Sonntag, 21. Juli 2019

Ein Mann schenkt einem anderen Mann Liebesblumen - ein peinlicher Zwischenfall

Seite 194 - 207   

Auf den folgenden Seiten erfährt man, dass es in Prousts Familie zwei Todesfälle gab.
Auch spricht Proust von seinem Buch, das er geschrieben hat, und das uns hier in Deutschland unbekannt ist. Dieses Buch ist sogar von seiner Mutter wohlwollend aufgenommen worden, was heißen könnte, dass sie mittlerweile ihren Schriftstellersohn akzeptiert hat. Und es geht hier auch wieder um eine Konfliktklärung, die Proust mit dem Dichter Robert de Montesquiou wiederholt pflegt.

An Robert de Montesquiou
April 1896

Montesquiou publizierte Hortensias blue am 27. Mai 1896. Proust, der sehr für die Gedichte seines Freundes zu haben ist, schickte ihm als eine nette Geste passend zu dem Gedicht einen Strauß Hortensien, die Montesquiou nicht erfreut hatte, wie man aus dem Zitat unten entnehmen kann, da es unüblich ist, einem Mann Blumen zu schenken. Proust hat darauf sehr gekränkt reagiert, was zeigt, wie sensibel er ist. Ihm sind seine Mitmenschen nicht gleichgültig. Und es ist ihm nicht gleichgültig, was sie über ihn denken.
Was mich schmerzt und von Ihrer Seite so sehr verwundert hat, ist nun Folgendes: Ich habe mich Ihnen gegenüber immer so liebenswürdig, wie es mir nur möglich war, erwiesen, und so lästig, so unangenehm ich sein mag, so müssen Sie doch die Vorzüglichkeit und den feurigen Eifer meiner guten Absichten Ihnen gegenüber anerkennen. (197)

Proust hinterfragt sich selbst. Im Postskriptum schreibt er:
Warum ist man zu liebenswürdig? Kann man überhaupt zu liebenswürdig sein? Ihre feinen Unterscheidungen und vor allem Ihre Verärgerungen sind mir unbegreiflich. Ich brauche dringend eine Lektion von Ihnen und habe größte Lust darauf, ich meine damit eine Erklärung und nicht, dass Sie mir >eine Lektion< erteilen in dem Sinne, in dem Ihre Äußerung gegenüber Madame Lamaire (Künstlerin, Anm. d. Verf.) hinsichtlich der Hortensien eine für mich war.

Anscheinend hat Montesquiou hinter Prousts Rücken abgelästert, und Proust es über Dritte erfahren hatte. Für den armen Proust eine peinliche Situation, wie ich mir vorstellen kann. Genaueres ist laut der Fußnote aber nicht eruierbar. Anne hat diese Szene auch als Klatsch und Tratsch aufgefasst.

An Laure Hayman
Mai 1896

Im nächsten Brief, der am 11.Mai 1896 an Laure Hayman geht, ist zu entnehmen, dass Prousts Onkel Louis Weil am 10.Mai 1896 im Alter von achtzig Jahren an einer Lungenfellentzündung verstorben ist. Laure Hayman hatte eine hohe Meinung von diesem Onkel, aber weshalb sie nicht an der Beerdigung teilgenommen hat, geht aus den Briefen nicht hervor. Allerdings hat sie Proust ihr Bedauern schriftlich niedergelegt.

Laure Hayman ist eine Geliebte des Verstorbenen gewesen.

Am 10. Juni 1896 verstarb der Großvater Nathé Weil im Alter von 82 Jahren. Nathé Weil ist der Vater von Madame Prousts. Prousts Mutter hatte der Tod ihres Vaters seelisch mitgenommen. Und so schreibt er an Reynaldo Hahn:
Mama geht es leidlich. Sie scheint ihren immensen Kummer mit mehr Kraft zu bewältigen, als ich zu hoffen wagte. (206)

An Robert de Montesquiou
19. Mai 1896

In diesem Schreiben geht es um den Antisemitismus. Laut der Fußnote spielt Proust auf eine Diskussion über Emile Zola an, der im Figaro wiederholt Stellung gegen antisemitische Vorurteile nimmt. Montesquiou, der die Artikel selbst auch gelesen haben muss, möchte zu der Judenfrage gerne Prousts Meinung hören, da sich Proust bisher zu dieser Thematik eher bedeckt gehalten hat. Er begründet seine Zurückhaltung folgendermaßen:
Ich habe Ihnen gestern nicht auf Ihre Frage nach meiner Meinung zu den Juden geantwortet. Und dies aus einem ganz einfachen Grund: Ich bin, wie mein Vater und mein Bruder, katholisch, meine Mutter hingegen ist Jüdin. Sie werden verstehen, dass dies für mich ein hinreichend triftiger Grund ist, mich aus derartigen Diskussionen herauszuhalten. (200)

Ich selbst dachte auch erst, dass Proust Jude ist. Dies hatte ich aus vielen Literaturforen entnommen.

Der nächste Brief geht an Reynaldo Hahn.
Juli 1896, Proust ist hier, am 10. Juli, 25 Jahre alt geworden

Reynaldo Hahn befindet sich auf Deutschland Reisen und besucht seine Schwester in Hamburg. Wie ich in der letzten Besprechung schon mitgeteilt habe, ist, dass Hahns Vater deutscher ist. Obwohl Proust hier wieder die förmliche Anrede gebraucht, spürt man an dem Brief, wie nah er Hahn ist und der Brief glauben lässt, dass die beiden ein Paar sind, was aber eher nur angedeutet wird.
Ich wäre glücklich, wenn Sie, ohne erneut die Mühen einer Reise auf sich zu nehmen, noch ein wenig Ihr >liebes Deutschland< genießen könnten, (…). Anders als die Lemaire bin ich all den Orten, an denen wir nicht zusammen sein können, keinesfalls feindlich gesinnt. Und entzückt, dass Sie Ihren Frieden haben. Ich wünsche, dass Sie dort solange wie möglich bleiben können, und ich schwöre Ihnen, dass ich, sollten die raren Momente, in denen ich die Lust verspüre, den Zug nehmen, um Sie gleich wiederzusehen, sich häufen und unerträglich werden, Sie darum bitten würde, zurückzukommen oder selbst kommen zu dürfen. (203)

Hahn scheint mit der räumlichen Distanz keine Probleme zu haben, während Proust emotional anders gestrickt zu sein scheint. Dabei erinnere ich mich an die Szene zurück, wo Proust in der Bibliothek Mazarine sich in einer Aufnahmeprüfung befindet, und er zwischendrin den Saal verlassen musste, um noch schnell seinem Freund zu telegrafieren.
Aber das ist eine unwahrscheinliche Hypothese. Bleiben Sie, solange Sie sich dort wohl fühlen. Bedenken Sie mich nur von Zeit zu Zeit in Ihren Briefen – nichts davon was mosch wäre, nichts davon gesehen -, denn wenn Sie es von Zeit zu Zeit auch sagten. Und ich bin – ohne Selbstverleugnung – glücklich, dass Sie bleiben. Aber ich werde auch sehr glücklich sein, ach, mein Liebster, sehr sehr glücklich, wenn ich Sie wieder umarmen darf, Sie, der Sie mir mit Mama der liebste Mensch auf der Welt sind. (Ebd.)

Ich hatte schon letztes Mal geschrieben, dass Hahn nach Prousts Mutter der wichtigste Mensch für ihn ist. Aber nein, ich hatte untertrieben; Proust stellt Hahn auf dieselbe Stufe, auf die er seine Mutter gestellt hat. Darauf kann sich Hahn wirklich etwas einbilden. Irgendwie klingt das einerseits recht rührend, andererseits aber auch recht naiv, und zeigt, dass Proust mit seinen 25 Jahren sich emotional nicht wirklich von seiner Mutter hat lösen können. Ob Hahn diese Art von emotionaler Ebene angenehm ist? Proust scheint sehr bemüht zu sein, es seinem Freund recht zu machen, ihn mit seiner seelischen Abhängigkeit nicht zu verärgern.
Aber ganz rasch noch (ich gebe mir Mühe, Ihnen nicht zu schreiben, was Sie verärgern oder verstimmen könnte, da es nicht in meiner Macht steht, Sie aus der Ferne mit tausenderlei Nettigkeiten eines Ponys zu besänftigen, die ich für Ihre Rückkehr aufbewahre). (Ebd.)

Weshalb Proust den letzten Absatz in eine Klammer gesetzt hat, ist mir nicht ganz klar. Kurze Begriffsklärung zu Mosch, siehe obiges Zitat.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass mosch in Prousts und Hahns Idiolekt ein Synonym für Homosexualität darstellt, angelehnt an méchant, böse, und mosche, hässlich. Homosexuell zu sein ist in einer geächteten Gesellschaft etwas Hässliches, etwas Böses, etwas widernatürlich Abstoßendes.

Dass die beiden eine Geheimsprache sprechen, hatten Anne und ich schon vermutet.

Telefongespräch mit Anne
Anne hatte sich die Frage gestellt, ob Proust parallel zu Hahn nicht auch noch zu Montesquiou eine sexuelle Beziehung gepflegt hat? Eine berechtigte Frage, aber darauf werden wir wohl kaum eine Antwort bekommen. Aber ich denke schon, dass Proust viel ausprobiert hat, siehe unten.

Merkwürdig fanden wir beide, dass die Beziehung zu Prousts Freunden die Anrede in den Briefen förmlich geblieben ist. Vielleicht, um die Homosexualität zu tarnen. Es war allerdings damals nicht mal üblich, die Eltern zu duzen. Aber muss man sich in den Briefen verstecken?
Hängen geblieben sind Anne und ich auch an dem Brief, der Montesquiou bestimmt war. Wie ist es für einen Mann, der von einem anderen Mann einen Strauß Blumen geschenkt bekommt? Angenehm erfreut war der Dichter darüber nicht, wie ich oben schon geschrieben habe. Es scheint, als würde Proust häufig mit seinem offenen Herzen ins Fettnäpfchen treten, weshalb er in dem Brief an Hahn so sehr vorsichtig war, ihn mit seiner Emotionalität nicht einzuengen.
Vielleicht hatte Proust keine Berührungsängste, seinem Freund Blumen zukommen zu lassen, da dieser so viele Gedichte über Blumen verfasst hat. 

Traurig waren wir auch über den Tod des Großvaters Nathé Weil, da wir nun keine an ihn gerichteten Briefe mehr zu lesen bekommen. Der Großvater schien für Proust häufig ein Ausgleich zwischen sich und seinen Eltern gewesen zu sein.

Geredet haben wir auch über den zweiten Band, der über 1000 Seiten umfasst. Briefe, die bis zu Prousts Tod reichen. Wir sind neugierig, wie er sich im späteren erwachsenen Alter noch entpuppen wird. Auch wenn die Antwortbriefe ausbleiben, nehmen wir wie ein roter Faden doch an seiner persönlichen Entwicklung teil.  

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 207 – 2017.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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