Über ein frühkindliches
Trauma
Gleich vorneweg
gesagt: Das Buch war super. Es hat mir vom Inhalt und vom Aufbau her sehr gut
gefallen.
Hier geht es zum
Klappentext, Autor*inporträt und zu den Buchdaten.
Die Handlung
Die Handlung behandelt eine gut situierte vierköpfige deutsche Familie, die
aus Göttingen kommt und die in Spanien, auf Lanzarote, ihr Neujahr verbringt. Eine
einsame Gegend, in Fémes, wo Henning als Kind schon mit seinen Eltern Urlaub
gemacht hat. Das wird ihm aber erst sehr viel später bewusst …
Ein emanzipiertes Ehepaar, in dem die Aufgaben zwischen den Eheleuten in
der Familie und im Haushalt gleichberechtigt verteilt sind. Henning und Theresa
gehen beruflich einer Halbtagsbeschäftigung nach. Allerdings ist Theresa
diejenige, die mehr verdient als Henning ... Im Vordergrund glaubt man es mit
einer perfekten und harmonierenden Familie zu tun zu bekommen.
Henning ist bemüht, ein guter Ehemann und Vater zu sein, aber ihm ist
neben den Familien- und beruflichen Pflichten auch wichtig, außerhalb dieser
Einrichtungen ein autonomes Leben zu führen, ganz allein für sich Dinge zu tun,
die ihm guttun. Er möchte innerlich unabhängig sein. Zur reinen Entspannung
fährt er gerne alleine Fahrrad, umrundet damit die Insel auf Lanzarote, viele aufsteigende Straßen, und sich ihm dabei viele Episoden seiner Kindheit aufgetan haben. Auch
geht er häufig Sinnfragen auf den Grund.
Auf Lanzarote schließt die Kleinfamilie 2017 das alte Jahr ab. Beide hoffen, dass das neue Jahr besser wird als das
alte.
Henning ist in einem linkslastigen Sachbuchverlag tätig, Theresa in einem
Steuerbüro.
Trotz aller Bemühungen bekommt Hennig den Familienalltag nicht so gut hin
wie Theresa. Oftmals scheint er überfordert zu sein. Er leidet an einer
psychischen Störung, Theresa tippt auf einen Burnout, als Henning ihr von
seinen Beschwerden berichtet, und empfiehlt ihm dringend einen Psychologen
aufzusuchen. Theresas Stimmung ist oft gereizt, wenn die Kinder immerzu nach
der Mutter rufen und an ihrem Rockzipfel hängen. Die Kinder spüren, wenn der
Vater mit ihnen überfordert ist. Hennig ist der Meinung, dass die emanzipierten
Geschlechterrollen nicht einfach umzusetzen sind. Theresa wirft Henning vor,
dass er eine mangelnde Bereitschaft mitbringen würde, seine Vaterrolle
auszufüllen. Henning sieht das anders:
Kinder sind, was sie sind. Seit frühester Kindheit spielt Jonas mit Baggern, Bibbi mit Puppen, obwohl weder Henning noch Theresa dem klassischen Geschlechtermodell entsprechen. Und sie schreien nach Mama. Bibbi und Jonas interessieren sich nicht für die Regeln der modernen Emanzipation. (2018, 45)
Theresa zeigt für Hennings psychische Labilität wenig Verständnis, da er damit die ganze Familie überfordern würde.
Sei ein Mann! Einer, den ich lieben kann. (66)
Man lernt auch Luna kennen, Hennings Schwester, die ihr
Leben als eine erwachsene, junge Frau noch nicht wirklich im Griff hat. Derzeit
lebt sie übergangsweise in Göttingen bei seinem Bruder und dessen Familie.
Theresa stinkt es, dass Henning eine Beschützerrolle für seine Schwester
übernommen hat ...
Henning leidet dazu noch an einer massiven Spinnenphobie ...
Henning leidet dazu noch an einer massiven Spinnenphobie ...
Im nächsten Abschnitt verlässt man die Gegenwart und kommt in die
Vergangenheit. Hier wird man in die Herkunftsfamilie von Henning und seiner
Schwester Luna versetzt. Beide noch sehr klein, zwei und vier Jahre alt.
Henning ist das ältere Kind. Er befindet sich mit seinen Eltern und Luna auf
Lanzarote, auch in Sémes. Man bekommt auch hier den Eindruck, dass die Familie harmoniert und glücklich ist. Aber der Schein trügt. Zwischen den Eltern kommt es zu einer
heftigen Auseinandersetzung, die eine solch große Auswirkung hat, dass eines
Morgens beide Elternteile nicht zu Hause sind, als die beiden Kinder aufwachen.
Wo sind die Eltern? Henning sucht sie überall, die aber nirgends zu finden
sind. In seiner kindlichen Fantasie findet er Erklärungen, wo die Eltern sein
könnten. Nun muss er sich um sich selbst und um seine kleinere Schwester kümmern
und übernimmt bestmöglich die elterliche Verantwortung, mit der er schier
überfordert ist ... Hier wird nun deutlich, weshalb Henning seiner Schwester gegenüber eine Beschützerrolle übernommen hat ... Man kann hier nun verstehen, woher Henning seine Spinnenphobie hat ...
Im dritten Abschnitt verlässt man Hennings und Lunas Kindheit und
man ist zurück in der Gegenwart. Der Urlaub auf Lanzarote ist vorbei
und die Familie befindet sich wieder in Göttingen. Auch wenn das nicht explizit
aus dem Kontext hervorgeht, bekommt man mitgeteilt, dass Henning und Luna sich nach dem Urlaub mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben, und haben die
Mutter dadurch zur Rede gestellt ...
Zum Schreibkonzept
Der Roman ist weder in Teilen noch in Kapiteln gegliedert. Trotzdem ist
eine Struktur lesend deutlich erkennbar. Die Familiengeschichte besteht aus
drei Teilen. Auf den ersten 92 Seiten befindet man sich im ersten Teil, in der
Gegenwart, Neujahrsurlaub auf Lanzarote. Von der Seite 93 bis 175 befindet man
sich im historischen Bereich, in der Kindheit von Henning und Luna, die sich im
Sommerurlaub auch in Lanzarote aufhalten. Der dritte Teil, von der Seite 176 bis zur Seite 192, führt
die Autorin ihre Leser*innen wieder zurück in die Gegenwart.
Ich habe im zweiten Teil richtig mit den Kindern mitgebangt und konnte
den Schluss kaum abwarten. Als man sich wieder in der
Gegenwart befand, ohne dass irgendeine Aufklärung stattgefunden hat, hatte
ich befürchtet, die Autorin habe den Schluss offengehalten. Aber nein, erst auf
den letzten Seiten erfährt man, was den Eltern von Henning und Luna in ihrer Kindheit widerfahren
ist. Die mittlerweile erwachsenen Kinder stellen die Mutter zur Rede, warum
sie damals alleine gelassen wurden … Erst in Sémes bekommt Henning eine Ahnung,
dass er schon mal hier gewesen sein muss, ohne sich wirklich an die Fakten
erinnert zu haben …
Cover und Buchtitel?
Beides fand ich passend. Der Käfer auf dem Cover hatte mich beschäftigt, denn
noch vor dem Lesen hatte ich mich gefragt, was dieser Käfer bedeuten könnte. In
der Geschichte bekommt man es sogar mit zwei Käfern zu tun. Mit einem Tausendfüßler
und mit einem Skarabäus. Diese Käfer hatten damals die Kinder auf den Steinen
gemalt. Der erwachsene Henning hatte diese Steine auf der Insel wiedergefunden, die ihn zum
Nachdenken brachten.
Meine Identifikationsfigur
Theresa
Meine Meinung
Erst dachte ich, dass Henning mit den Familienpflichten überfordert ist,
und er nicht einsehen konnte, weshalb es an ihm liegen sollte, dass das
Familienmodell nicht 1:1 umzusetzen war. Wenn man allerdings Hennings Kindheit
in Betracht zieht, dann war es klar, weshalb er in seiner eigenen Familie
psychische Probleme hatte. Er und Luna sind mit einem schweren Trauma groß
geworden, das nicht aufgearbeitet wurde.
Aber ich teile nicht Hennings Meinung, dass Kinder per se sich zur Mutter
hingezogen fühlen. Auch nicht, dass Jungen nur mit Bagger und Mädchen nur mit
Puppen spielen. Hierzu fällt mir das Buch Typisch Mädchen von der Juristin Marianne Grabrucker ein, die ein Tagebuch zu ihrer
kleinen Tochter geführt hat. Marianne Grabrucker hat ihre Tochter ganz bewusst
geschlechtsneutral erzogen. Das heißt, das Mädchen durfte alles machen, was
auch Jungen machen. Sie ist mit ihrer Erziehung dennoch gescheitert, weil an
der Erziehung ihres Kindes noch andere Menschen beteiligt waren, wie zum Beispiel
die Großeltern, der Kindergarten, Werbeplakate, etc … Im Alter von drei Jahren
wusste die Kleine schon, was Männer und was Frauen für Beschäftigungen
nachgehen. Das Buch hat deutlich machen können, dass man als Eltern nicht
alleine die Kinder großzieht, sondern dass ein gesamtes System von Gesellschaft an der Erziehung beteiligt ist.
Was mir nicht gefallen hat?
Ich fand die Übergänge vom ersten Teil bis zum dritten Teil nicht fließend, zu hauruckartig von einer Familiengeschichte in die nächste geworfen worden zu sein. Und ob die Haltung vom kleinen Henning authentisch war, aus dessen kindlichen Perspektive mit diesen Nöten fertigzuwerden, wage ich zu bezweifeln.
Mein Fazit?
Ich hätte so richtig Lust, das Buch ein weiteres Mal zu lesen. Ein
wunderbares Buch, das mich einfach nicht mehr loslassen konnte und ich keine
Ahnung hatte, wie die Geschichte weitergehen könnte. Die Ausgänge waren nicht
vorhersehbar. Ich konnte das Buch nicht genießen, weil ich zu schnell von einer
Seite zur nächsten gerast bin. Nicht nur den zweiten Teil fand ich spannend, auch
der erste Teil stimmte mich sehr neugierig. Und im dritten Teil hoffte ich
sehnsüchtig auf die Auflösung der Probleme von Henning und Luna aus den Kindertagen. Und ich hätte mir noch mehr Transparenz gewünscht .
Meine Bewertung
2 Punkte:
Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere 1,5 Punkte: Authentizität der Geschichte 2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt 2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und
Titel stimmen mit dem Inhalt überein
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Weitere Informationen zu dem Buch
Hier geht es zu einem Interview aus der Frankfurter Buchmesse 2018, ARD-Forum.