Freitag, 10. Oktober 2014

Marcel Proust / Sodom und Gomorrha ( 7)

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 4

Siebte von sieben Buchbesprechungen zur o.g. Lektüre

Es hat sich wieder viel Stoff angesammelt, werde aber stark raffen. Konzentriere mich hier hauptsächlich auf die Beziehung zwischen Albertine und dem Icherzähler Marcel. Kurz gehe ich auf zwei weitere Figuren ein, die in diesem Band viele Seiten gefüllt haben, und ich mir sicher bin, dass sie in den Folgebänden wieder auftreten werden.

Die Figur, die mir im vierten Band besonders sympathisch war und die mir am intellektuellsten erschien, ist der Baron Charlus. Ein sensibler Mensch, der sich tatsächlich um vieles Gedanken zu machen weiß, obwohl er es in der Gesellschaft als Homosexueller nicht einfach hat, akzeptiert zu werden. Er zeigt sich recht modern und aufgeklärt in seiner Menschen- und Weltanschauung; bunte Kleider zum Beispiel wurden allgemein eher als geschmacklos empfunden, die bei einigen anderen im schlimmsten Fall sogar hurenhafte Assoziationen hervorrufen. Ein kleiner Abriss aus einer Konversation zwischen Monsieur Brichog, Monsieur Charlus, Madame de Cadignan und Monsieur M. Proust.
>>Also welche Bedeutung hat das schon für uns, die wir weder über das Privileg verfügen, darin spazieren zu gehen, noch jene Dame kennen, noch Adelstitel führen?<< Brichot nämlich ahnte nicht, dass man sich für ein Kleid und einen Garten wie für ein Kunstwerk interessieren kann und dass Monsieur de Charlus die kleinen Gartenwege der Madame de Cadignan wie in der balzacschen Novelle vor sich sah. 
Das war wieder ein wunderschönes Zitat.

Und die Figur, die mir partout nicht sympathisch war, das ist der Geiger Morel, auch wenn Monsieur Charlus sehr um den Kontakt mit ihm bemüht ist. Er sieht Morel gerne, schätzt ihn, fördert ihn in seiner Musikkunst, etc. Erst glaubte ich, dass Charlus sich sexuell zu ihm hingezogen fühlt, doch diesen Verdacht fand ich noch nicht bestätigt.
Morel versucht sich öffentlich gut darzustellen, und doch tritt auch er als Geiger ins Fettnäpfchen und sich in die peinliche Lage bringt, zwei bedeutende französische Virtuosen miteinander zu verwechseln.
Morel ist hauptsächlich bei Madame Verdurin sehr beliebt, die seine Musik liebt, und jede musikalische Panne gelassen hinnimmt.

Morel zeigt Probleme im Umgang mit Proust, der ihn aufgrund seiner Herkunft nicht zu achten weiß, da Proust nur ein Bourgeoise ist. Doch Proust zählt ihm auf, mit welchen bedeutenden Leuten der Vater verkehren würde. Morel imponiert das partout nicht.

Damit zeigt der Autor, dass ihm eine gute gesellschaftliche Stellung auch wichtig ist, und er sich bemüht, in den höheren Kreisen dazuzugehören. Aber er gehört dazu, denn er ist insgesamt recht gefragt und beliebt, fast allen Angehörigen der gehobenen Gesellschaft ist es wichtig, dass er an den gesellschaftlichen Veranstaltungen regelmäßig teilnimmt. Die Soireen und die Mattinees finden in der Häufigkeit statt, zu vergleichen mit einem Menschen, der berufstätig ist. Die einen gehen zur Arbeit, andere besuchen gesellschaftliche Aktivitäten. Die Teilnahme daran wird von einem erwartet, gehört zum täglichen Pflichtprogramm dazu. 
Man muss beobachtet haben, wie der Arzt Cottard (…) nach außen zu einer festen Haltung gelangt war, und wissen, aus wie viel Liebesverdruss, wie vielen Niederlagen ihres Snobismus der scheinbare Hochmut und allgemein unterstellter Antisnobismus der Fürstin Scherbatow sich entwickelt hatte, um zu verstehen, dass innerhalb der Menschheit die Regel-von der es natürlich Ausnahmen gibt-darin besteht, dass die harten Menschen Schwache sind, die keine Gegenliebe gefunden haben, und nur die Starken, die sich eben keine Gedanken darüber machen, ob man sie mag oder nicht, jene Sanftmut aufbringen, die der gemeine Mann für Schwäche hält. 
Das ist auch ein schönes Zitat, mit viel Weisheit umhüllt.
Man verstößt lieber ein Familienmitglied, wenn es den familiären und den gesellschaftlichen Erwartungen nicht entspricht, als das Gesicht in der Gesellschaft zu verlieren. Habe das schon in allen Gesellschaftsschichten beobachten können, sowohl im Inland als auch im Ausland.

Vielleicht für mich noch einmal zu dem vierten Band grob zusammengefasst:
Sodom und Gomorrha werden als die Sexualität der Männer (Sodom) und die der Frauen (Gomorrha) dargestellt. Mit beiden Arten setzt sich der Autor und Icherzähler Marcel Proust ausführlichst auseinander, und nach meiner Beobachtung und Einschätzung ist er nirgends wirklich glücklich. Lt. meiner Recherchen ist es ihm nicht geglückt, Liebesbeziehungen zu halten, geschweige denn sich mit einem Mädchen zu vermählen. 

In eine der letzten Buchbesprechungen hatte ich geschrieben, dass Proust von seinen Müttern nicht wirklich abgenabelt ist und fühle mich aus den Begebenheiten vieler Szenen auch bestätigt, s. Beispiel mit Madame de Guermantes weiter unten. Des Weiteren fällt mir auf, dass männliche Familienangehörige so gut wie keine Rolle spielen. Der Vater war mal kurz im ersten Band präsent, der seiner Frau riet, mit Marcel ein wenig strenger in der Erziehung vorzugehen. Nicht, weil der kleine Marcel untadelig war, nein, weil er mütterliche Liebkosungen zwingend einzufordern wusste. Im ersten Band gab es folgende Szene, die ich gerne wieder aufschreibe: Die Eltern hatten bis spät in die Nacht Gäste bei sich. Marcel wurde zeitig ins Bett geschickt, ohne einen Gutenachtkuss, da die Mutter mit den Gästen beschäftigt war. Marcel plagte dadurch die Schlafstörung. Als die Gäste schließlich gegangen waren, lauschte der kleine Marcel, ob seine Mutter nun endlich nach oben kommen würde, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben. Die Kinderzimmertür hatte er leicht geöffnet gehalten. Als die Eltern mitbekommen hatten, dass der Junge noch nicht schlief, weil er keinen Gutenachkuss bekommen hatte, zeigten sich beide, Vater und Mutter, Marcel gegenüber verärgert ...
Der Junge genoss eine exzessive, wohlbehütete Kindheit.

Im erwachsenen Leben zeigen sich gehäuft Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen, doch ganz speziell Frauen/Mädchen gegenüber. Er erkennt, dass er oftmals Phantomen nachjagt. Kreaturen, die nur in seiner Einbildungskraft existieren, die er quasi in reale Wesen hineinprojiziert.
Er läuft Frauen / Mädchen hinterher, diese Szenen werden auch im ersten Band dargestellt. Damals hatte er sich in Madame de Guermantes verliebt, die vom Alter her seine Mutter hätte sein können. Er spürte ihre Gehwege auf, mit dem Ziel, ihr öffentlich zu begegnen. Heute würde man dafür den Begriff Stalking gebrauchen. Madame de G. hatte sich von ihm belästigt gefühlt. Natürlich sollte dies unauffällig sein, doch sie kam ihm recht schnell auf die Schliche.
Albertine und Madame de Guermantes bekamen für mich die tiefe Monotonie, die allegorische Bedeutung einer Art von Linie, der mein Charakter stetig folgte. Es war natürlich, aber trotzdem nicht gleichgültig; sie erinnert mich daran, dass mein Schicksal es war, immer nur Phantome zu verfolgen, Wesen, deren Wirklichkeit zu einem guten Teil nur in meiner Einbildungskraft bestand; es gibt tatsächlich Wesen - und das war bei mir seit meiner Jugend schon so; für die alles, was einen festen, von anderem feststellbaren Wert besitzt, Vermögen, Erfolg, hohe Stellungen, überhaupt nicht zählt; was Sie brauchen, sind Phantome. Um ihretwillen opfern sie alles Übrige, setzen sie alles ins Werk, alles tritt für sie hinter der Begegnung mit einem solchen Phantom zurück. Dieses aber braucht nicht lange, um wieder zu entschwinden; dann läuft man einem anderen nach, um schließlich zu dem früheren zurückzukehren. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich um Albertine bemühte, das Mädchen, das ich im ersten Jahr vor dem Meer erblickt hatte. 
Zurück zum Liebespaar Marcel und Albertine.

Marcel lädt Albertine dazu ein, gemeinsam mit ihm von Balbec aus nach Hause, zurück nach Paris zu reisen - Albertine zeigt sich zurückhaltend, da es sich nicht schickt,  als junges Mädchen alleine mit einem jungen Mann sich auf Reisen zu begeben. Sorgen macht sie sich um ihre Tante, die das nicht für gut heißen würde. Es würde Gerede geben, das die Tante enttäuschen würde. Proust schlägt ihr vor, sich als seine Cousine auszugeben oder aber auch sich als ein fast verlobtes Paar zu bekennen.
Sie äußert weiterhin Bedenken:
„Würde es nicht merkwürdig aussehen, wenn ich bei Ihnen wohnte? Und in Paris wird man ja wissen, dass ich nicht Ihre Cousine bin."
„Gut! Dann sagen wir eben, wir seien so gut wie verlobt. Was macht das, wo sie doch wissen, dass es nicht stimmt?" Der Hals Albertines, der ganz auf ihrem Hemd hervortrat, war mächtig, golden, kräftig gekörnt. Ich küsste sie in so einer Weise, wie ich meine Mutter geküsst hätte, um einen Kinderschmerz zu beschwichtigen, von dem ich damals glaubte, ich werde ihn niemals aus meinem Herzen reißen können. 
Auch hier finde ich erneut die Assoziation mit den Küssen seiner Mutter aus den Kindertagen. In den letzten Buchbesprechungen beschrieb ich die visuelle Szene mit den Küssen auf den Mund seiner Großmutter, die ich als die zweite Mutter bezeichnet hatte. Ebenso der großmütterliche Schmerz, der weggeküsst werden sollte, kommt auch hier in seiner Beziehung zum Tragen. Diese sind, auf Albertine bezogen, alles andere als Liebesküsse.

Immer wieder erlebe ich ihn in den Beziehungen zu Frauen recht ambivalent und widersprüchlich. Er selbst schreibt von einem zerrissenen Herzen, in das Albertine hervorzudringen vermochte.
Hundert Jahre hätte ich suchen können, um herauszufinden, wie die Pforte, die sich hinter ihr schloss, sich noch einmal wieder öffnen ließe. Jener Worte hatte ich eine kurze Weile nicht mehr gehört, solange Albertine eben bei mir war. Während ich sie küsste, wie ich meine Mutter in Combray geküsst hatte, um meine Angst zu beschwichtigen, glaubte ich beinah an die Unschuld Albertines, doch dachte ich wenigstens nicht mehr unablässig an die Entdeckung ihres Lasters.
Aus meiner Sicht klingt das ein wenig neurotisch. Ist er durch die Mütter zu sehr verweichlicht? Zu viel Mutterliebe kann eben auch ähnliche Symptome hervorrufen, wie bei einem Menschen, dem die Mutterliebe in seiner frühkindlichen Entwicklung gefehlt hat.
Albertines Laster? Hier spricht wieder der Marcel in seinem Wahn nach Vollkomenheit, der sich eine perfekte Welt wünscht, in der sich perfekte Menschen bewegen.

Die Mutter befürwortet die Beziehung mit Albertine nicht. Marcel würde mit ihr unnötig zu viel Geld veräußern und außerdem sei er durch sie innerlich recht aufgewühlt und unruhig. Er beendet die Beziehung.

Proust ist ein Träumer, imaginiert immer wieder romantische Liebesszenen, die er in Wirklichkeit nicht zu leben weiß. Darauf seine Mutter, die ihren Schützling vor Liebeskummer weinend vorfindet:
>>Nun<<, sagte meine Mutter, >>hast mir nichts Schlechtes über sie gesagt, sondern nur, sie langweile dich ein wenig und du seiest ganz froh, dass du den Gedanken an eine Heirat mit ihr aufgegeben hast. Das ist doch kein Grund, so sehr zu weinen. Bedenke, dass deine Mama heute abreist und schrecklich traurig wäre, wenn sie ihren großen Jungen in diesem Zustand zurücklassen müsste.<< 
Wenn ich dieses Zitat lese, dann bekomme ich den Eindruck, eine Mutter spricht zu ihrem kleinen Jungen, wenn ich nicht wüsste, dass der Kleine schon längst erwachsen ist ...
Überrascht war ich schließlich am Ende des Buches über eine Wende, auf der letzten Seite, mit der ich nicht gerechnet hatte, als Marcel der Mutter verkündet:
Ich heirate Albertine.
Demnach muss er die Beziehung wieder neu aufgenommen haben. Aber, wie oben schon geschrieben, werden diese Heiratsabsichten nur Absichten bleiben, da er dafür die seelische Reife einfach nicht aufbringen kann.
Nun habe ich genug von der Beziehung(sunfähigkeit) zwischen Marcel und Albertine geschrieben.

Dies ist meine letzte Buchbesprechung zum vierten Band Sodom und Gomorrha, mit dem Proust die damaligen Homosexuellen arg schockiert haben soll ...

Wenn alles gut geht, werde ich im Dezember mit dem fünften Band fortfahren, Den sechsten hatte ich aus persönlichen Gründen vorziehen müssen. Ich komme leicht wieder rein, wenn ich mir meine Notizen herauskramen werde.

__________
„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.
Manchmal, die Kerze war kaum gelöscht,
fielen mir die Augen so schnell zu,
dass keine Zeit blieb, mir zu sagen:
Ich schlafe ein.“
(Marcel Proust)

Gelesene Bücher 2014: 68
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86