Montag, 29. Juli 2019

Enttäuschte Liebe

Seite 207 – 2017  

Auf den folgenden Seiten erlebten Anne und ich Marcel Proust wieder voll in seinem Element. Schüttet sein Herz aus, bzw. wie Anne sagt, trägt er sein Herz auf der Zunge, redet allerdings um den heißen Brei, schreibt sehr ausschweifend, sodass man zwischen den Zeilen lesen muss, wobei uns beim zweiten Mal lesen seine Probleme deutlich wurden. Proust steckt in einer schweren Liebeskrise mit Reynaldo Hahn. Zwei dieser Briefe haben uns diesbezüglich beschäftigt.

In einem anderen Briefen geht es thematisch auch um Literatur, diesmal um Plagiatsvorwürfe.

An Reynaldo Hahn
Juli / August 1896

Ein sehr persönlicher Brief, trotz förmlicher Anrede. Proust ist seelisch betrachtet tief gekränkt, weil Hahn ihm versprochen haben soll, Proust alles mitzuteilen, was er auf Reisen erlebt habe.
Reynaldo, ich hatte heute eine Anwandlung schlechter Laune, Sie dürfen sich darüber nicht wundern oder mir deswegen böse sein. Sie haben mir gesagt >Ich werde Ihnen nie wieder etwas sagen.< Das wäre ein Eidesbruch, wenn es stimmen würde. Aber auch wo es nicht stimmt, ist der Schlag für mich äußerst schmerzhaft. Dass Sie mir alles sagen werden, ist seit dem 20, Juni meine Hoffnung, mein Trost, meine Stütze, mein Leben. (207)
Eigentlich klingt das ein wenig banal, gekrängt zu sein, weil der Freund sich weigert, ihm von seinen Erlebnissen zu berichten, die Hahn ohne Proust in Deutschland erfahren hat. Alles von dem Freund wissen zu wollen, haben wir als ein seelisches Klammern aufgefasst, das so viel Nähe einfordert, die für viele Menschen in dieser Weise als einengend empfinden würden. Da wir leider keinen Antwortbrief von Hahn vor uns liegen haben, müssen wir uns denken, was Proust verzweifeln lässt.
Um Ihnen keinen Kummer zu bereiten, spreche ich fast nie davon, aber um nicht selbst großen Kummer zu haben, denke ich fast immer daran. So haben Sie mir ausgerechnet das gesagt, was mich wirklich >verletzen< kann. Ich ertrüge lieber tausend Beleidigungen. Ich verdiene sie, häufiger als Sie glauben. Aber ich verdiene sie nicht in den Augenblicken schmerzlichster Anstrengungen, in denen ich, ein Gesicht ausspähend, Namen vergleichend oder eine Szene wiederherstellend, die Lücken eines Lebens zu füllen trachte, das mir teuer ist als alles andere, das mir aber Anlass zu trostloser Unruhe bleiben wird, solange mir selbst seine unschuldigsten Regionen unbekannt sind. (Ebd)
Prousts Neugier, die in Eifersucht mündet, verschafft ihm Probleme, und er selbst nicht weiß, wie er diese einzuschätzen hat.
Wenn aber meine Einbildung absurd ist, sollte man ihr nichts in den Weg legen, denn es ist die Einbildung eines Kranken. Es ist sehr boshaft, einem Kranken damit zu drohen, ihm seine Lebensflamme auszublasen, weil seine Manie ihm auf die Nerven geht.
Proust war nicht nur körperlich sehr kränklich, auch psychisch, wie er erkennt, war er nicht gesund. Selbst aus seiner Sicht neigt er zur Manie, und aus anderen Büchern habe ich entnehmen können, dass er auch unter Depressionen litt. In Fachkreisen würden man von einer bipolaren Störung sprechen.

Proust macht sich häufig klein, gibt Reynaldo dazu viel zu viel Macht. Auch in diesem Brief gibt er sich als Reynaldos Pony.

Seien Sie nachsichtig mit Ihrem Pony. Würden Sie viele Herren finden mit all den Eigenschaften, die Sie von einem Pony verlangen usw.? (208)

An Reynaldo Hahn
Juli / August 1896

Weiter geht es im nächsten Brief an Reynaldo Hahn. Allerdings spricht er in den Anfangszeilen von Freundschaft, aber wohl eher in der Form einer Redewendung. Ein paar Zeilen später spürt man die tiefe Verletzung. Egal, wie es gemeint ist, es folgen schwere Vorwürfe Hahn gegenüber:
Unsere Freundschaft hat nicht mehr das Recht, hier das Wort zu ergreifen, dafür ist sie nun nicht mehr stark genug. Aber Ihre Geschichte macht es mir zur Pflicht, nicht dabei zuzusehen, wie Sie so dumme, so bösartige und auch so feige Handlungen begehen, ohne zu ihrem eigenem Wohl den Versuch zu unternehmen, Ihr Gewissen wachzurütteln und Sie dazu zu bringen, dies, wenn schon nicht einzugestehen – denn das verbietet Ihnen Ihr Stolz -. so doch zumindest zu fühlen.
Was hat Proust so getriggert? Dass Hahn zu wenig Zeit mit ihm verbringt? Erst begibt sich der Freund ohne ihn für mehrere Monate ins Ausland, siehe letzte Briefe, und als er wieder im Land ist, verbringt er seine Zeit auf Abendveranstaltungen, statt sie alleine mit Proust zu verbringen.
Als Sie mir sagten, dass Sie zum Souper blieben, war dies nicht das erste Zeichen Ihrer Gleichgültigkeit mir gegenüber. Aber als Sie mir zwei Stunden später, nachdem wir freundlich geplaudert und Ihre musikalische Unterhaltung genossen hatten, ohne Zorn und ganz kühl sagten, dass Sie nicht mit mir nach Hause wollten, war dies der erste Beweis von Boshaftigkeit, den Sie mir gegeben haben.
Das sind schon große Vorwürfe, einem Menschen Boshaftigkeiten zu unterstellen, nur, weil Hahn seine Zeit anders verbringen möchte. Aus den nächsten Zeilen geht hervor, dass Proust sich von Hahn nicht mehr geliebt fühlt. Proust scheint als ein Hochsensibler zu Gefühlen einen großen Hang zu haben. Vieles wirkt melodramatisch, wenn er sich emotional nicht beachtet fühlt.

Aus der Fußnote geht hervor, dass diese Eifersuchtsszenen auch in der Recherche Unterwegs zu Swann eingebettet waren. Ich kann mich deutlich an mehrere Eifersuchtsszenen des fiktiven Marcels erinnern. Schon als kleiner Junge konnte er sie äußern, wenn die Mutter sich um ihre Gäste gekümmert hat, und sie den Jungen ohne Gutenachtkuss ins Bett geschickt hat. Der kleine Marcel war eifersüchtig auf die Gäste seiner Mutter.
Und wenn mir etwas Kummer bereitete, das für Sie ein wirkliches Vergnügen war wie Reviers, habe ich niemals gezaudert. Im Übrigen bereue ich nichts von dem, was ich getan habe.
Anne und ich haben uns gefragt, was er getan haben könnte? Sexuelle Annäherungen? Das sind nur Vermutungen, wissen können wir das nicht.

In der Fußzeile steht, dass Proust gemeinsam mit Hahn einen Ausflug in Reviers gemacht haben könnte. Sicherlich sind sich die beiden hier sexuell nahegekommen.

Weitere Vorwürfe dieser Art sind dem Brief zu entnehmen.

In der Abschlusszeile bezeichnet sich Proust auch in diesem Brief wieder als Hahns Pony.
Ihr kleines Pony, das nach diesem Huftritt ganz traurig und allein in den Stall zurückkehrt, als dessen Herr Sie sich einst gern bezeichneten.
Diese Vorstellung, wirklich als Bild wunderschön beschrieben, dennoch wirkt sie auf mich sehr infantil. Auf jedem Fall keine erwachsene Liebe, in der beide Partner auf Augenhöhe sich bewegen.

Weiter wirft er Hahn vor:
Fast wünsche ich mir schon, dass das Verlangen, mir Freude zu machen, nie eine Rolle bei Ihnen gespielt hat, bei Ihnen nie vorhanden war. Andernfalls müssten – wenn solche Jämmerlichkeiten, denen Sie mehr verhaftet sind, als Sie glauben, so oft die Oberhand bei Ihnen gewinnen – diese mehr Gewalt über Sie haben, als ich glaube. All das wäre nur Schwäche, Stolz und Kraftprobe. (…)
Aber an all das glaube ich nicht, ich glaube nur, dass, genauso wie ich Sie sehr viel weniger liebe, Sie mich überhaupt nicht lieben, und das, mein liebster Reynaldo, kann ich Ihnen nicht übel nehmen.

Kann man den letzten Satz ernst nehmen? Natürlich nimmt er es Reynaldo übel. Anne und ich sind auf die nächsten Briefe zwischen Proust und Hahn gespannt.

An Lucien Daudet
August 1896

Proust befand sich auf Reisen, die er unterbrechen musste, da er wieder erkrankt war. Er hat sich eine schwere Erkältung eingefangen. Ist heiser und fiebrig. Lucien schrieb Proust, um über seinen Onkel zu schreiben. Allerdings besteht der Brief aus Fragmenten, was Proust Lucien mitteilt. Auf den Seiten sind zudem literarische Themen mitabgedruckt. Proust schien zu der Zeit jede Menge Novellen geschrieben zu haben, die von einem anderen Schriftsteller plagiiert wurden. Doch hierzu Proust:
Lieber Lucien, ich gestehe Ihnen unumwunden, dass diese Wunderwerke nicht von Guillemont stammen, sondern von mir. Und ich leide, wenn ich daran denke, dass derartige Dinge unbekannt bleiben werden. Im Ernst: wollen Sie, dass wir uns bei einer angesehenen Zeitung in >Vorschlag bringen< und mit unseren >kleinen Krawatten< Geld verdienen, indem wir einmal wöchentlich ein noch >unerforschtes< Feld beackern?
Telefongespräch mit Anne
Wir hatten Mitgefühl mit diesem liebenden Marcel, dessen Forderungen nicht erwidert wurden. Und wie sehr er unter seinem Liebeskummer litt, wobei für uns nichts Tragisches passiert ist. Aber wir sind auch nicht die Verliebten und können dieses Liebesleid ganz objektiv betrachten, allerdings wird dieser Liebeskummer sehr einseitig erlebt, denn Hahn scheint gelassen seinen Weg auch ohne Proust zu gehen, was Proust schmerzlich verletzt. Da aber Reynaldo Hahn für Marcel Proust bis zu seinem Lebensende eine wichtige Person bleiben wird, bleibt es für uns noch spannend, wie sich diese Männerbeziehung noch weiter gestalten wird.

Ich stellte mir noch die Frage, wie Franz Kafka es geschafft hat, alle seine Novellen weltweit publizieren zu lassen, während Marcel Prousts Novellen unbekannt geblieben sind? Mit seinen Novellen hat er sich sein Geld verdient. Hierauf werden wir so schnell wohl keine Antwort finden. 

Da ich nächstes Wochenende keine Zeit haben werden, lesen Anne und ich morgen nochmals zehn/elf Seiten und werden uns darüber am Dienstag austauschen. 

Die nächsten Briefe; von Seite 217 – 228.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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1 Kommentar:

Anne hat gesagt…

Die kleine Zusammenfassung zu unserem Gespräch hast Du schön geschrieben, liebe Mira (natürlich auch die gesamte Buchbesprechung). Auf die weitere Beziehung zwischen Proust und Hahn bin ich auch richtig gespannt. Mal schaun, was uns morgen auf den nächsten Seiten erwartet.
Liebe Grüße und noch einen schönen Abend, Anne