Sonntag, 20. November 2016

Marcel Proust / Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1)

BD 5 Die Gefangene


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Bevor ich mit meiner eigentlichen Buchbesprechung beginne, hier erstmal ein paar Leseeindrücke:
Ich freue mich sehr darüber, dass ich es nun tatsächlich geschafft habe, den fünften Band nach dem zweiten Anlauf zu Ende zu lesen. Diesmal war ich ziemlich diszipliniert, habe mir jeden Abend nach Dienstschluss meine geplanten fünfzig Seiten vorgenommen und am Wochenende etwas mehr. Dies erfüllt mich schon etwas mit Stolz, dass ich nun alle sechs Bände durchhabe. Ich habe für den vorliegenden Band eine ganze Woche benötigt.

Zur Erinnerung: Beim ersten Mal, das liegt schon etwas länger zurück, musste ich diesen Band abbrechen. Dann habe ich vor lauter Enttäuschung im sechsten Band rumgeblättert, und der sechste Band schien mich mehr anzusprechen. Und bevor ich den Bezug zu Proust verlieren würde, dachte ich damals, zog ich den sechsten Band vor. Darüber habe ich viel geschrieben, sodass ich schnell wieder in die Thematik reinkommen werde, bevor ich letztendlich mir noch den letzten Band vornehme. Doch damit lasse ich mir noch etwas Zeit.

Dieses Buch auszulesen, gestaltete sich für mich schon als ein riesen Prozess. Am Freitagabend stand ich kurz vor dem erneuten Abbruch. Für ein paar Sekunden hatte ich das Buch schon zugeklappt und habe dabei eine gewisse Freiheit verspürt und mir ausgemalt, was ich nun alles mit dieser wiedergewonnenen Freiheit anfangen würde. Das meiste hatte ich schon hinter mir, die letzten 150 Seiten von satten 650 Seiten waren für mich nochmals eine große Herausforderung. Aber dann hat mich ziemlich rasch die Lust wieder gepackt, Proust weiterzulesen; sehr ambivalent mein Verhalten diesem Autor gegenüber. Er überträgt ungewollt etwas von sich auf mich. Einerseits verachte ich ihn, andererseits verspüre ich auch eine gewisse Liebe zu ihm. Da ich mit Proust noch einiges vorhabe, musste ich einfach durchhalten. Mein Leseprojekt ist selbst nach diesen sieben Bänden noch lange nicht fertig.

Ich muss schon sagen, das Durchhalten hat sich gelohnt, habe viele interessante Themen mitverfolgen können. Den fünften Band habe ich als den schwersten von allen sechs Bänden, aber auch als den interessantesten, erlebt.

Und das Schöne? Ich bin jetzt endlich mit Proust ausgesöhnt. So viel Weisheit, wie ich hier habe finden können, haben meine Sympathiepunkte in die Höhe schnellen lassen. Ich fühle mich ja schon zu ihm hingezogen. Wie hätte ich denn sonst diese sechs Bände aushalten können? Ja, man wird für die aufgebrachte Geduld und für die Ausdauer richtig entschädigt.

Was sich für mich als recht schwierig gestaltet hat, waren die vielen Themen, die Proust hier eingebracht hat, und ich mich ein wenig überfordert fühle, alle diese Themen in meine Buchbesprechung zu verfrachten, bis schließlich meine innere Stimme sagte, lies weiter, das wird sich schon geben. Und so war es auch, nun weiß ich, worin ich meinen Fokus setzen werde. Und zwar in die Beziehung zwischen Marcel und seiner Geliebten Albertine. Die Beziehung ist dermaßen facettenreich, dass ich echt Lust habe, darüber zu schreiben ...

Trotzdem möchte ich die anderen Themen nicht unbenannt belassen, sodass andere LeserInnen vorbereitet sind, was Proust hier so alles recht exzessiv beschäftigt hat:
Literatur
Musik
Architektur
Kunst
Die literarischen Gespräche zwischen Marcel und Albertine fand ich äußerst interessant, als es um Dostojewski ging, der in seinen Romanen oftmals kriminalistische Themen behandelt, und Albertine Marcel die naive Frage stellt, ob Dostojewski selber auch kriminell sei?, denn sonst hätte er nicht darüber schreiben können.

Im Weiteren schreibe ich die Leseeindrücke hier auf für alle ProustanfängerInnen. Ich möchte Mut machen … Ich bin allerdings keine Literaturwissenschaftlerin, deshalb kann ich keine Buchbesprechung in dieser Form verfassen und rate literaturwissenschaftlich interessierte LeserInnen auf entsprechende fachgerechtere Seiten, die es sicher zahlreich im Netz zu finden gibt.

Aber ich möchte auch sagen, habt Mut für eigene Interpretationen. Habt Mut für eigene Ideen, für eigene Beobachtungen, denn auch dies ist eine hohe, geistige Leistung, die viele unterschätzen. 


Es gibt viele Methoden, ein Buch anzupacken. Mich interessiert die menschliche Psyche. Ich lese gerne psychoanalytisch. Proust lädt außerdem regelrecht dazu ein. Außerdem ist die Psychoanalyse auch eine Fachrichtung. Sigmund Freud,*1856, gest. 1939, hätte hier seine Freude gehabt, wenn er Proust gelesen hätte.

Ich selbst habe mir im Netz auch Sekundärliteratur bestellt, so viele gibt es leider nicht, auf die ich allerdings noch warte. Aber im Anhang gibt es zahlreiche Hinweise. Wobei ich aber noch anmerken möchte, dass ich viel Wert darauf lege, mir meine eigene Meinung zu bilden.

Als begleitende Lektüre gebrauchte ich ein Proust-Lexikon. Aber es gibt noch eine Proust-Enzyklopädie, beides im Suhrkamp - Verlag erschienen.

Proust hat mich arg an Hans Fallada erinnert. Fallada hat über das Leben der kleinen Leute geschrieben, während Proust über die Angehörigen der Bourgeoisie geschrieben hat. Beide aus der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, wobei Proust, *1871, gest. 1922, etwas älter als Fallada ist, *1893, gest. 1947. Zufall, dass gerade für beide Autoren mein Interesse gilt. Ich habe auf meinem Blog von beiden Autoren Leseprojekte laufen.

Im Folgenden geht es zu meiner Buchbesprechung.

Da das Buch mit „Die Gefangene“ betitelt ist, wird für die LeserInnen recht schnell klar, dass damit Marcels Geliebte Albertine  gemeint ist. Auch lässt sich dies aus den vorangegangen Bänden schon ableiten. Marcel ist der Icherzähler, der alle seine Themen recht subjektiv behandelt. Warum es so schwer ist, dem Erzähler zu folgen, liegt eben daran, dass Marcel so ziemlich alles vermischt.  Innere Erfahrungen sind weit größer als Erfahrungen, die sich auf Tatsachen berufen. Im Umgang mit Albertine wird das sehr deutlich, aber auch in der Beurteilung von zwei Musikern wie Morel und Vinteuil. Aber dies geht auch aus den vorherigen Bänden hervor. Manche mentale Szenen habe ich sogar als recht wahnhaft erlebt. Marcel bezeichnet sich hin und wieder selbst  als wahnhaft. Er steigert sich oft in seine Wahnvorstellungen rein, die Albertine gegenüber so ziemlich negativ besetzt sind. Er lässt sie beschatten, und wirft ihr Homosexualität vor:
Ich hatte Albertine von ihren Komplizinnen trennen und dadurch meine Halluzinationen bannen können; (2004, 25).
 Albertine und Marcel leben in Balbec zusammen, wobei Albertine zu Marcel gezogen ist.

Sein großes Drama ist die Eifersucht. Er kritisiert zwar recht häufig Morels, der Geiger, cholerisches Verhalten, Marcel selbst ist allerdings auch nicht von Wutanfällen frei. Aber er hinterfragt sich manchmal auch selbst, personifiziert allerdings gewisse negative Eigenschaften:
Die Eifersucht ist auch ein Dämon, der nicht beschworen werden kann; immer wieder erscheint er uns in einer neuen Gestalt. Würde es uns gelingen, sie alle auszurotten und die Geliebte ewig für uns zu behalten, so würde der böse Geist eine andere Form annehmen, die noch weit tragischer wäre, die Gestalt der Verzweiflung nämlich, Treue nur mit Gewalt errungen zu haben, Verzweiflung darob, nicht geliebt zu werden. (143)
Häufig stellte ich mir die Frage, ob man Marcel als beziehungstauglich bezeichnen kann. Schon aus den letzten Bänden geht diese Frage hervor, und ich mich immer freue, wenn ich im Text eine hinweisende Antwort finde, indem er sich selbst diese Frage stellt,
(…) ob eine Heirat mit Albertine nicht mein Leben ruinieren würde, einerseits, weil ich damit die für mich zu schwere Aufgabe übernehmen müsste, mich einem anderen Wesen zu widmen, andererseits aber auch dadurch, dass sie mich zwänge, infolge der unaufhörlichen Gegenwart einer anderen Person abwesend von mir selbst zu leben, und mich für immer der Freuden der Einsamkeit beraubte. (33)
Immer wieder gehe ich in meinen Buchbesprechungen auf die Beziehungsproblematik ein, die aus Marcels Kindheit herrührt. Gewisse mütterliche Zärtlichkeiten, Liebkosungen, an denen Marcel bis ins erwachsene Alter hängengeblieben ist. Dazu  folgendes Zitat:
Wie früher in Combray, wenn meine Mutter mich verlassen hatte, ohne mich durch ihren Kuss beruhigt zu haben, wollte ich Albertine nacheilen, ich spürte, dass es keinen Frieden für mich gab, bevor ich sie wiedergesehen hatte, dass dieses Wiedersehen etwas Ungeheures sein würde, was es bislang noch nie gewesen war, und dass, wenn es mir nicht gelänge, mich allein von dieser Traurigkeit zu befreien, ich vielleicht die schmachvolle Gewohnheit annehmen würde, mich bettelnd bei Albertine einzufinden. (156)
Dieses Bettelnde findet man im ersten Band wieder, als Marcel noch ein kleiner Junge war, und er ohne den Gutenachtkuss seiner Mutter nicht einschlafen konnte. Der Vater, der nur ganz selten in den Büchern auftaucht, bezeichnet hierzu Marcels Verhalten als übertrieben verwöhnt.
An solchen Abenden empfand ich bei Albertine nicht mehr jene Befriedigung wie durch den Kuss meiner Mutter in Combray, sondern die Angst jener anderen, an denen mir Mama kaum gute Nacht gesagt hatte oder sogar nicht einmal in mein Schlafzimmer gekommen war, weil sie mir entweder zürnte oder durch Gäste abgehalten wurde. Diese Angst - nicht mehr ihre abgewandelte Form innerhalb der Liebe -, nein, diese Angst selbst, die sich eine Zeitlang auf die Liebe spezialisiert hatte, als sich die Teilung, die Aufteilung der Leidenschaften vollzog und sie nur noch der Liebe zugeordnet war, schien jetzt wieder, von neuem unteilbar geworden, auch über alle anderen gebreitet, als ob alle meine Gefühle , die davor zitterten, Albertine nicht an meinem Bett festhalten zu können – als eine Geliebte, als eine Schwester, als eine Tochter, als eine Mutter auch, nach deren täglichem Gutenachtkuss ich wieder ein kindliches Verlangen zu verspüren anfing-, (154f)
Wie ich mit Hilfe dieses Zitat belegen kann, dass Marcels kindliche Erfahrung, das Versagen mütterlicher Liebkosungen, sich wie ein seelisches Trauma anfühlt, und das sich in der Beziehung mit Albertine fortsetzt.

Und so bestätigt es meinen Eindruck, dass Marcel die notwendige Reife fehlt, sich auf Dauer auf einen anderen Menschen einzulassen. Diese Ambivalenz spiegelt sich im ganzen Roman wieder.

Er stellt Albertine oft zur Rede, ob sie mit bestimmten Frauen wie Andrée verkehre? Er bezeichnet sie als Lügnerin, als sie seine Frage negierte.
Ihre Lügen, ihre Geständnisse beließen mir die Aufgabe, die Wahrheit aufzuhellen: ihre Lügen, die so zahlreich waren, weil sie sich nicht damit begnügte, zu lügen wie jedes Wesen, das sich geliebt glaubt, sondern weil sie, abgesehen davon, eine Lügnerin von Natur war (und so sprunghaft im übrigen, dass sie, selbst wenn sie mir jedes Mal die Wahrheit über das gesagt hätte, was sie zum Beispiel von den Leuten dachte, jedes mal etwas anderes geäußert haben würde); (134f) 
Woher bezieht Marcel seine Theorie zu Albertine, die er oftmals verallgemeinernd auf andere Frauen überträgt? Ganz banal; er achtet auf die Mimik, auf die Wortwahl … Manchmal errötet Albertine auf Marcels peinliche Fragen und das Erröten interpretiert Marcel als ein Zeichen, dass Albertine lügt.

Hier seine Lügentheorien, die er auch auf andere Frauen überträgt:
Ist es überhaupt nötig, dass man eine Tatsache weiß? Kennt man nicht von vornherein schon auf eine ganz allgemeine Art die Lügen und die Verschwiegenheit der Frauen, die etwas zu verbergen haben? Kann ein Irrtum noch möglich sein? Sie machen aus ihrer Diskretion eine Tugend, wo man sie doch so gern zum Sprechen bringen würde. Wir spüren, dass sie  ihrem Komplizen gesagt haben: Ich bin verschwiegen. Von mir wird man nichts erfahren. Ich bin verschwiegen. (133)
Genau diese Szene bezeichne ich als eine Halluzination. Er malt sich etwas aus, das er als Wahrheit bezeichnet. Es bestehen keine handfesten Beweise, dass seine Geliebte sich mehr zu Frauen hingezogen fühlt. Weil sie ihm dieses Geständnis nicht abringen kann, bezeichnet er sie als >>die arme Gefangene, die Frauen liebt<<, dabei ist es Marcel selbst, der der Gefangene ist, und sich in seinem Gedankenkonstrukt immer weiter verstrickt, und Probleme hat, emotional da wieder herauszukommen. Marcel projiziert auf Albertine seine innere Beziehungsproblematik, seine für mich innere Unausgeglichenheit, die ich schon arg als symptomatisch bezeichne.

Eine weitere Lügentheorie, die sich auf Frauen bezieht:

Was ist schon die Lüge: Wir leben mitten in ihr und lächeln nur darüber, wir bedienen uns ihrer und glauben, niemandem weh zu tun, doch die Eifersucht leidet unter ihr und sieht mehr, als sie verbirgt, (oft weigert sich unsere Freundin, den Abend mit uns zu verbringen, und geht ins Theater, nur damit wir nicht sehen, dass sie schlecht aussieht), genauso wie sie oft blind ist, was die Wahrheit verbirgt. Doch sie kann nichts erreichen, denn die Frauen, die schwören, nicht zu lügen, würden sich auch unter dem Messer weigern, ihre Natur einzugestehen. (137f)
Immer wieder kommen ihm Verlustängste auf, Albertine könne ihn wegen einer  Frau verlassen, oder auch, weil ihr die Beziehung mit Marcel zu langweilig sei. Doch auch hier projiziert er seine Ängste auf Albertine, wie sich später herausstellte. Es war seine Angst, die Beziehung könnte ihn langweilen. Tief in seinem Inneren wünschte er sich einen Beziehungsbruch.
Die Anwesenheit Albertine bedrückte mich, ich schaute sie an, wie ergeben und verdrossen sie war, und empfand es als Unglück, dass es zwischen uns nicht zum Bruch gekommen war. (579)
Ich möchte ja nicht allzu viel verraten, aber eine wichtige Szene möchte ich unbedingt noch festhalten.

Proust hält diese vielen „Lügen“ nicht aus. Er will sich von Albertine trennen. Beide befinden sich gerade in Marcels Zimmer, als er Albertine die Trennung ausspricht, allerdings erst zum morgigen Tag. So eine Trennung, die schizoide Formen annimmt, habe ich auch noch nicht erlebt. Albertine wundert sich:
>>Wieso morgen? Ist das wirklich Ihr Wille?<< Trotz des Kummers, den ich empfand, wenn ich von unserer Trennung sprach, als sei sie bereits vollzogen – vielleicht zum Teil auch wegen dieses Kummers-, begann ich, Albertine ganz präzise Ratschläge wegen gewisser Dinge zu erteilen, die sie nach ihrem Fortgang aus dem Haus tun sollte. (489) 
Ich habe mich gefragt, wie so eine innere Zerrissenheit, diese innere Spaltung auszuhalten ist.
>>Wir sind glücklich gewesen, und jetzt fühlen wir, dass wir unglücklich werden würden.<<
>>Sagen Sie nicht, wir fühlen, dass wir unglücklich werden<<,  fiel mir Albertine ins Wort,  >>sagen Sie nicht >wir<, denn nur Sie allein finden das.<< (ebd)
Langsam wirft Albertine Marcel böse Verleumdungen vor, wo sie sonst recht geduldig mit Marcels Vorwürfen umgegangen ist.
>>Darf man vielleicht wissen, wer Ihnen solche schönen Dinge erzählt? Könnte ich vielleicht einmal selbst mit diesen Leuten reden? Und vielleicht auch erfahren, worauf sie sich stützen bei ihren Verleumdungen<< –
Daraufhin Marcels Reaktion: 
>>Meine liebe Albertine, ich weiß es nicht, es handelt sich um anonyme Briefe, aber von Leuten, die Sie vielleicht ziemlich leicht auffinden würden (…), denn offenbar kennen sie Sie gut. Der letzte, muss ich gestehen, (ich zitiere gerade ihn, weil es sich da nur um eine Kleinigkeit handelt und weiter nichts  Arges darinsteht) hat mir gleichwohl den Rest gegeben. Es hieß dort, Sie hätten damals, als wir Balbec verließen, zuerst bleiben und hinterher doch abreisen wollen, weil sie inzwischen einen Brief von Andrée bekommen hätten des Inhalts, sie komme nicht.<< (569)
Es zeigt sich, dass  Marcel derjenige ist, der lügt. Dies wird ihm selbst auch mal bewusst,
>>indem ich log, verlieh ich meinen Worten vielleicht mehr Wahrheit, als ich dachte<<. (508)
Wobei Marcel seine Lügen eher philosophisch aufwertet.

Ich mache nun hier Schluss, da man ja nicht allzu viel verraten darf. Aber im Buch gibt es noch jede Menge interessante Textstellen zu finden. So viele Zettelchen kleben mir noch zwischen den Seiten, die ich leider nicht alle bearbeiten kann.

Der Schluss hat mir sehr gut gefallen, denn hier erhält Marcel von Albertine genau das, was er eigentlich verdient hat. Aber auch, was er sich insgeheim erhofft hat.


Mein Fazit?

Dieser frauenverachtende und besitzergreifende Umgang  hat mich angewidert, der sich in allen Bänden wie ein roter Faden durch die Seiten zieht. Doch mittlerweile sehe ich es etwas gelassener, ebenso  Marcels Überheblichkeit betrachte ich zusammen als nichts Anderes mehr als menschliche Schwächen, von denen wir alle nicht frei sind.

Trotzdem habe ich mich immer wieder gefragt, wie eine um Emanzipation bemühte Frau wie Virginia Woolf Proust so sehr lieben konnte? Diese Frauen- und Beziehungsproblematik sind keine Nebensächlichkeiten. Sie ziehen sich durch das ganze Buch hindurch. Man kann sogar sagen, dass der fünfte Band ein reiner Liebesroman gehobener Art ist, da die Liebesthematik hier den meisten Raum einnimmt, weshalb ich unbedingt darüberschreiben wollte.
Man gibt sein Vermögen, sein Leben für ein Wesen hin, und dennoch weiß man genau, dass man zehn Jahre früher oder später ihm dieses Vermögen verweigern und sein Leben lieber für sich behalten würde. Dann nämlich wäre das Wesen von uns gelöst, allein, das heißt gegenstandslos. (133)
Vielleicht hat Virginia Woolf ähnlich gedacht, auch ein Marcel Proust ist nur ein Mensch, der jede Menge Ideen und gute Gedanken hat. Manchmal leider zu wenig selbstkritisch, vielleicht war er dafür noch zu jung. Das wird sich im siebten Band hoffentlich zeigen. Und hoffentlich hat er seinen inneren Frieden noch finden können. Sein Ausgang, die innere Zerrissenheit, nicht nur den Frauen und allen Homosexuellen gegenüber, auch sich selbst gegenüber, erhoffe ich im siebten und letzten Band mit allen seinen Themen eine Befriedung. 

Wobei sich heute noch viele Menschen schwertun, Menschen, die anders geartet sind, zu akzeptieren und zu tolerieren. Und dies nicht nur auf sexueller Ebene.


2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Neun von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Taschenbuch: 695 Seiten, 18,00 €
Verlag: Suhrkamp Verlag; Auflage: 1 (29. November 2004)
ISBN-10: 3518456458
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Man träume den Traum des Lebens immer noch am besten in einer Bibliothek.
 (Marcel Proust)


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