Seite 207 – 2017
Auf den folgenden Seiten erlebten Anne und ich Marcel Proust wieder
voll in seinem Element. Schüttet sein Herz aus, bzw. wie Anne sagt, trägt er
sein Herz auf der Zunge, redet allerdings um den heißen Brei, schreibt sehr
ausschweifend, sodass man zwischen den Zeilen lesen muss, wobei uns beim
zweiten Mal lesen seine Probleme deutlich wurden. Proust steckt in einer
schweren Liebeskrise mit Reynaldo Hahn. Zwei dieser Briefe haben uns
diesbezüglich beschäftigt.
In einem anderen Briefen geht es thematisch auch um Literatur, diesmal
um Plagiatsvorwürfe.
An Reynaldo Hahn
Juli / August 1896
Ein sehr persönlicher Brief, trotz förmlicher Anrede. Proust ist
seelisch betrachtet tief gekränkt, weil Hahn ihm versprochen haben soll, Proust
alles mitzuteilen, was er auf Reisen erlebt habe.
Reynaldo, ich hatte heute eine Anwandlung schlechter Laune, Sie dürfen sich darüber nicht wundern oder mir deswegen böse sein. Sie haben mir gesagt >Ich werde Ihnen nie wieder etwas sagen.< Das wäre ein Eidesbruch, wenn es stimmen würde. Aber auch wo es nicht stimmt, ist der Schlag für mich äußerst schmerzhaft. Dass Sie mir alles sagen werden, ist seit dem 20, Juni meine Hoffnung, mein Trost, meine Stütze, mein Leben. (207)
Eigentlich klingt das ein wenig banal, gekrängt zu sein, weil der
Freund sich weigert, ihm von seinen Erlebnissen zu berichten, die Hahn ohne
Proust in Deutschland erfahren hat. Alles von dem Freund wissen zu wollen, haben
wir als ein seelisches Klammern aufgefasst, das so viel Nähe einfordert, die für
viele Menschen in dieser Weise als einengend empfinden würden. Da wir leider
keinen Antwortbrief von Hahn vor uns liegen haben, müssen wir uns denken, was Proust
verzweifeln lässt.
Um Ihnen keinen Kummer zu bereiten, spreche ich fast nie davon, aber um nicht selbst großen Kummer zu haben, denke ich fast immer daran. So haben Sie mir ausgerechnet das gesagt, was mich wirklich >verletzen< kann. Ich ertrüge lieber tausend Beleidigungen. Ich verdiene sie, häufiger als Sie glauben. Aber ich verdiene sie nicht in den Augenblicken schmerzlichster Anstrengungen, in denen ich, ein Gesicht ausspähend, Namen vergleichend oder eine Szene wiederherstellend, die Lücken eines Lebens zu füllen trachte, das mir teuer ist als alles andere, das mir aber Anlass zu trostloser Unruhe bleiben wird, solange mir selbst seine unschuldigsten Regionen unbekannt sind. (Ebd)
Prousts Neugier, die in Eifersucht mündet, verschafft ihm Probleme, und
er selbst nicht weiß, wie er diese einzuschätzen hat.
Wenn aber meine Einbildung absurd ist, sollte man ihr nichts in den Weg legen, denn es ist die Einbildung eines Kranken. Es ist sehr boshaft, einem Kranken damit zu drohen, ihm seine Lebensflamme auszublasen, weil seine Manie ihm auf die Nerven geht.
Proust war nicht nur körperlich sehr kränklich, auch psychisch, wie er erkennt,
war er nicht gesund. Selbst aus seiner Sicht neigt er zur Manie, und aus
anderen Büchern habe ich entnehmen können, dass er auch unter Depressionen
litt. In Fachkreisen würden man von einer bipolaren Störung sprechen.
Proust macht sich häufig klein, gibt Reynaldo dazu viel zu viel Macht.
Auch in diesem Brief gibt er sich als Reynaldos Pony.
Seien Sie nachsichtig mit Ihrem Pony. Würden Sie viele Herren finden mit
all den Eigenschaften, die Sie von einem Pony verlangen usw.? (208)
An Reynaldo Hahn
Juli / August 1896
Weiter geht es im nächsten Brief an Reynaldo Hahn. Allerdings spricht
er in den Anfangszeilen von Freundschaft, aber wohl eher in der Form einer
Redewendung. Ein paar Zeilen später spürt man die tiefe Verletzung. Egal, wie
es gemeint ist, es folgen schwere Vorwürfe Hahn gegenüber:
Unsere Freundschaft hat nicht mehr das Recht, hier das Wort zu ergreifen, dafür ist sie nun nicht mehr stark genug. Aber Ihre Geschichte macht es mir zur Pflicht, nicht dabei zuzusehen, wie Sie so dumme, so bösartige und auch so feige Handlungen begehen, ohne zu ihrem eigenem Wohl den Versuch zu unternehmen, Ihr Gewissen wachzurütteln und Sie dazu zu bringen, dies, wenn schon nicht einzugestehen – denn das verbietet Ihnen Ihr Stolz -. so doch zumindest zu fühlen.
Was hat Proust so getriggert? Dass Hahn zu wenig Zeit mit ihm
verbringt? Erst begibt sich der Freund ohne ihn für mehrere Monate ins Ausland,
siehe letzte Briefe, und als er wieder im Land ist, verbringt er seine Zeit auf
Abendveranstaltungen, statt sie alleine mit Proust zu verbringen.
Als Sie mir sagten, dass Sie zum Souper blieben, war dies nicht das erste Zeichen Ihrer Gleichgültigkeit mir gegenüber. Aber als Sie mir zwei Stunden später, nachdem wir freundlich geplaudert und Ihre musikalische Unterhaltung genossen hatten, ohne Zorn und ganz kühl sagten, dass Sie nicht mit mir nach Hause wollten, war dies der erste Beweis von Boshaftigkeit, den Sie mir gegeben haben.
Das sind schon große Vorwürfe, einem Menschen Boshaftigkeiten zu
unterstellen, nur, weil Hahn seine Zeit anders verbringen möchte. Aus den
nächsten Zeilen geht hervor, dass Proust sich von Hahn nicht mehr geliebt
fühlt. Proust scheint als ein Hochsensibler zu Gefühlen einen großen Hang zu
haben. Vieles wirkt melodramatisch, wenn er sich emotional nicht beachtet
fühlt.
Aus der Fußnote geht hervor, dass diese Eifersuchtsszenen auch in der
Recherche Unterwegs zu Swann eingebettet waren. Ich kann mich deutlich
an mehrere Eifersuchtsszenen des fiktiven Marcels erinnern. Schon als kleiner
Junge konnte er sie äußern, wenn die Mutter sich um ihre Gäste gekümmert
hat, und sie den Jungen ohne Gutenachtkuss ins Bett geschickt hat. Der kleine
Marcel war eifersüchtig auf die Gäste seiner Mutter.
Und wenn mir etwas Kummer bereitete, das für Sie ein wirkliches Vergnügen war wie Reviers, habe ich niemals gezaudert. Im Übrigen bereue ich nichts von dem, was ich getan habe.
Anne und ich haben uns gefragt, was er getan haben könnte? Sexuelle
Annäherungen? Das sind nur Vermutungen, wissen können wir das nicht.
In der Fußzeile steht, dass Proust gemeinsam mit Hahn einen Ausflug in
Reviers gemacht haben könnte. Sicherlich sind sich die beiden hier sexuell nahegekommen.
Weitere Vorwürfe dieser Art sind dem Brief zu entnehmen.
In der Abschlusszeile bezeichnet sich Proust auch in diesem Brief wieder
als Hahns Pony.
Ihr kleines Pony, das nach diesem Huftritt ganz traurig und allein in den Stall zurückkehrt, als dessen Herr Sie sich einst gern bezeichneten.
Diese Vorstellung, wirklich als Bild wunderschön beschrieben, dennoch
wirkt sie auf mich sehr infantil. Auf jedem Fall keine erwachsene Liebe, in der
beide Partner auf Augenhöhe sich bewegen.
Weiter wirft er Hahn vor:
Fast wünsche ich mir schon, dass das Verlangen, mir Freude zu machen, nie eine Rolle bei Ihnen gespielt hat, bei Ihnen nie vorhanden war. Andernfalls müssten – wenn solche Jämmerlichkeiten, denen Sie mehr verhaftet sind, als Sie glauben, so oft die Oberhand bei Ihnen gewinnen – diese mehr Gewalt über Sie haben, als ich glaube. All das wäre nur Schwäche, Stolz und Kraftprobe. (…)
Aber an all das glaube ich nicht, ich glaube nur, dass, genauso wie ich Sie sehr viel weniger liebe, Sie mich überhaupt nicht lieben, und das, mein liebster Reynaldo, kann ich Ihnen nicht übel nehmen.
Kann man den letzten Satz ernst nehmen? Natürlich nimmt er es Reynaldo übel. Anne und ich sind auf die nächsten Briefe zwischen Proust und Hahn gespannt.
An Lucien Daudet
August 1896
Proust befand sich auf Reisen, die er unterbrechen musste, da er wieder
erkrankt war. Er hat sich eine schwere Erkältung eingefangen. Ist heiser und
fiebrig. Lucien schrieb Proust, um über seinen Onkel zu schreiben. Allerdings
besteht der Brief aus Fragmenten, was Proust Lucien mitteilt. Auf den Seiten
sind zudem literarische Themen mitabgedruckt. Proust schien zu der Zeit jede
Menge Novellen geschrieben zu haben, die von einem anderen Schriftsteller
plagiiert wurden. Doch hierzu Proust:
Lieber Lucien, ich gestehe Ihnen unumwunden, dass diese Wunderwerke nicht von Guillemont stammen, sondern von mir. Und ich leide, wenn ich daran denke, dass derartige Dinge unbekannt bleiben werden. Im Ernst: wollen Sie, dass wir uns bei einer angesehenen Zeitung in >Vorschlag bringen< und mit unseren >kleinen Krawatten< Geld verdienen, indem wir einmal wöchentlich ein noch >unerforschtes< Feld beackern?
Telefongespräch mit Anne
Wir hatten Mitgefühl mit diesem liebenden Marcel, dessen Forderungen
nicht erwidert wurden. Und wie sehr er unter seinem Liebeskummer litt, wobei
für uns nichts Tragisches passiert ist. Aber wir sind auch nicht die Verliebten
und können dieses Liebesleid ganz objektiv betrachten, allerdings wird dieser
Liebeskummer sehr einseitig erlebt, denn Hahn scheint gelassen seinen Weg auch
ohne Proust zu gehen, was Proust schmerzlich verletzt. Da aber Reynaldo Hahn
für Marcel Proust bis zu seinem Lebensende eine wichtige Person bleiben wird,
bleibt es für uns noch spannend, wie sich diese Männerbeziehung noch weiter
gestalten wird.
Ich stellte mir noch die Frage, wie Franz Kafka es geschafft hat, alle seine Novellen weltweit publizieren zu lassen, während Marcel Prousts Novellen unbekannt geblieben sind? Mit seinen Novellen hat er sich sein Geld verdient. Hierauf werden wir so schnell wohl keine Antwort finden.
Ich stellte mir noch die Frage, wie Franz Kafka es geschafft hat, alle seine Novellen weltweit publizieren zu lassen, während Marcel Prousts Novellen unbekannt geblieben sind? Mit seinen Novellen hat er sich sein Geld verdient. Hierauf werden wir so schnell wohl keine Antwort finden.
Da ich nächstes Wochenende keine Zeit haben werden, lesen Anne und ich
morgen nochmals zehn/elf Seiten und werden uns darüber am Dienstag austauschen.
Die nächsten Briefe; von Seite 217 – 228.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen,
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)
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