Mittwoch, 8. Oktober 2014

Marcel Proust / Sodom und Gomorrha (6)

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Sechste von sieben Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ein paar Vorgedanken ...

In einer Literaturzeitschrift hatte ich mal vor mehreren Jahren gelesen, dass in den Werken Auf der Suche nach der verlorenen Zeit über tausend Figuren existieren würden. Dies hatte mich dermaßen abgeschreckt, weil ich unmöglich über diese tausend Personen schreiben, geschweige denn mir alles behalten kann. Dies war wohl der Grund, weshalb ich von Proust erst genug hatte. In mir spürte ich zu diesem Zeitpunkt eine innere Bremse. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um es nun neu zu wagen, allerdings habe ich meinen Anspruch etwas heruntergeschraubt. Ich lese Proust auf meine Weise, und z.B. nicht auf die Weise von Literaturwissenschaftlern. Ich ziehe für mich das Beste heraus. Trotzdem habe ich die tausend Leute im Hinterkopf und stehe ein wenig unter dem Zwang, mir so viel wie möglich von diesen tausend Leuten zu behalten oder gar aufzuschreiben ...
Und ich mache gerne eigene Entdeckungen, und lasse mich nicht gerne von Sekundärliteratur leiten und beeinflussen. Wie sagen Prousts Leute? Ein Original zu sein ist besser als eine Kopie. Diesen Anspruch hab ich, wenn ich über meine gelesenen Bücher schreibe. Natürlich gebrauche ich auch Lexika, aber sie werden nicht zu meinen Hauptlektüren gemacht. 

Weiter geht´s.
Am letzten Montag, dem sechsten Oktober, habe ich ein paar Sätze zu Prousts Wach- und Traumzustand geschrieben. Hundertfünfzig Seiten weiter entdecke ich eine so schöne bildhafte Textstelle, in der sich Proust zu diesen beiden Bewusstseinszuständen selbst äußert. Ich muss diese Textstelle unbedingt aufschreiben, sie geht mir sonst verloren, da ich nicht vorhabe, die Bände ein zweites Mal zu lesen. Es ist ein wunderschönes Zitat:
Ich trat in den Schlaf ein, der wie eine zweite Wohnung ist, über die wir verfügen und in die wir, nachdem wir die Erste verlassen, uns für die Nacht begeben. Sie hat ihre eigene Läutevorrichtung, und wir werden darin manchmal durch das Geräusch einer Schelle geweckt, das wir ganz deutlich an unserem Ohr vernehmen, obwohl niemand geläutet hat. Sie hat ihre Bedienten, ihre besonderen Besucher, die uns dort zu einem Ausgang abholen, sodass wir uns anschicken aufzustehen, wenn wir mit einem Mal dadurch, dass wir fast übergangslos in die andere Wohnung zurückgewandert sind, die wir im Wachzustand innehaben, genötigt sind festzustellen, dass das Zimmer leer und niemand gekommen ist. Die Rasse, die es bewohnt, gleicht der der ersten Menschen androgyner Natur. Ein Mann erscheint dort nach einer Weile in Gestalt einer Frau. Die Dinge dort haben das Talent, zu Menschen, die Menschen aber das, zu Freunden und Feinden zu werden. Die Zeit, die für den Schläfer während eines solchen Schlafes zerrinnt, ist absolut verschieden von der Zeit, in der er sein Leben als wahrer Mensch verbringt. Manchmal ist ihr Lauf sehr viel rascher, eine Viertelstunde erscheint dann ein Tag zu sein, manchmal auch sehr viel langsamer, denn man meint, nur einen leichten Schlummer getan zu haben, und hat dabei den ganzen Tag geschlafen. Dann fährt man mit dem Wagen des Schlafs in Tiefen hinab, in denen die Erinnerung ihn nicht mehr einzuholen vermag und an deren Pforten der Verstand den Rückzug antreten musste. Das Gespann des Schlafs zieht wie das der Sonne in so gleichmäßigem Schritt dahin, in einer Atmosphäre, in der kein Widerstand es mehr aufzuhalten vermag, dass es eines kleinen von außen kommenden meteorischen Steinchens bedarf (…), und den regelmäßigen Schlaf zu treffen (…) ihn in einer jähen Kurve war unter Auslassung aller Zwischenetappen zur Wirklichkeit zurückzuführen, durch dem Leben schon nahe gelegenen Regionen hindurch-in denen der Schläfer bald die noch ziemlich wirren, aber bereits wahrnehmbaren, wenn auch entstellten Geräusche des Lebens hören kann; und ihn mit unerhörter Plötzlichkeit beim Erwachen landen zu lassen. Man erwacht dann aus solchem Tiefschlaf jeweils in einem Morgengrauen, ohne zu wissen, wer man ist, da man ja niemand ist, vielmehr neu und zu allem bereit, denn das Gehirn ist entleert von jener Vergangenheit, die das dahinter zurückliegende Leben war.
Marcel Proust ist abends oder nachts, wenn er von La Raspéliere zurückkehrt, recht müde, da ihn die vielen Soireen einfach auch anstrengen.
Ginge mir persönlich ähnlich, so viele Menschen um einen herum kosten auch viel menschliche Energie.

Dieser Snobismus, der die Proustbände dominiert, und der sicher auch recht anstrengend ist, ihn zu ertragen, findet man auch unter den einfacheren Leuten. Prousts Zimmerkellner spricht von seiner Schwester, die einen reichen Mann geheiratet hat und sich eine Menge darauf einbilden würde. Proust verteilt oft großzügig Trinkgelder, die von dem Zimmerkellner mit großer Dankbarkeit auf fast unterwürfiger Art entgegengenommen wird, und erzählt ihm von dem Los seiner Schwester:
Guten Abend, mein Herr. Oh! Danke, mein Herr. Wenn alle Leute ein so gutes Herz hätten, gäbe es bald keine Armen mehr. > Aber<, sagt meine Schwester, > es muss immer welche geben, damit ich jetzt, wo ich reich bin, sie gelegentlich anscheißen kann.<
Warum schreibt Proust diese Szene auf? Will er damit deutlich machen, dass Geld den Menschen verdirbt, egal in welcher Kaste er sich befindet?

Endlich erlebe ich eine Szene, in der Proust es schafft, sich der Liebe mit Albertine hinzugeben. Albertine ist allerdings diejenige, die den ersten Schritt wagt, sodass sich beide Liebkosungen hingeben. Doch hatte sie zuvor eine Flasche Apfelwein getrunken. Mut angetrunken? Für eine Frau zur damaligen Zeit war der erste Schritt sehr mutig …
Sie schien dann tatsächlich zwischen uns beiden den Abstand nicht mehr ertragen zu können, der sie gemeinhin nicht störte; unter ihrem Leinenrock drängten ihre Beine sich an meinen, dicht an meine Wangen brachte sie die ihren, die blass geworden war, über den Wangenknochen aber heiß und rot, mit etwas glühendem und Verwelktem, wie es die Mädchen aus den Vorstädten haben. In solchen Augenblicken verwandelte sie fast ebenso schnell wie ihre Persönlichkeit auch ihre Stimme, sie verlor die ihre, um eine andere, heisere, kecke, ja fast gemeine anzunehmen. Es wurde Nacht. Welche Freude war es für mich, sie so dicht neben mir zu fühlen mit ihrem Schal und ihrer Toque, und daran zu denken, dass man immer so, Seite an Seite, alle Liebenden trifft! Ich hegte vielleicht Liebe zu Albertine, wagte aber nicht, sie etwas davon merken zu lassen; wenn also Liebe in mir war, so konnte sie nur die eine Wahrheit ohne Wert sein, bis ich sie durch die Erfahrung hätte wirklich erproben können; so aber schien sie mir nicht realisierbar und auf einer anderen Ebene als mein Leben zu liegen. Was meine Eifersucht betraf, so trieb sie mich dazu, Albertine so wenig wie möglich allein zu lassen, obwohl ich wusste, dass sich völlige Heilung nur finden konnte, wenn ich mich für immer von ihr trennte. Ich konnte Eifersucht sogar verspüren, wenn ich mich neben ihr befand, richtete es aber dann so ein, dass der Umstand nicht wiederkehrte, durch den sie in mir geweckt worden war.
Nun, aber das obige Zitat sagt schon alles. Zeigt die Beziehungsstörungen, die Proust hat und man ist schon darauf vorbereitet, dass die Beziehung mit Albertine scheitern wird. Aber das habe ich schon vorausgesehen. Nach fünf Proust-Bänden lernt man ihn schon kennen, auch intuitiv. Die Eifersucht nimmt ebenfalls krankhafte Züge an. Marcel und Albertine gehen essen, und der Kellner trifft den Blick Albertines.
Ein paar Minuten lang hatte ich das Gefühl, dass man die Person, die man liebt, dicht neben sich und doch nicht bei sich haben kann. Die beiden sahen aus, als befänden sie sich in einem geheimnisvollen Zwiegespräch, das stumm verlief infolge meiner Anwesenheit und vielleicht bereits eine Fortsetzung früherer Begegnungen war, von denen ich nichts wusste, oder auch nur eines Blickes, den er ihr zugeworfen hatte, bei dem ich aber jedenfalls der störende Dritte war, vor dem man sich verbirgt. Selbst als er sich, von seinem Chef energisch zurückgepfiffen, entfernt hatte, schien es, als ob Albertine, während sie weiter aß, das Restaurant und die Gärten keineswegs nur mehr als eine beleuchtete Rennbahn ansah, auf der bald hier, bald da vor wechselnden Dekorationen der göttliche Läufer mit schwarzem Haar wieder erscheinen würde.
Aber das Schöne an Proust ist, ihm sind seine Schwächen auch bewusst …

Ein paar Seiten später erfährt man, dass er von Albertine mit so vielen Küssen bedacht wurde, dass er es schon als ein Vorrat an Küssen betrachten konnte für die Zeit, in der ohne sie war.

Albertine zeigt großes Interesse an der Architektur, sie ist durch Proust auf dieses Interessengebiet gestoßen und bittet Marcel, sich mit ihr Kirchen und Bauwerke anzuschauen. Er konnte ihr den Wunsch nicht erfüllen und lehnte ab, erfand Ausreden, doch der eigentliche Grund war, dass er sich die schönen Dinge nur alleine anzuschauen in der Lage sei.

Mein Verdacht hat sich bestätigt, dass Proust nur mit sich alleine zu tiefen Gedanken fähig ist. Jeder Austausch mit jemand anderen würde ihn geistig und seelisch zu sehr zerstreuen.

Ein anderes Ereignis hat mich ein wenig belustigt. Hat mich amüsiert. Proust erfährt die Begegnung mit einem Gerichtspräsidenten. Sie tauschen sich aus. Der Gerichtspräsident erfährt dabei von Proust die gesellschaftlichen Abendaktivitäten bei den Verdurins in La Raspéliere:
Ah! Sie fahren nach La Raspéliere ! Ich muss ja sagen, Madame Verdurin mutet Ihnen wirklich viel zu mit einer Stunde Eisenbahnfahrt im Dunkeln, nur damit Sie bei ihr zu Abend essen, und dann kommt auch noch die Rückfahrt um zehn Uhr abends bei diesem mörderischen Wind. Da sieht man allerdings, dass Sie offenbar nichts zu tun haben.
Eigentlich geht es diesem Menschen gar nichts an, mit was sich Proust die Zeit vertreibt. Aber inhaltlich gesehen hat er schon recht. Aber Proust weiß dies auch, denn er hat nicht umsonst seinen sieben Bände den Titel Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gegeben.
Prousts Reaktion auf den Gesprächspartner? Klar, sein Gesprächspartner sei einfach nur neidisch, dass er als ein vielbeschäftigter Mensch diese Zeit nicht zur Verfügung stehen habe, um an Soireen teilzunehmen und tat ihn als gedankenlos ab, denn schließlich könne man sonst keinen Hamlet schreiben oder ihn gar lesen ...

Das ist wohl auch wahr, aber diese Leute schreiben ja nicht, und sie lesen nicht wirklich viel, obwohl sie über eine mannigfaltige Bibliothek verfügen … Man bekommt mal mit, dass jemand z.B. ein Buch von Balzac dabei hat, aber doch mehr um zu zeigen, dass er weiß, wer Balzac ist, aber nicht um des Zweckes willen.

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„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.
Manchmal, die Kerze war kaum gelöscht,
fielen mir die Augen so schnell zu,
dass keine Zeit blieb, mir zu sagen:
Ich schlafe ein.“
(Marcel Proust)


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