Montag, 14. Oktober 2019

Eine belastende Mutter-Sohn-Beziehung

Auf den folgenden Seiten von 321-330 sind Anne und ich über den Konflikt zwischen Mutter und Sohn ein wenig schlauer geworden.

In dieser Besprechung werde ich nur auf einen Brief eingehen, und zwar geht es um einen recht langen Brief an die Mutter, den ich unbedingt analysieren möchte. Die anderen Briefe geben mir nicht so viele Inputs und lasse sie aus.

Des Weiteren erfährt man aus den Fußnoten wiederholt, dass Proust mehrere selbst verfasste literarische Texte im Pseudonym herausgebracht hat. Warum bringt er seine Schriftstücke im Pseudonym heraus? Eine Antwort ist aus den Briefen nicht herauszulocken. Das werden wir sicher in den späteren Briefen noch erfahren.

An Jeanne Proust
09.03.1903, Marcel ist hier noch 31 Jahre alt.

Schon die ersten Zeilen dieses Briefes wirken selbst für uns als Leserinnen recht belastend. Immer wieder bekommt man zu lesen, wie kränklich Proust ist, und dass die Mutter wenig Entgegenkommen und Verständnis für ihn aufbringen kann.

Auch sind wir dahintergekommen, weshalb Marcel in den letzten Briefen seine Dienstboten abgezogen bekommen hat. Seine Mutter möchte, dass der Sohn endlich auf die Beine kommt, und für sich selber sorgt. Was seine Erkrankungen betreffen, verlangt die Mutter von ihm, dass er eine gesündere Lebensweise einnimmt. Vor allem sein Tag / Nachtrhythmus sei dermaßen gestört, dass sich dies negativ auf die physische und auf die psychische Gesundheit auswirken würde.
Ma chére petite Maman, 
mit dem verqueren Vorauswissen könntest Du keinen passenderen Moment finden, um mit Deinem Brief gleich im Keim die dreifache Reform zu ersticken, die am Tag meiner letzten Abendgesellschaft (…) ins Werk gesetzt werden sollte und die durch meine erneute Erkältung aufgeschoben worden ist.

Unter der dreifachen Reform könnte, laut Fußnote, gemeint sein:

Den Tag / Nacht Rhythmus einhalten; nachts schlafen und am Tag Aktivitäten nachgehen.
Die Einhaltung der Essenszeiten und der Verzicht auf Schlafmittel.

Wie man weiter unten im Text entnehmen kann, ist Proust in den Frühjahrsmonaten erst am Abend aus dem Bett gestiegen. Das kann ich mir vorstellen, dass es der Mutter übel aufgestoßen ist. Aber wenn der Sohn unter Heuschnupfen leidet? Diese Krankheit schien damals noch wenig erforscht gewesen zu sein. Sehr wahrscheinlich gab es noch nicht einmal entsprechende Medikamente. Weiter geht es im Brief:
Das ist schade, denn nachher wird es zu spät sein. Von Mai bis Ende Juni wäre ich, keinesfalls vor sieben Uhr abends aufgestanden, weil ich nur zu gut weiß, was dabei in dieser Jahreszeit für mein Asthma herauskommt. Aber Du dachtest offenbar, dass, wenn ich die Absicht hätte, ein anderer zu werden, es genügen würde, mir zu sagen:  >Ändere Dich, oder aus Deiner Einladung wird nichts<, was mich sofort auf jede Änderung hätte verzichten lassen – wobei ich mich dabei nicht hätte als leichtfertig und launisch, sondern als ernst und vernünftig erwiesen hätte-. und dass, wenn ich eine solche Absicht nicht gehabt hätte, mich weder Drohungen und Versprechen dazu hätten bewegen können- denn wie hätte ich denn wohl vor mir selbst und vor Dir dagestanden?

Die Mutter setzte demzufolge Druckmittel ein. Wenn er sich nicht ändert, bestraft sie ihn in der Form, dass Marcel im Hause Proust keine Abendgesellschaft geben dürfe, was für Marcel schwer zu akzeptieren ist. Denn so wäre er gezwungen, die Dinnerparty in einer Gaststätte steigen zu lassen, was allerdings mit hohen Kosten verbunden wäre. Und Proust kann diese Kosten selber gar nicht aufbringen, da er mit seinem Schreiben nicht ausreichend zu verdienen scheint. Proust vergleicht, was für den Bruder oder für den Vater für ein gesellschaftliches Abendessen investiert wird.
Denn ich werde das Essen unweigerlich im Restaurant geben müssen, da Du mir verweigerst, es hier zu geben. Und ich mache mir nicht die geringste Illusion: Auch, wenn du sagst, es sei keine Repressalie, wirst du mir sicher, wenn ich es im Restaurant gebe, nicht die gleiche Summe bewilligen, die es dich hier gekostet hätte. (…) Ich verstehe also nicht, warum diese Abendessen, bei denen ich euch, trotz meines Gesundheitszustandes, der mir solches beschwerlicher macht als euch, nie meine Mithilfe verweigert habe, möglich sind, wenn sie Papa oder Robert nützen, und unmöglich, wenn sie mir nutzen könnten.

Und wieder kommt Proust in die Rechtfertigung, zeigt auf, dass er trotz Krankheit nicht untätig zu Hause rumsitzt, sondern seine Zeit mit der Ruskin-Übersetzung sinnvoll nutzt.
Heute Nacht habe ich, trotz starkem Fieber, an Ruskin gearbeitet und bin sehr erschöpft, was überhaupt das mich beherrschende Gefühl ist bei allen Widrigkeiten, die das Leben allen meinen Versuchen, es wieder an sich zu ziehen, ständig entgegensetzt; und so schreibe ich Dir nicht länger. Anfang Dezember, als Du Dich über meine geistige Untätigkeit beklagtest, sagte ich Dir, Du wärest unmöglich, wenn Du angesichts meiner Auferstehung, statt alles, was sie ermöglicht hatte, zu preisen und zu lieben, sofort von mir verlangtest, ich solle mich wieder an die Arbeit machen. Gleichwohl machte ich mich an die Arbeit, die Du wünschest. 

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass die ambitionierte Mutter die Ruskin-Arbeit favorisierte, und sie andere schriftliche, literarische Tätigkeiten als weniger seriös gegenüberstand. Das Buch Jean Seanteuil war z. B. noch gar nicht abgeschlossen.
Ob es mich weniger angesträngt hätte, wenn ich es an einem gesünderen Ort ohne Ofenheizung hätte tun können, weiß ich nicht, ich glaube es, offengestanden, nicht. Nichtsdestoweniger lebe ich noch halbwegs, und trotz der gewaltigen Menge Arbeit, die ich geleistet habe, berichtest Du mir täglich von Leuten, die angeblich ihr Erstaunen darüber äußern und glücklich sein sollen, mich so wohlauf zu sehen.
In diesem Brief wird nun endlich der Konflikt deutlich ausgesprochen. Unter einem wahnsinnigen Leistungsdruck steht dieser Marcel, der sogar arbeitet, obwohl er krank ist. Und dass die Leute ihn so wohlwollend erleben, lassen den Eltern seine multiplen Erkrankungen anzweifeln.

Immer wieder liest man in diesem Brief, wie schlecht für diesen Marcel gesorgt wird, obwohl er kränklich ist. Mal schreibt er nachts der Mutter einen Brief, statt sich schlafen zu legen, mal schreibt er, dass er in einem kalten Speisezimmer zu Abend gegessen hat, und er ausgehen muss, um sich an der Luft gehend aufzuwärmen, und er dadurch erneut einen Fieberanfall erlitten hatte. Das ärgert den Sohn.
Du kannst mir nicht auf positive Weise Gutes tun und bist auch nicht auf dem richtigen Weg dahin. Aber wenn Du allzu häufige Erkältungen von mir fernhieltest, würdest Du mir auf negative Weise helfen, und zwar erheblich. Das würde ein Leben, das ich aus vielerlei Gründen lieber in einer getrennten Wohnung führen würde, weniger schwierig gestalten.

Warum der Proust – Kreis dies für ein starkes Stück hält, dass er für seine Medizin selbst aufkommt, ist uns nicht verständlich. Mit Anfang dreißig darf man das ruhig verlangen.
Ich finde mich also mit dem Leben ab, wie es ist. Die Betrübnis, in der ich lebe, schenkt mir wenigstens den Trost der Philosophie.

Das haben Anne und ich nicht ganz verstanden. Wieso findet er sich mit seinem Leben ab, als wäre es in Stein gemeißelt? Er kann von zu Hause ausziehen, sich einen Job suchen, um sich damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Scheinbar versucht Proust, es seiner Mutter in allem recht machen zu wollen, ohne ihren Ansprüchen tatsächlich gerecht werden zu können.
Dies hat indes den Nachteil, dass man die Betrübnis der anderen auf fast genauso natürliche Weise hinnimmt wie die eigene. Aber wenigstens liegt es, wenn ich Dir Kummer mache an Umständen, die nicht von mir abhängen.

Wahrscheinlich spielt er hier auf seine Erkrankungen an.
In allem anderen versuche ich stets, nur das zu tun, was Dir Freude bereiten kann.

Diesen Ansprüchen kann kein Kind gerecht werden, deshalb wäre es gut, wenn Junior auszieht und seinen Lebensweg so bestreitet, wie er es selbst für richtig hält.
Von Dir kann ich nicht das Gleiche sagen. Ich stelle mir vor, ich sei an Deiner Stelle, und male mir aus, wie es wäre, wenn ich Dir nicht ein, sondern hundert Abendessen abzuschlagen hätte. Aber ich bin Dir deswegen nicht böse und bitte Dich nur, mir keinen Brief mehr zu schreiben, auf den ich antworten müsste, denn ich fühle mich wie gerädert und sehne mich nur noch danach, all diese Mühseligkeiten hinter mir zu lassen.

Dies war ein sehr trauriger Brief. Aber dennoch wird es Zeit, dass erwachsene Kinder recht schnell pflüge werden, um den Eltern nicht weiter auf der Tasche zu liegen. Anne und ich hatten uns erinnert, als wir von zu Hause ausgezogen sind. Auch wir hatten es nicht leicht, und trotzdem war der Auszug eine Notwendigkeit, um richtig erwachsen werden zu können. Für Eltern bleibt man immer klein, was keinem Kind hilft, sich zu lösen.

Marcel Proust hatte viele Fähigkeiten, er hätte sich eine Arbeit suchen können, die ihn geistig fordert und körperlich schont. Wir fragten uns, in was für einer Welt Proust lebt? Anne hat sich zurückerinnert, als Proust beruflich noch in der Bibliothek Mazarine beschäftigt war, und er mehrere Jahre wegen der Krankheit mit der Arbeit aussetzen durfte, und er später versucht hatte, eine Unbefristung zu erwirken. Kein Arbeitgeber würde dies bewilligen, auch Prousts Arbeitgeber nicht, weshalb ihm schließlich gekündigt wurde.

Soviel zu Proust und zu der belastenden Mutter-Sohn-Beziehung.

Einen Nachgedanken gibt es noch hinzuzufügen 
Anne und ich fragten uns, warum Proust immer Briefe schreiben muss, um die Konflikte zu Hause zu klären? Ich bin in mich gegangen, weil ich Proust in dieser Hinsicht auch sehr gut verstehen kann. Mir geht es ähnlich, ich schreibe lieber über Probleme, als sie mündlich auszusprechen. Dies scheint dem Marcel nicht anders zu ergehen. Schreibend kann man sich häufig besser ausdrücken, als es mit gesprochenen Worten der Fall ist. 

Nächstes Wochenende fällt Proust aus, da ich mich auf der Frankfurter Buchmesse befinde, und ich jede Menge Bucherlebnisse/Interviews transkribieren muss.

Weiter geht es dann am übernächsten Wochenende von Seite 331 – 341.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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1 Kommentar:

Anne hat gesagt…

Der Nachgedanke stimmt allerdings, liebe Mira. Ich kann Probleme eigentlich auch besser schriftlich klären.
So aufgebröselt mit Deinen Zitaten und Kommentaren dazu, liest es sich für mich auch noch mal gut. Dadurch kann ich einiges besser verinnerlichen, als wenn ich den ganzen Brief runterlese.

Ich wünsche Dir ganz viel Spaß bei der Buchmesse.

Liebe Grüße, Anne