Dienstag, 15. Januar 2019

Dörte Hansen / Mittagsstunde (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Ein wunderschönes Buch, das mich nicht mehr losgelassen hat. Auch wenn ich anfangs etwas Mühe hatte, reinzukommen, habe ich es trotzdem von der ersten bis zur letzten Seite genossen. Eine versierte, literarische Sprache, eine differenzierte Figurenbeschreibung, ein interessantes norddeutsches Familienporträt.

Dadurch, dass wir das Buch im Bücherforum besprechen, werde ich hier nur die wichtigsten Fakten beschreiben. Am Ende der Besprechung verlinke ich meine Seite mit der auf Whatchareadin. Ich habe dort ein paar schöne Zitate hinterlassen, und werde morgen Abend mich weiter an der Diskussion beteiligen. 

Hier geht es zum Klappentext, zur Vita der Autorin, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.


Die Handlung
Die Handlung spielt in Brinkebüll, eine kleine Ortschaft im Norden Deutschlands.
Auf den ersten Seiten lernt man Marret Feddersen kennen, eine merkwürdige Figur, die überall in der Ortschaft tagtäglich den Untergang preist. Doch die Apokalypse lässt bis dato noch auf sich warten ;-). Marret scheint intellektuell ein wenig retardiert zu sein, hört permanent Schlagerlieder, die nicht nur von einer heilen Liebeswelt singen … Marret stammt aus einer dreiköpfigen Familie. Der angebliche Vater, Sönke Kröger, hat noch vor Marrets Geburt in die Familie Feddersen hineingeheiratet. Sönke besitzt eine Gaststätte und ist noch als Landwirt tätig. Ella Feddersen, Marrets Mutter, ist eine sehr stille und stark introvertierte Figur, die Probleme innerhalb der Familie innerlich eher aushält, als dass sie sie anspricht. Als Sönke im Krieg war, musste sie ihren Mann auf dem Feld und in der Kneipe ersetzen. Als der Krieg vorbei war und Sönke nichts hat von sich hören lassen, rechnete Ella nicht mehr mit seiner Rückkehr …  Marret ist ein Nachkriegskind …

Eine weitere wichtige Figur ist Ingwer Feddersen, der uneheliche Sohn von Marret. die damals 17-jährige Marret wollte das Kind nicht, und so versuchte sie es durch verschiedene Selbstverletzungen abzutreiben …

Ingwer wurde trotzdem geboren und wuchs bei Sönke und Ella auf. Marret kümmerte sich nur wenig um ihr Kind.

Als Ingwer schulpflichtig wurde, entpuppte er sich zum Klassenbesten, sodass er nach der Grundschule das Gymnasium außerhalb von Brinkebüll besuchte. Sönke hatte eigentlich mit ihm andere Pläne. Er wollte, dass Ingwer beruflich in seine Fußstapfen tritt. Durch den weiteren Bildungsweg über Studium und Promotion entfremdeten sich Sönke und Ingwer immer mehr voneinander. Seinen Wohnsitz verlegte Ingwer nach Kiel, etwa 100 Kilometer von Brinkebüll entfernt, wo er an der Universität eine Dozentenstelle innehat ... Seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt Ingwer in einer Dreier-WG ... Eine feste Bindung hat er nicht, eine klassische Ehe als Institution lehnte er ab. Es ist für mich noch nicht ganz klar, ob die Mitglieder in dieser Dreier-WG, zusammengesetzt aus Ingwer, Claudius und Ragnhild, ihr sexuelles Liebespotential in ihrer Dreiecksbeziehung entfalten.

Als promovierter Landvermesser kehrt Ingwer beruflich nach vielen Jahren wieder nach Brinkebüll zurück und ist erstaunt, wie sehr sein Heimatdorf sich verändert hat. Es sind kaum noch Landwirte zu sehen. Viele haben Land und Hof verkauft … Brinkebüll wird modernisiert …

Sönke und Ella, 90 Jahre alt, sind mittlerweile alte Leute, die Unterstützung in der Pflege und im Haushalt benötigen ...

Welche Szene hat mir gar nicht gefallen?
Besonders abstoßend habe ich den eher selbstgerechten Dorfschullehrer namens Steensen erlebt, als er seine Schüler geschlagen hat, wenn sie nicht pariert haben. Vom Schulamt wurde durch die 1968er Bewegung die antiautoritäre Erziehung an den Schulen vorgeschrieben, an die sich Steensen bis zu seiner Pensionierung nicht halten wollte. Auch wenn er gerecht gewirkt hat, reicht mir das nicht ... 

Welche Szenen haben mir besonders gut gefallen? Drei Szenen
1) Gefallen hat mir, dass Marret von der Gesellschaft und von ihrer Familie wegen der unehelichen Schwangerschaft nicht verstoßen wurde. Marret selbst hatte allerdings keine Ahnung, wie das Kind aus ihrem Körper geboren werden soll. Früher sprach man nicht über die Sexualität, auch nicht über Verhütung und nicht über die Geburt eines Neugeborenen. Ella hatte auch nicht den Mut, Marret aufzuklären. Aus der Schulbibliothek lieh sie sich den Atlas über die Anatomie des menschlichen Körpers. Mit Hilfe dieses Atlas` half sie ihrer Tochter, die bevorstehende Geburt verständlich zu machen ... Wie Marret diese Informationen aufgefasst hat, ist dem Buch zu entnehmen. Bücher können viel, aber doch nicht alles ... 

2) Wahnsinnig angenehm fand ich, als Sönke den kleinen schreienden Säugling Ingwer, der erst kaum zu bändigen war, ihn als kleines Bündel auf seiner Männerbrust in seiner Jacke gewärmt hat und ihn so überall hin mitgetragen hat. Sönke wirkte vom Charakter her sehr spröde und trocken, dass ich ihm diese Form von Liebe niemals zugetraut hätte, wo doch die Hebamme den Tipp gegeben hatte, das Kind einfach schreien zu lassen.

3) Gefallen haben mir auch die Szenen, in denen Ingwer Sönke und Ella in Brinkebüll gepflegt hat, als er sich beruflich dafür für ein Jahr eine Auszeit nimmt, um sich um die alten Eltern/Großeltern zu kümmern. Ella entwickelte schleichend eine Demenz, während Sönke körperlich stark geschwächt und pflegebedürftig ist.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Ella Feddersen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Ragnhild Dieffenbach, Dipl. Ingenieurin, die, als Ingwer als Endvierziger in eine Midlife-Crisis gerät, kommt sie ihm mit naiven psychologischen Theorien, in der er sich nicht verstanden gefühlt hat. Ich vermisste bei ihr die Empathie und Ingwer sicher auch.

Meine Identifikationsfigur
Ingwer Feddersen.

Cover und Buchtitel 
Vosicht Spoiler
Das Cover hat mir sehr gut gefallen. Und den Titel Mittagsstunde, was darunter gemeint ist, wird später auf verschiedenen Seiten deutlich. Vor der Modernisation von Brünkebüll wurde die Mittagsstunde als Ruhezeit zelebriert, und nach der Modernisation wurden diese Ruhezeiten aufgelöst, als sich mit ihr auch ganz Brinkebüll aufgelöst hat. Die Städter zogen aufs Land, um die Natur zu erleben, und die jungen Leute zogen vom Land in die Stadt, weil für sie der Beruf als Landwirt nicht mehr lukrativ genug war.

Zum Schreibkonzept
Die Zeiten, in denen die Handlung sich abspielt, sind nicht chronologisch aufgebaut. Sie pendelt zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Marret muss Ende der 1940er Jahre geboren worden sein, Ingwer kam Anfang bis Mitte der 1960er Jahre auf die Welt.

Meine Meinung
Wie ich anfangs schon geschrieben habe, hat mir das Buch sehr zugesagt. Die Lebensweise der Dorfbewohner*innen war so prägnant, dass mich das tief berührt hat. Die Autorin hat es geschafft, die Figuren so zu beschreiben, dass es für mich möglich wurde, in das Innenleben dieser Menschen zu schauen, das voller Abgründe ist. Auf mich wirkten all diese Menschen innerlich sehr einsam, nur jeder auf seine eigene Weise. Probleme wurden nicht angesprochen. Es war üblich, sie zu ertragen. Jede Figur wirkte auf mich wie eine einsame Insel. Daher auch ein sehr nachdenkenswertes Buch. Aber ob die Themen wirklich so spezifisch sind, dass man sie nur in Brinkebüll finden kann, das glaube ich eher nicht. Kürzlich hatte ich zwei italienische Autoren gelesen, auch darin ging es um italienische Dörfer, um Landflucht, um Modernisierung dieser Dörfer, und die Italiener waren dort ähnlich nach innen gekehrt wie die Menschen aus dem hohen Norden von Deutschland. Auch sie konnten nicht offen über ihre Probleme reden ... 

Mein Fazit
Eine faszinierte und sehr lesenswerte Familienbiografie mit ihren Besonderheiten an Lebensweisen in einer Dorfgemeinschaft.  

Klare Leseempfehlung.

Weitere Information zu dem Buch
Vielen herzlichen Dank an den Penguin Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars.

Ein herzliches Dankeschön auch an die Moderator*innen des Bücherforums Whatchareadin für das Engagement.

Hier geht es zu der Leserunde.

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Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

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