Leseprojekt. Anne hat angekündigt, dass sie nicht mehr mitlesen möchte, da sie genug eigene Projekte am Laufen habe. Ihr würde Proust nicht so nahestehen wie mir. Dennoch lasse ich Anne weiter im Boot, da ich ihr gerne von den Briefen berichten könne. Außerdem habe sie sich bereit erklärt, Internetrecherchen anzugehen, wenn ich z. B. außergewöhnliches Bildmaterial oder besondere Zusatztexte zu Proust suche, die ich selbst nicht finden kann. Anne ist Meisterin darin. Sie findet immer in kürzester Zeit Objekte, für die ich häufig zu blind oder zu ungeduldig bin.

Die Briefe zu lesen sind schon eine recht große Herausforderung, auch weil dazu die Antwortbriefe fehlen. Dazu noch die vielen Fußnoten, die dafür sorgen, dass der Lesefluss permanent gestört wird, ohne dass man hinterher wirklich schlauer geworden ist, weil uns einfach die Hintergründe fehlen. Aber mir liegt sehr viel daran, die Briefe weiter zu lesen, da ich zu Proust eine engere Bindung habe als Anne, da ich vieles andere von ihm schon gelesen habe. Er ist mir dadurch sehr vertraut geworden.

Deshalb werden nun die Telefonate hier nicht mehr aufgeführt. Dennoch ein großes Dankeschön an Anne, dass sie mich geduldig so lange begleitet hat. Gemeinsam macht es schon mehr Spaß, nun mache ich im Alleingang weiter, da ich Annes Entschluss durchaus akzeptieren und respektieren möchte. 

Auch für mich sind die Briefe nicht immer leicht. Anstrengend finde ich vor allem, die vielen Zitate herauszuschreiben, die ich häufig in der Überlänge als eine lästige und sehr zeitaufwendige Beschäftigung empfinde, weil ich sie nicht immer aus dem Zusammenhang reißen möchte. Daher häufig die langen Zitate, die mir die größte Mühe bereiten.

Auch wenn mir viele Briefe insgesamt auch sehr schwerfallen, sie zu lesen, weshalb ich nur zehn Seiten am Stück mir immer nur vornehmen möchte, und ich nicht abbrechen möchte, hat es noch eine andere Bewandtnis. Ich fühle mich zu Proust hingezogen und freue mich häufig auf das Wochenende, und hoffe, Neues aus seinem Leben in Erfahrung bringen zu können. Ich finde, seine Art zu schreiben einfach nur genial, und häufig genieße ich seine Ausdrucksweise, lasse sie im Stillen immer wieder in meinem Inneren langsam wie ein Stück Gourmet auf der Zunge zergehen, als wollte ich seine Gedanken essen und einverleiben. So schön und wohltuend fühlen sie sich an.

Auf den folgenden Seiten gibt es nur einen Brief, der mir ins Auge geschossen ist, bzw. der mich innerlich auch sehr ergriffen hat. Prousts weiche Art gefällt mir sehr. Immer bemüht um freundliche, warme Worte. Dieser Brief geht an Madame Geneviève Straus, aus dem ich unbedingt zitieren möchte, weil er auch für meine spätere Proust-Reise von Bedeutung sein wird. Madame Straus schickt Proust fünf leere Notizhefte, Tagebücher, die mich berührt haben, weil sie durch ihre Geste ihm Wertschätzung entgegenbringt, ihn mit ihrem Geschenk ermuntert, weiter zu schreiben, und Proust gibt immer zurück, was er von seinen Mitmenschen erhält. Aber immer in Form feingeistiger Geschenke, in denen häufig so viel Menschenliebe steckt. Nichts geht bei ihm unter. Alle Gedanken, die er von seinen Freund*innen empfängt, wirken auf mich wie Samen, die in seiner Seele jeder Zeit aufzugehen bereit sind. Es sind Spuren, die er dadurch in den Seelen seiner Mitmenschen hinterlässt.

An Geneviève Straus
Anfang Februar 1908, Proust ist hier 36,5 Jahre alt
Madame, Ihre kleinen Almanache bezaubern mich, und der Gedanke, dass sie von Ihnen kommen, macht sie so poetisch. Kurzum, ich bin entzückt und danke Ihnen von ganzem Herzen. (2016, 550)
Sind das nicht schöne, feinsinnige Zeilen?

Aus der Fußnote geht hervor, dass es sich um fünf kleine Carnets handelt, die die Freundin bei Kirby, Beard & Co. gekauft und sie ihm zu Neujahr geschenkt hatte. 
Vier davon sind heute im Besitz der Bibliothèque nationale. Das fünfte gehörte Cèleste Albaret, die bezeugte, dass Proust sie von Madame Straus erhalten hatte. (Ebd.)
Ganz klar, dass ich diese in der Nationalbibliothek in Paris aufsuchen werde.

Bei Amazon konnte ich folgendes Exemplar finden.

Hier geht es zu dem Link, aus dem der französische Klappentext hervorgeht, dass fünf kleine Tagebücher aus dem Geschenk der Madame Straus stammen würden. Außerdem ist zu entnehmen, dass sie als Notizbücher dienten, in denen Proust seine Gedanken zu seiner Recherche aufgeschrieben hat. Darüber hinaus geht noch hervor, dass Proust in der Zeit zwischen 1908 und 1910 sich darin jede Menge Sinnfragen gestellt hatte, auch, ob er z. B. aus seinen Ideen zu seiner Recherche einen Roman kreieren solle, oder eine philosophische Studie? Auch ist aus dem Text zu entnehmen, dass er sich immer wieder hinterfragt habe, ob er ein Schriftsteller sei? Jetzt wird für mich besser verständlich, dass Proust tatsächlich an sich als Schriftsteller und an seine Schreibkunst gezweifelt hatte, was ja schon in meinem letzten Beitrag angesprochen wurde, und ich ihn nicht für ernst genommen habe. Ich freue mich sehr über diese zusätzlichen Hinweise durch den Klappentext, die viel anschaulicher sind als manche Fußnote im eigentlichen Buch. Doch zu seinen Selbstzweifeln; tun das nicht alle guten Schriftsteller*innen, an sich und an ihrer Kunst zweifeln? 

Weiter geht es in dem Brief. Proust geht auf den Baulärm ein, der bei der Freundin zu Hause zu ertragen sei. Hat mich sehr gerührt, wie edel er darauf reagiert hat, wobei ich nicht sicher bin, ob er meint, was er schreibt, zumindest hat er Mitgefühl für deren Lage:
Was Sie mir über die Handwerker im Nebenhaus sagen, bringt mich zur Verzweiflung. Viel lieber wäre mir (ich versichere Ihnen, dass ich das ernst meine), wenn das neben mir wäre und Sie keinen Lärm hätten. Ich werde ständig daran denken. Ach, es ist wohl nichts zu machen. (551)
Hat Proust nicht genug Leid durch seine chronifizierte Atemwegserkrankung, die ihn zeitlebens ans Bett bindet? Trotzdem finde ich ihn sehr rührend, wie zärtlich Marcel Proust in Wirklichkeit doch sein kann.
Wollen wir uns ein Boot mieten, auf dem überhaupt kein Lärm gemacht wird und von dem aus wir alle schönen Städte der Welt am Meeresufer vorbeigleiten sehen, ohne unser Bett (unsere Betten) zu verlassen? (551)
Welch eine romantische Vorstellung, welch ein schönes Bild. In einem anderen Buch hatte ich einmal gelesen, dass Proust tatsächlich viele seiner Reisen im Bett liegend getätigt hatte.

Weiter geht es nächstes Wochenende 554 – 565.
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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Samstag, 2. Mai 2020

Umzugsvorbereitungen

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit Prousts Briefen von Seite 482 - 502 

Umzugsplanung von der 45 rue de Courcelles, in die rue 102 Boulevard Haussmann, Paris.
Proust steckt im November und Dezember 1906 noch immer mitten in den Umzugsvorbereitungen.

Ich bin sehr neugierig, wie Proust das Leben in der neuen Wohnung bewältigen wird, da vor den Fenstern sehr viele Bäume stehen, und er als Pollenallergiker damit gesundheitliche Probleme bekommen müsste. Er hat diese Wohnung nur genommen, weil er hier als Untermieter einziehen konnte, die Miete dadurch nicht überteuert ist, und weil sie ihn an seine Mutter erinnern würde. Laut Internetrecherche wird Proust in der neuen Wohnung zwölf Jahre zubringen, bevor er ein weiteres und letztes Mal seines Lebens umziehen wird. Jede Menge Vorbereitungsarbeiten müssen zuvor bewältigt werden, vor allem die Last mit den vielen Möbeln der Eltern bleibt nicht aus, womit sich Proust überfordert fühlt. Einige Möbel landen ins Möbellager, da auch der Bruder Robert daran nur wenig Interesse zeigt, wobei Robert mit seiner neugeborenen kranken Tochter derzeit genug Probleme hat.

An Marie-Marguerite Catusse
Anfang November 1906
… ich hatte Robert gesagt, er solle wegen mir keine Vorsichtsmaßnahmen wegen der Ansteckungsgefahr treffen, man achtet nicht auf die Krankheiten seiner Angehörigen, außer um sich Sorgen zu machen (und es sorgt mich sehr, dass dieses Kind, in dem, wie ich mir gern vorstelle, vielleicht etwas von Mama und Papa überlebt, sein Leben so traurig beginnt).

Da kann man nur hoffen, dass die Kleine keinen proustischen Gendefekt hat, siehe am Ende der Besprechung.
… und die blauen Möbel meines Schlafzimmers kommen ins Möbellager (aber erst nach dem Versuch, mein Schlafzimmer zu bewohnen). Vorerst bleibt mein Schlafzimmer mein Schlafzimmer und nimmt alle meine blauen Möbel auf. (484f)

Viele Erinnerungen lösen diese Umzugsvorbereitungen aus. Weiter schreibt er:
Ich werde alle Photographien behalten, um eine Auswahl zu treffen, denn ich will, dass meine Großeltern und sogar ihre Eltern, die ich nicht gekannt habe, die Mama aber geliebt hat, in meiner Nähe sind. (486)

Diese Umzugsaktion verarbeitet Proust auch in seiner Recherche Die Gefangene, wie aus der Fußnote zu entnehmen ist. Schade, dass ich die Briefe nicht vor der Recherche gelesen habe. Wenn man das alles nur vorher wüsste, hätte man sich anders richten können, wobei die Briefe im Suhrkamp Verlag erst 2016 herausgebracht wurden. Prousts Recherche hatte ich einige Jahre vorher schon gelesen. 
Ich hatte niemals wie (Bloch) versucht, meine Wohnung künstlerisch zu möblieren, Innenräume zu komponieren; dazu war ich zu träge und zu gleichgültig gegenüber dem, was ich alle Tage zu sehen gewohnt war. Da mein Geschmack keinen Anstoß daran nahm, hatte ich das Recht, die Ausstattung meines Zimmers unverändert zu lassen. (487)

Wobei ich diese Gleichgültigkeit keineswegs in Prousts Umzug nachempfinden kann. Irgendwie kommt er mir richtig alleine vor, was die Verteilung der elterlichen Möbel betrifft.
Nach Mamas Tod wollte ich eine Wohnung zu 1500 Francs mieten. Aber da Robert keinerlei Möbel übernehmen wollte, war ich gezwungen, teure und größere Wohnungen zu suchen, nicht ohne ihm deutlich gemacht zu haben, wie unangenehm mir das war. Er meinte, ich bräuchte das Überfüllige nur verkaufen. Da ich das nicht wollte, habe ich meine Ausgaben, , meine Anlagen, mein Leben anders eingerichtet, und der boulevard Haussmann, für den ich mich aus den emotionalen Gründen entschieden habe, die ich ihnen nannte, ist sogar klein gemessen an dem, was ich gesucht habe. Diese Möbelfrage ist über hundertmal besprochen, und alles, was ich bei Robert erreichen konnte, ist, dass er die Hälfte der Tapisserien und Papas Schreibtisch übernimmt.

Da Robert im Gegensatz zum Bruder seine eine eigene Familie und einen eigenen Hausstand gegründet hat, hat er wahrscheinlich selbst keinen Platz mehr, ein Teil Möbel seiner Eltern bei sich unterzubringen. Robert rät dem Bruder weiter mit folgenden Tipps:
 >Füll den boulevard Haussmann so gut du kannst, was nicht hineinkann, lagere es ein, später sehen wir weiter.<
 
Dazu schreibt Proust weiter Madame Catusse, die ihm beim Umzug wohl behilflich ist:
Worauf ich geantwortet habe, dass ich das Beste in die Wohnung stecken werde, und das habe ich Sie zu tun gebeten, und seit dem gestrigen Zwischenfall bitte ich Sie noch mehr darum. Statten wir den Haussmann nur mit erlesenen Dingen aus. Lagern wir alles ein, was nur mittelmäßig ist. So wird viel gerettet werden.

Auch wenn ich nicht weiß, wann durch die Corona–Krise Reisen wieder erlaubt sein wird, aber ich freue mich wahnsinnig darauf, die Häuser aufzusuchen, in denen Proust und seine Familie gewohnt haben. Aber soviel ich weiß, wird man die Möbel nicht besichtigen können, da sie nicht mehr vorhanden sind. Nur ein Bett von Proust wäre in einem Museum aufgestellt.

Telefongespräch mit Anne
Wir haben uns dieses Mal nicht so ausführlich ausgetauscht. Wir haben uns ein Zitat näher angeschaut, bei dem ich vergessen hatte, die Fußnote zu lesen. Prousts Nichte, die erst sehr kurz auf der Welt war, war laut der Fußnote nicht an Diphtherie erkrankt, sondern an Angina. Mir kam daraufhin der Gedanke und die Hoffnung, dass die Kleine nicht die Lungenkrankheit ihres Onkels vererbt bekommen hat. Das werden wir wahrscheinlich aber nicht erfahren, da Proust in den Briefen, die im Buch abgedruckt sind, selten über seinen Bruder und dessen Familie schreibt.

Proust hat nicht nur Geschichten geschrieben, sondern auch Bücher rezensiert. Darüber wurde schon in den Briefen zuvor geschrieben, aber irgendwie hatte ich sie nicht ernstgenommen. Ich hatte mich damals gefragt, ob sich Proust tatsächlich mit Buchbesprechungen abgibt? Ja, das tut er. Nach x-tem Male nachlesen, ist diese Tätigkeit nun auch bei mir angekommen, weshalb ich es hier nun endlich erwähnen möchte.

Außerdem finden wieder jede Menge literarische Gespräche statt, auch entnimmt man, dass Proust noch immer Schreibverbot hat, er sich weitest möglich daran halten möchte, was verständlicherweise nicht immer gelingt. Proust das Schreiben zu verbieten, ist, wenn man einem Pianisten verbieten würde, Klavier zu spielen.

Ausgelöst durch die Werke von John Truskin, britischer Kunsthistoriker und Sozialkritiker, kommt Proust ins Schwelgen.

An
Marie-Marguerite Catusse
Mitte Dezember 1906
Wenn ich reich wäre, würde ich nicht Meisterwerke zu kaufen suchen, die würde ich den Museen überlassen, sondern Bilder, in denen der Duft einer Stadt oder die Feuchtigkeit einer Kirche weiterlebt und die wie Trödelkram so viele Träume auslösen, wie sie in sich selbst enthalten.

John Ruskin scheint Proust nicht mehr loszulassen. Obwohl er sich mit der Übersetzung schon so schwer getan hat, bekommt er wiederholt den Auftrag, eine deutschsprachige Ausgabe zu rezensieren.

An Auguste Marguillier
Februar 1907
Ich habe das Buch von Madame Broicher soeben erhalten, gestehe Ihnen aber, dass mein Deutsch sehr schlecht ist und dass es sehr schwierig werden wird. Als meine arme Mama noch da war, nannte sie mir alle Wörter, die ich nicht wusste (es waren viele!), da sie sehr gut Deutsch konnte – wie übrigens auch alles andere. Wenn Sie also einen Mitarbeiter hätten, dem es leichter fiele, würde ich es gerne auf ihn abwälzen. Wenn Sie hingegen niemanden bei der Hand haben, werde ich mich mit einem Wörterbuch bewaffnen und dieses Werk lesen. (501)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass es sich hierbei um den zweiten und dritten Band von John Ruskin und sein Werk handelt. Essays von Charlotte Broicher, Jena 1907. (Proust hatte den (1902 erschienenen) ersten Band in der Chronique des Arts et de la Curiosité von 2. Januar 1904 besprochen. (502)

Erstaunlich dass Proust, obwohl er von seinen Kompetenzen her an seine Grenzen stößt, dennoch den Auftrag nicht absolut ablehnen kann. Sich mit einem Wörterbuch zu bewaffnen, das fand ich wieder so schön ausgedrückt, reicht eigentlich nicht, denn jeder weiß, der nur etwas von Fremdsprachen versteht, dass man mit einem Wörterbuch alleine kein Werk übersetzen kann. Wieso hat er trotzdem immer und immer wieder Aufträge bekommen? Es zeigt wiederholt deutlich und klar, das Proust in seiner Szene ein viel geschätzter Mann war.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 513 bis 523.

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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Sonntag, 19. April 2020

Seelische Krise

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit den Seiten 466 und 469 bis 481 

Durch Prousts schwere Erkrankungen und durch den Tod seiner Mutter im September 1905, wo 1903 schon der Vater an einem Hirnleiden verstorben ist, und zuvor die Großeltern mütterlicherseits, erleidet er eine seelische Krise auch durch den Tod seines Onkel. Proust bewundert den Erfolg anderer Mitstreiter, bei denen die Probleme sich in Wohlwollen aufzulösen scheinen. Er schreibt neidvoll an

Geneviève Strauß
21.07.1906, hier ist Proust 35 Jahre alt
Seltsam zu denken, dass das Leben, sowenig es sonst einem Roman gleicht, dies ausnahmsweise einmal tut. Ach, wir alle haben in den letzten zehn Jahren viel Kummer, viele Enttäuschungen, viele Qualen durchgemacht. Und für niemanden von uns wird die Stunde schlagen, in der unser Kummer in Freudenrausch, unsere Enttäuschungen in unverhoffte Erfolge und unsere Qualen in köstliche Triumphe verwandelt werden. Ich werde immer kränker sein, die Wesen, die ich verloren habe, werden mir immer mehr fehlen. (466)

Eigentlich mag ich Neid absolut nicht, obwohl jeder mal in eine neidvolle Phase geraten kann, aber hier, in diesen Zeilen, schmerzt mich Prousts Kummer sehr, weil er durch seine Erkrankungen, durch seinen Verlust wichtiger Familienmitglieder*innen tatsächlich vom Leben stark gebeutelt ist.
Alles, was ich mir vom Leben erträumen konnte, wird mir immer unerreichbarer sein. Aber für Dreyfus und Picquart ist es nicht so. Ihr Leben wurde wie in Märchen und Fortsetzungsromanen >von einer guten Fee geleitet<. Denn unsere Trauer beruht auf Wahrheiten, physiologischen Wahrheiten, menschlichen und emotionalen Wahrheiten. Ihre Leiden beruhen auf Irrtümern. Selig die Opfer von Justizirrtümern oder Ähnlichem. Sie sind die einzigen Menschen, für die es Vergeltung und Wiedergutmachung gilt. (Ebd.)

Aus der Fußnote ist dazu zu entnehmen:
Das Kassationgericht revidierte in einem Beschluss vom 12. Juli 1906 das Urteil von Rennes gegen Dreyfus. Daraufhin stimmten die Abgeordneten am 13. Juli für zwei Erlasse: Der erste erkannte Dreyfus`Unschuld an und gliederte ihn wieder in die Führung der Armee ein; der zweite rehabilitierte Picquart und beförderte ihn in den Rang des eines Brigadegenerals. (469)

Dass er neidvoll auf Picquart blickt, kann ich irgendwie nachvollziehen aber gegen Dreyfus, der politisch geplagt war, fehlt mir hierfür doch das tiefere Verständnis.
Wenn ich daran denke, was für eine Mühe ich hatte, Picquart auf den Mont Valérien, wo er gefangen gehalten wurde >>Les Plaisirs et les jours<< zukommen zu lassen, habe ich fast keine Lust mehr, ihm jetzt >>Sésame et les Lys<< zu schicken. (466)

Der Tod scheint kein Ende zu nehmen. Ein Jahr später, nachdem die Mutter an einer Urämie verstorben ist, verstirbt auch der Onkel, der Bruder der Mutter, an dieser grausamen Erkrankung.

Vier Wochen später schreibt er noch mal an dieselbe Dame:
Ich fühle mich seit zwei Tagen so schlecht, dass ich Ihnen nicht schreiben kann, ich will Ihnen nur sagen, dass ich wegen der Krankheit meines Onkels nicht abreisen konnte und deswegen in Versailles in den Réservoirs Quartier bezogen habe und prompt krank geworden bin. (471)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Proust, der gerade in die Ferien aufbrechen wollte, richtete sich stattdessen in Versailles ein, um seinen schwer erkrankten Onkel Georges-Denise Weil oft in Paris besuchen zu können (dieser starb am 25. August). Prousts Gesundheitszustand erlaubte es ihm schließlich nicht, seinen Onkel mehr als einmal zu besuchen, und er konnte nicht einmal dem Begräbnis beiwohnen. Zu Beginn seines Aufenthalts glaubte er wohl noch, er würde seinen Onkel jeden Tag (…) aufsuchen können, sobald er sich eingerichtet und von der Reise erholt hätte. (470f)

Auch durch den Tod seines Onkels fühlt sich Proust stark mitgenommen. Er schreibt an

Marie-Marguerite Catusse
Anfang September 1906
Mein armer Onkel war zu diesem Zeitpunkt äußerst krank, deswegen bin ich nicht weiter fortgefahren und hatte doch Paris nur verlassen, weil ich gehofft hatte, dass die Veränderungen mir ermöglichen würde, wieder vor die Tür zu kommen, was seit so vielen Monaten nicht der Fall gewesen war, und so meinen Onkel zu besuchen, was ich kein einziges Mal konnte. Als er im Sterben lag, bin ich hingegangen, ohne dass er mich wiedererkannte, und ich war derart krank von dieser Reise, dass ich nicht zu seiner Beerdigung gehen konnte, obwohl ich es unbedingt wollte. Er starb an derselben Krankheit wie Mama, einer Urämie, die ich ihm seit Jahren vorausgesagt hatte und die vielleicht hätte verhindert werden können, wenn man auf mich gehört hätte. (473)

Auch seine Mutter wollte nicht wahrhaben, wie schwer krank sie war, und hat jede Behandlung abgelehnt, bis es schließlich zu spät war.
Die Form war nicht dieselbe wie bei Mama, er hatte nicht diese Art von Lähmung, er war nie beim Sprechen behindert, dafür hatte er zwei Monate lang Höllenqualen gelitten, da diese Urämie (…) auf die Muskeln geschlagen ist, er konnte keine Bewegung machen, ohne zu schreien. (Ebd.)

Proust hatte sich intensiv mit der Erkrankung seines Onkels befasst. Er konnte sehr gut die unterschiedliche Auswirkung zwischen die seiner Mutter, und die seines Onkels benennen.
Was ich jetzt sagen werde, ist schrecklich, aber körperliches Leiden bedeutet für meine arme Mama so wenig, niemand kann ihre bewundernswerte Tapferkeit in Zweifel ziehen, im Gegenteil, sie fand in ihrem starken Herzen derart unerschöpfliche Kräfte, seelische Qualen durchzustehen, dass ich nicht weiß, ob ich für sie nicht am Ende Schmerzen vorgezogen hätte, die ihr körperlich zugesetzt, aber nicht wie die Sprachstörung und die Lähmung die Vorstellung aufgezwungen hätten, dass sie zum Tode verurteilt war und mich bald verlassen würde. Ich weiß, was ich sage, klingt barbarisch, aber ich, der seit ihrem Tod keine Stunde ohne den Versuch verbracht hat nachzuempfinden, was sie seit ihrer Rückkehr aus Evian denken und leiden mochte, erlebe dabei derartige Qualen, dass ich körperliche Schmerzen für sie tausendmal vorgezogen hätte, die ihr, wie ich weiß, so wenig bedeutet haben. (475)

Ich bin sicher, dass er meint, was er sagt, aber ich glaube, dass er körperliche Schmerzen stark unterschätzt. Körperliche Schmerzen können nämlich Menschen in den Wahnsinn treiben, je nach dem, von welcher Erkrankung sie ausgehen.
Ich weiß wohl, dass es alle, angefangen bei mir selbst, körperliches Leiden fürchterlicher ist als seelisches, aber nur, weil ich feige und egoistisch bin. Und Mama war frei von Feigheit und Egoismus in einem Ausmaß, das fast übermenschlich ist. (Ebd.)

Ich habe mich wiederholt gefragt, woher er das wissen kann? Was ein Mensch innerlich durchleidet, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, da niemand in das Innenleben eines anderen hineinsehen kann. Dadurch, dass die Mutter vom Sprechen her beeinträchtigt war, könnte ich mir vorstellen, dass Proust ihre Stimme, ihre Worte vermisst hatte. Aber Krankheiten sind rigoros, sie kennen keine Kompromisse und gehen auch keinen Deal mit den kranken Menschen ein.

Den nächsten Brief fand ich rührend, als Proust die Ohrringe seiner Mutter an eine Arztfrau zu vermachen versucht. Mutig, dass er es schafft, sich von Gegenständen zu trennen, die seiner Mutter wichtig waren. Aber es macht auch Sinn, die Dinge an Lebenden weiterzugeben, damit diese an anderen Personen weiterleben können, statt sie in einer Schatulle aufzuheben.

An Dr. Ladislas Landowski
26. September 1906
Chér dokteur,
 Würden Sie uns, Robert und mir, als Fürsprecher dienen wollen, und Madame Landowska bitten, diese kleinen Ohrringe anzunehmen, die Maman gehört haben? Ich habe sie eigentlich nie ohne diese Ohrringe gesehen, und wir empfänden es als zu grausam, uns von ihnen zu trennen, wenn es uns nicht andererseits ein wohltuender Gedanke wäre, sie künftig in Besitz einer Frau zu wissen, für die Maman eine tiefe Sympathie empfand. (476f)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Dr. Landowski ein Schüler von Prousts Vater gewesen ist.

Nun würde mich und Anne noch interessieren, ob die Dame das Erbe angenommen hat oder nicht? Ohrringe, die man ein Leben lang getragen hat, sind etwas Intimes, das ist, wie die Haut einer anderen Person zu tragen. Aber das werden wir nie erfahren, da uns die Antwortbriefe dazu fehlen.

Auf der nächsten Seite werden Möbel gerückt, oder rausgeschmissen, Proust weiß nicht so recht, wohin mit der großen Einrichtung, die seine Eltern hinterlassen haben, und er aus dem Elternhaus ausziehen möchte. Interessant finde ich, dass Prousts Eltern viele farbige Möbel gehabt hatten, was ich persönlich sehr liebe. Dadurch, dass die Prousts sehr häufig umgezogen sind, und das Haus, in dem sie zuletzt gelebt hatten, abgerissen wurde, kann man diese Möbel größtenteils in keinem Proust-Museum besichtigen. Soviel ich weiß, konnte in Paris nur ein einziges Möbelstück gerettet werden, und das war Prousts Bett, das in einem Museum untergebracht und zu besichtigen ist. Durch diese verflixte Corona-Krise musste meine Proust-Reise im April dieses Jahres storniert werden, sodass ich vorerst nicht mehr dazu komme, auf Prousts Spuren zu wandeln. Deshalb habe ich Lust, mir diesbezüglich eine Textpassage aus seinem Brief herauszuschreiben.

An Genevève Strauß
Anfang Oktober 1906
Da ich gezwungen war, mich von der rue de Courcelles zu trennen, habe ich seit über einem Monat täglich Wohnungen suchen lassen, und mein Zögern, meine Ängste, meine in die Wege geleiteten und dann im Moment der Unterzeichnungen rückgängig gemachten Mietvereinbarungen haben mir den ganzen Schlaf geraubt, ich habe kaum die Kraft, Ihnen zu schreiben. Letzten Endes konnte ich mich nicht dazu entschließen, in einem Haus zu leben, das Mama nicht gekannt hat, und so habe ich dieses Jahr als Übergangslösung eine Wohnung in unserem Haus am boulevard Haussmann als Untermieter genommen, wo ich oft mit Mama zum Abendessen war, wo wir zusammen meinen alten Onkel in dem Zimmer sterben sahen, das ich bewohnen werde. (478)

Das müssen kostbare Möbel gewesen sein, wie man auf der Seite 480 entnehmen kann.

Welch eine Unruhe, dieses ständige Umziehen. Selbst in der Wohnung, in der er als Untermieter billig leben wird, ist das Wohnen zeitlich begrenzt.

Telefongespräch mit Anne
Anne hat sich die Frage gestellt, weshalb Proust billige Mietwohnungen suchen lässt? Ist er doch nicht so wohlhabend, wie man dies glauben möchte? Weshalb muss er auf jeden Cent achten? Eigentlich ist er wohlhabend, ich denke schon, sagte ich, dass die Eltern ein Vermögen hinterlassen haben, das mit dem Bruder Robert geteilt ist. Nur, wo ist das Vermögen hin? Wir wissen, dass Proust schlecht mit Geld umgehen kann. Aber kann man innerhalb eines Jahres das gesamte Kapital veräußert haben? Auch hier haben wir eine Lücke, die wir entweder aushalten müssen, oder aber sie wird sich mit der Zeit anhand anderer Briefe noch füllen.

Weiterhin sind wir gespannt, wie Proust sein Leben ohne seine Mutter bewältigen wird. Derzeit befindet er sich noch in tiefer Trauer, vermisst seine Mutter schmerzlichst. Gewundert haben wir uns, dass er Probleme hat, in eine Wohnung zu ziehen, mit der er noch nicht mit der Mutter darin gewohnt hatte.

Unsere Frage außerdem: Wer sorgt für ihn, wenn er so schwer krank ist? Es gibt eine Magd, die auch über den Tod der Eltern hinaus in Prousts Haushalt hantiert.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 482 – 492.

Nachtrag, 27.04.2020
Die Seiten von 482 - 429 haben Anne und ich gelesen, aber da es wieder hauptsächlich um die Möbelproblematik geht, da Proust einen Umzug plant, ist meine Buchbesprechung hierzu recht kurz geworden, die ich nicht posten werde. Oder ich knüpfe sie mit der nächsten Buchbesprechung. Mal schauen wie es passen wird.


Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 492 bis 502.

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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Sonntag, 22. März 2020

Marcel Proust und seine kranke Mutter

Weiter geht es mit den Seiten von 423 bis 434 

Marcel Proust ist noch immer krank, und sicher immens gebeutelt, dass er als ein großer Gesellschafter in gesunden Tagen keine einzige Party verpassen möchte, so ist er jetzt dazu verdammt, sich zurückzuhalten und das Bett zu hüten. Seine multiplen Erkrankungen führen ihn in eine  langwierige Zwangsisolation. Wer Proust kennt, der kann sich schwer vorstellen, dass er monatlich nur eine Stunde ausgeht. Hinzu kommt seine plötzlich schwer erkrankte Mutter, die ihm große Sorgen bereitet.

An Robert Dreyfus
Mitte Mai 1905, noch ist Proust 33 Jahre alt
Ich gehe ungefähr einmal im Monat für eine Stunde aus und liege danach eine Woche im Bett, habe Fieber, ganz zu schweigen von meinen Asthma-Anfällen. Was meinen Freund angeht, so kann ich Dich, wenn es dienlich sein sollte, nur brieflich mit ihm in Verbindung setzen. (423)

Aber Proust macht das Beste daraus. Er weiß sich zu Hause geistig zu betätigen. Das zeigt die große Anzahl seiner Briefe.
Ich hoffe, das Leben ist Dir hold und dass Du das Glück in fruchtbarer Arbeit findest. Meinerseits bin ich zurzeit, da Du Dich so liebenswürdig danach erkundigst, nicht allzu unglücklich. Ich schaffe es, ein wenig zu arbeiten – außer seit meinen entsetzlichen Anfällen – und führe ein sehr sanftes Leben, das aus Ruhe, Lektüre und einem ganz arbeitsamen Zusammensein mit Mama besteht. (424)

Auf den folgenden Seiten erkrankt allerdings auch seine Mutter seit zwei Wochen an einer schweren Harnvergiftung. Proust ist besorgt, verzweifelt, sie verweigert sogar seit zwei Wochen die Nahrung, während die Mutter sehr unvernünftig mit ihrem Leiden umgeht. Er schreibt an eine Freundin.

An Geneviève Straus
25.09.1905, Proust ist hier 34 Jahre alt
Sie ist gegenwärtig in einem entsetzlichen Zustand. Mama, die uns so sehr liebt, begreift nicht, wie grausam es von ihr ist, sich nicht behandeln lassen zu wollen. Sie ist schon mit einer akuten Urämie nach Evian gefahren, von der niemand etwas ahnte und die sich erst in Paris herausgestellt hat, denn in Evian selbst war sie nicht zu bewegen, eine Analyse durchführen zulassen. Während ich allein mit ihr in Evian war, musste ich zu meinem Kummer und trotz allen Zuredens mitansehen, wie sie auf dem Höhepunkt ihrer Schwindelanfälle schon am frühen Morgen in den Salon des Hotels hinunterging und sich dabei auf zwei Personen stützen musste, um nicht zu stürzen. Trotz ihrer Schwäche, von deren Ausmaß Ihnen allein schon die Tatsache, dass sie seit zwei Wochen nichts mehr zu sich genommen hat, eine Vorstellung zu geben vermag, lässt sie sich auch weiterhin jeden Morgen wecken, waschen, peinlich genau ankleiden, was Gift für sie ist. (433)

Schon kompliziert. Die Erkrankung nicht einsehen zu wollen, und ich mich beim Lesen dieser Zeilen gefragt habe, ob sich Madame Proust für unsterblich hielt? Nun wird mir auch klar, wieso Prousts Eltern die Ernsthaftigkeit seiner eigenen Erkrankung so wenig in Betracht haben ziehen können. Die Krankheiten scheint man in diesem Haus sehr leichtfertig hingenommen zu haben. Mir scheint, dass Jeanne Proust wie eine Pubertierende bockt, da sie nicht einmal einen Arzt an sich heranlassen möchte.
Und unmöglich, sie dazu zu bringen, ein Medikament zu nehmen oder etwas zu essen. (…) Immerhin geht es seit gestern etwas besser, nur ganz geringfügig, doch der Arzt (sofern Mama seine Besuche zulässt), versichert uns, dass Mama, sollte sie die Krise überwinden, wieder zu ihrer alten Gesundheit zurückfinden wird. Mir fällt es schwer, das zu glauben. (…) Ich habe mir immer gewünscht, nach ihr zu sterben, damit ihr der Schmerz erspart bliebe, mich zu verlieren. (Ebd)

Marcel Proust hat sich durch seine eigene schwere Erkrankung bereits in jungen Jahren mit Leben und Tod befasst. Sein Wunsch, nach seiner geliebten Mama zu sterben, um ihr den Trauerschmerz zu ersparen, ist sehr außergewöhnlich. Aber der Sohn erkennt ohnehin, dass sein Leben ohne seine Mutter ebenso qualvoll empfunden werden kann, besonders, weil er auch bis zum Schluss eine enge Bindung zu ihr gehalten hatte, obwohl er mittlerweile durch und durch zu einem erwachsenen Mann herangewachsen ist. Es war seine Mutter, die ihn an kranken Tagen am meisten versorgt hatte.
Aber ich weiß nicht, ob ihre Angst bei dem Gedanken, vielleicht von uns zu gehen, mich, der ich so unfähig dazu bin, allein im Leben zurückzulassen, oder vielleicht eingeschränkter, gebrechlicher noch weiterzuleben, ihr vielleicht noch größere Qualen bereitet. (433)

Die Mutter überlebt die Krankheit bedauerlicherweise nicht und stirbt mit 56 Jahren an den Folgen ihres Leidens. Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Wie Marcel Proust am selben Tag an Robert de Billy schreibt, (…) war seine Mutter an einer Urämie (...) erkrankt. Sie stirbt knapp zwei Wochen später, am 26. September, in Paris. (432)

Telefongespräch mit Anne 
Wir haben nicht nur aber hauptsächlich über Prousts kranke Mutter gesprochen. Anne nannte sie die sture Kranke, passte zu meiner Interpretation die bockige Pubertierende. Jeanne Proust nahm ihr Leiden zu leichtfertig hin, was sie letztlich in den Tod führte. Sie hätte mit zeitiger und richtiger medizinischer Behandlung genesen können. Anne und ich sind neugierig, wie Marcel nun sein Leben fortsetzen wird, nachdem seine wichtigste Bezugsperson nur noch auf dem Friedhof zu finden sei. Wir haben uns beide daran erinnert, wie sehr Prousts Erkrankung von den Eltern auch auf die leichte Schulter genommen wurde, mit dem Vorwurf, er würde seine Leiden zu arg hochspielen. Anne zeigte sich betroffen darüber, dass die Mutter zwei Wochen lang die Nahrung verweigert hatte und hat versucht, sich in sie hineinzuversetzen. Wie ist das, zwei Wochen lang nichts zu essen und nichts zu trinken?, war ihre Frage. Als gesunder Mensch ist das auch schwer vorstellbar. 

Auch sprachen wir über die intellektuellen Gespräche, die Proust mit seinen Briefpartner*innen weiterhin führte. Probleme zeigten sich wiederholt mit Robert de Montesquiou, und lässt sich darüber in einem Brief an Maurice Duplay aus. Montesquiou hatte Marcel ein Fragment aus seinem neuen Buch vorgelesen. Montesquiou bat Proust, sieben Personen seiner Wahl für eine Lesung einzuladen. In einem Brief hatte Proust gebeten, noch weitere Personen hinzuzufügen, mitunter auch Maurice Duplay einzuladen, wies der Schriftsteller ab, da dies den Charakter seiner Lesung verändern würde. (426f). Uns beiden, Anne und mir, wird dieser Montesquiou immer unsympathischer. Siehe auch letzte Briefe, letzte Buchbesprechung.

Weiter geht es nächstes Wochenende auf den Seiten von 434 – 447.

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Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)


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