Samstag, 4. Oktober 2014

Marcel Proust / Sodom und Gomorrha (4)

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 4

Unter Berücksichtigung der Buchbesprechungen dieses Bandes von eins bis drei setze ich die vierte fort. Doch zuvor verlinke ich die drei Buchbesprechungen, die ich vor zwei Jahren geschrieben habe. Mir hatte es an Ausdauer gefehlt, weshalb ich das Buch nicht beenden konnte.

Erste Buchbesprechung

Zweite Buchbesprechung

Dritte Buchbesprechung



Vierte von sieben Buchbesprechungen zur o. g. Lektüre

Weiter geht’s. Immer wieder wird man mit der Arroganz der vornehmen Leute wie Fürsten, Barone und Adligen konfrontiert, kurz; die Gesellschaft der Aristokraten, die sich zwischen Abwertung und Vorurteilen den  Mitmenschen gegenüber bewegt. Innerhalb dieser Schichten gibt es durchaus hierarchische oder noch besser gesagt kastenförmige Unterschiede, trotzdem haben alle eines gemeinsam: Es wird überall abgelästert. Jede Schicht stellt sich über die andere. Und immer wieder nimmt man an den gesellschaftlichen Konversationen teil, an den Soirees, die eher oberflächlich verlaufen. Diese Leute tun nichts anderes als reden, reden, reden:
Nichts dergleichen jedoch schien Madam de Citri das Recht zu geben, Eigenschaften zu verachten, die den ihren  glichen. Sie fand alle Menschen idiotisch, aber in ihrer Unterhaltung, ihren Briefen zeigte sie sich den Leuten, denen sie so viel Verachtung entgegenbrachte, eher unterlegen. Sie hatte im übrigen in sich ein solches Zerstörungsbedürfnis, daß die Vergnügungen, die sie suchte, als sie dem Gesellschäftsleben mehr oder weniger entsagt hatte, eine nach der anderen furchtbare, ersetzende Wirkung zu spüren bekamen.
Marcel Proust befindet sich erneut in Trauer, hat den Tod seiner Großmutter noch nicht ganz verwunden. In Gedanken geht er seinen Erinnerungen nach, die er mit seiner Großmutter erlebte. Mir scheint, sie war wie eine zweite Mutter zu ihm. Er fragt den Vater nach ihrer Adresse, was mich ein wenig irritiert hatte, wo sie doch tot ist. Sollte die Frage etwa lauten, ob die Adresse ins Jenseits führt? ... Marcel glaubte eigentlich an sowas nicht, aber es gibt so manches, in dem Proust eher widersprüchlich erscheint ...
 Er sah den Kummer, den die Großmutter erlitt und der erwachsene Enkel versuchte visuell diese mit Küssen auf dem Mund zu verscheuchen, (234).
Proust war durchaus auch ein Melancholiker, der zu leiden fähig ist.
Niemals mehr aber würde ich jenes Zucken in ihrem Gesicht ausleuchten können und jenes Leiden ihres Herzens oder vielmehr des meinigen; denn da die Toten nunmehr in uns existieren, treffen wir unermüdlich uns selbst, wenn wir uns hartnäckig an die Schläge erinnern, die wir ihnen versetzt haben. An jene Schmerzen, so grausam sie waren, klammerte ich mich mit aller Macht, denn ich spürte, daß sie aus der Erinnerung hervorgingen, die ich von meiner Großmutter hatte, und der Beweis waren, dass diese Erinnerung wahrhaft in mir gegenwärtig war. Ich fühlte, dass meine Erinnerung nur im Schmerz gründete, und hätte gewollt, dass sich die Nägel noch tiefer in mich eindrückten, die das Gedenken an sie in mir befestigten. Ich versuchte nicht, das Leiden zu mildern, es zu verschönern, mir einzubilden, meine Großmutter sei nur abwesend und vorübergehend unsichtbar, (…).
Dass Proust zu tiefen Gefühlen fähig ist, zeigt sich auch an folgendem Zitat:
Jetzt, wo ich etwas zu müde bin, um mit anderen zu leben, scheinen mir diese alten so ganz allein zugehörigen Gefühle, die ich durchlebt habe, wie es nun mal die Manie aller Sammler ist von großem Wert. Ich schließe mir selbst mein Herz auf, als wäre es eine Vitrine, und betrachte nacheinander alle die Liebeserlebnisse, die anderen niemals widerfahren werden.
Mir gefällt einfach seine Ausdrucksweise, die reich an Bildern ist.

Proust witzelt gerne über die Charaktere anderer Leute. Auch ihn erlebe ich versnobt, denn es gibt niemanden, deren Seele er nicht auf einen Sezierteller legt, und sie mit einem spitzen Messer zerlegt. Selbst den Liftboy seines Hotels analysiert er aufs Schärfste. (Marcel ist wieder nach Balbec gereist) Für mich ist Proust ebenso eine recht witzige Figur. Mein Tipp: Proust sollte sich selbst mal auseinandernehmen ...

Eine ihm unbekannte Figur mit dem Namen Cancan hält Proust erst für einen Hund. Als dürfe kein Mensch Cancan heißen ... Und als könne der Mensch seine Namenswahl beeinflussen ... 
Madame Cambremer befindet sich in der Konversation mit dem jungen Marcel. Man kann sich mit ihm nicht unterhalten, ohne dass er währenddessen nicht irgendwelche Vergleiche in die Menschen hineinlegt:
Während Madame Cambremer die Worte so heißer hervorbrachte, daß es schien, als bewege sie Kieselsteine in ihrem Mund. Dann kam das Zurückschlucken des Speichels und das instinktive Abwischen des - gemeinhin als amerikanisch bezeichneten - Schnurrbärtchen mit dem Taschenbuch.
Trotzdem, seine Bilder, die er zum Ausdruck gebraucht, gefallen mir sehr gut ...

Proust ist auch auf dem Gebiet der Liebe mehr als ambivalent und widersprüchlich. Eine echte Liebe habe ich bis jetzt vermisst. Es spielt sich viel in Gedanken ab, die ich als geistige Liebe bezeichnen möchte. Seiner Jugendliebe Albertine zeigt er sich gleichgültig, obwohl er innerlich vor Eifersucht brodelt, als er dem Gerücht nachgeht, Albertine sei in eine Frau namens Andrée verliebt. Man beobachtete sie auf einem Ball, als sie beide engangeschmiegt miteinander tanzen. Eiseskälte entsteht in Prousts Herzen. Er stellt Albertine zur Rede, doch sie versichert ihm, dass sie sich von der Homosexualität ebenso angewidert fühlt wie er. So ganz richtig konnte Proust nicht überzeugt werden, denn er ertappt sie immer wieder aufs Neue, wenn sie hübschen Frauen nachschaut. Albertine allerdings erträgt diese Proust-Kälte nicht, und läuft ihm hinterher, reist ihm schließlich bis nach Balbec nach. Genau das wollte Proust erwirken ...
Ich kenne keine Liebesszene, in der Proust eine seiner Geliebten geküsst hätte. Auch hier wird viel zu viel geredet, gemutmaßt und spekuliert. Ist das Liebe? Ist Proust überhaupt fähig zu einer wahren Liebe? Aus meiner Sicht ist Proust von seinen beiden Müttern (Mutter und Großmutter) nicht wirklich abgenabelt. Ein erwachsener junger Mann, der davon träumt, die Großmutter auf den Mund zu küssen, ist schon sehr außergewöhnlich ... Damit möchte ich nicht ausdrücken, dass Trauer um eine geliebte Person aus der Verwandtschaft nicht erlaubt ist. 

Um sich zu rächen, gibt er an, in Andrée verliebt zu sein ...
Im übrigen sollte meine Eifersucht auf die Frauen, die Albertine vielleicht liebte, ein jähes Ende finden.
Ich erlebe Proust zudem hypochondrisch, was sich an den obigen Zitaten zusätzlich belegen lässt, auch aus den anderen Werken geht dies hervor, und er ist überheblich, überheblich wie es die meisten anderen Leute seines Standes sind, hypochondrisch, wie nur er es sein kann. Dazu ist er noch ein verwöhnter junger Mann, und es amüsiert  mich, dass sich endlich jemand finden konnte, der ihm mal ordentlich das Gesicht einseift. Es ist Céleste Albaret, seine Botin und Haushälterin, die im Beisein ihrer Schwester Marie es wagt, mit einer großen Portion Ironie das zu sagen, was sich andere nicht trauen. Die Schwestern befinden sich in Marcels Hotelzimmer, während er das Frühstück einnimmt:
Oh, dieser kleine dunkle Teufel, mit Haaren wie pechschwarze Häherfedern, wie schlau und wie boshaft er ist! Ich weiß nicht, woran Ihre Mutter gedacht hat, als sie Sie unter dem Herzen trug, denn Sie haben alles von einem Vogel an sich. Schaue nur, Marie, sieht er nicht genauso aus, als ob er sich die Federn glatt streicht? Und wie flink er den Hals wenden kann! Er sieht so leicht aus, dass man meint, er lerne gerade fliegen. Ach! Sie haben Glück, dass sie sich ihre Eltern unter den Reichen haben aussuchen dürfen; was wäre sonst aus ihm geworden, wo Sie doch so verschwenderisch sind? Da wirft er jetzt sein Hörnchen fort, weil es das Bett berührt hat. Hoppla, jetzt vergisst er auch noch seine Milch, warten Sie nur, damit ich ihnen eine Serviette umbinde, Sie wissen ja doch nicht, wie man das macht; niemals habe ich jemanden gesehen, der so dumm und so ungeschickt ist wie Sie. (…) Er ist ein Herr und will uns zeigen, dass wir einen Herrn vor uns haben. Man kann ihm zehnmal die Betttücher wechseln, wenn es nötig ist, aber er gibt nicht nach. Die von gestern hatten sowieso ausgedient, aber heute sind sie gerade erst frisch bezogen, und sicher müssen sie jetzt für ihn gleich wieder gewechselt werden. Ach! Ich hatte recht, als ich sagte, er sei nicht dafür gemacht, als Armer geboren zu sein. Sieh nur, wie seine Haare sich sträuben. Er plustert sich auf, wenn er zornig ist, genau wie die Vögel es tun. Ach, du armer, kleiner Federbalg!
Mich hat dieses  Zitat und das unten folgende besonders aufgeheitert, denn nun stehe ich nicht alleine mit meinen Beobachtungen da. 

Doch Céleste ist noch lange nicht fertig:
Er kann die unbedeutendsten Dinge tun, man meint immer, man sieht den gesamten Adel Frankreichs ;) bis zum Pyrenäen in jeder seiner Bewegungen. (…) Ach! Diese Stirn, die so rein aussieht und doch so viele Dinge verbirgt, diese Wangen, die so freundlich und fröhlich sind wie das Innere einer Mandel, die kleinen seidigen Hände mit ihrem Plüsch darauf, die dabei doch Nägel haben wie Krallen ;) … Sieh nur, Marie, jetzt trinkt er seine Milch mit einer Andacht, die mir Lust macht, ein Gebet zu sprechen.
Das geht noch weiter, aber lest selbst. Und doch, ist das nicht eine schöne poetische Sprache? 

Nachgedanken:
Ich könnte mir vorstellen, dass Proust über die leeren Gespräche seines Kreises selbst recht angwiedert ist, aber er ist so darin verwoben, dass er selbst nicht anders kann, als sich über diese zu belustigen. Er wirkt auf mich wie ein Chamäleon. Man muss ein wenig wie die anderen werden, um nicht aufzufallen. Und das ist ihm gut gelungen. Denn damit hat er uns die Lebensweise jener Gesellschaft nahebringen können. Kann man so eine Gesellschaft ertragen, wo jeder über jeden spricht, ohne selbst ein wenig wie diese zu werden? Ich glaube nicht. Sonst wäre Marcel langweilig geworden und er hätte die Türen hinter sich zugezogen. Welches Leben hätte er denn dann führen können? Niemals wären diese Bücher zustande gekommen, wobei sich vieles auch wiederholt. Mir wurde schon nach dem ersten Band deutlich, was unter Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zu verstehen ist.

Für mich hat sich des Rätsels Lösung schnell offenbart, auch wenn ich nicht alles habe herausziehen können, was z.B. ein Literaturwissenschaftler zu deuten vermag. 
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„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.
Manchmal, die Kerze war kaum gelöscht,
fielen mir die Augen so schnell zu,
dass keine Zeit blieb, mir zu sagen:
Ich schlafe ein.“
(Marcel Proust)

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