Montag, 27. Oktober 2014

Adam Davies / Goodbye Lemon (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch von Davies hat mir so gut gefallen, dass ich mich gezwungen sah, mir einen weiteren Band von dem Autor anzuschaffen, der mit Froschkönig betitelt ist.

Schon der Klappentext spricht mich regelrecht an:
Ein tragischer Liebesroman für alle, die Liebesromane hassen. 
Der vorliegende Band hat mich von der ersten bis zur letzten Seite arg beschäftigt.

Leider passt das Cover nicht wirklich zu dem Inhalt. Wenn man sich dieses betrachtet, da bekommt man eher einen heiteren Eindruck zweier junger Menschen, die in das Wasser springen. Dem ist aber nicht so. Deshalb passt auch der englische Originaltitel auch nicht zum Inhalt:
Children jumping into the water. 
Das erlebe ich oft, dass die Figuren auf dem Cover nicht mit denen aus der Story übereinstimmen. Woran liegt das nur?

Wie ich eingangs bei der Buchvorstellung schon erwähnt habe, ist, dass mir der literarische Ausdruck des Autors gut gefallen hat, und habe einges an Zitaten zu bieten, werde aber nur vereinzelt von diesen ausdrucksstarken Sätzen wiedergeben. Zur Erinnerung gebe ich noch einmal den Klappentext rein:
Hätte Jack Tennants Familie einen Schlachtruf, es wäre gemeinsames jahrelanges Schweigen ... über ein tragisches Familiengeheimnis. Aber jetzt droht Jacks neue Liebe Hahva, ihn zu verlassen, wenn er sie nicht einweiht. Und sein verhasster, seit einem Schlaganfall stummer und gelähmter Vater droht das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen; er ist der Einzige, der weiß, was damals wirklich geschehen ist. Jack muss handeln – und zwar schnell. Ein berührender, urkomischer und mit schwarzem Humor gespickter Roman über Trauer, Erinnern und Vergebung.Zu seiner Familie zurückkehren ist das Allerletzte, was Jack Tennant in seinem Leben tun wollte. Er hat andere Sorgen: Seine Hilfsstelle als Universitätsdozent wird eventuell nicht verlängert, gerade als er um die Hand seiner Freundin Hahva anhalten möchte. Soll er sein Auto gegen einen Diamantring tauschen? Trotzdem fährt der junge Universitätsdozent nach zwanzig Jahren nach Hause, denn sein despotischer Vater (Marineoffizier, Boxer, Industrieller) sitzt nach einem Schlaganfall im Rollstuhl und kann sich weder bewegen noch sprechen. Sprechen durfte man in der Familie allerdings schon lange nicht mehr, seit Jacks kleiner Bruder eines Nachts in den See sprang und ertrank. Jack, der trotzdem redete, wurde vom Vater grausam bestraft. Doch das weiß seine Freundin Hahva nicht, die unbedingt Jacks Familie kennenlernen will und nicht ahnt, dass diese nicht nur Schätze bei sich verborgen hält. Ein bewegender und gleichzeitig urkomischer Roman über Familie, Sprachlosigkeit und den langen Weg zur Versöhnung. Und darüber, dass man sich seine Familie nicht aussuchen kann, aber vielleicht doch sein Leben – und seine Liebe.
Ein recht langer Klappentext, aber zu dem Buch gibt es tatsächlich viel zu sagen.

Das Buch beginnt mit einem Prolog und der Ich-Erzähler nennt sich Jackson Tennant, der die LeserInnen in ein Familiendrama einweiht. Jacks mittlerer Bruder Dexter springt in einen See und ertrinkt. Dexter ist gerademal sechs Jahre alt. Jack hat noch einen Bruder namens Pressman, der ältere, der zehn Jahre alt war, als das Unglück geschah.

Jack berichtet nun von dem Vorfall noch immer in der Perspektive eines fünfjährigen Jungen, der er damals war. Die Wahrnehmung ist dadurch ziemlich verzerrt. Jack macht für den Unfall den Vater verantwortlich, doch auch er war voller Schuldgefühle, da er z.B. nicht in der Lage war, den Bruder, seinen Sohn, zu retten.

Dexter ist tot und Jack versucht seinen Bruder wieder lebendigzuschreiben.

Jacks Vaterbild ist arg verstört, zeigt keine postiven Erinnerungen zu ihm:

Sein Vater war Colonel und hieß Guilford Tennant:
Vater kam 1944 in New Haven zur Welt. Sohn von wem auch immer. Meines Wissens tauchte er in einer blauen Uniform aus dem Mutterleib auf und raunzte den Hebammen Befehle zu. 
Das fand ich ein recht starkes Bild. Aber der Junge muss den Vater so erlebt haben. Korrekt, ordnungsfanatisch, kopflastig und gefühlsarm.

Jack beschreibt seine Eltern immer ein wenig abfällig. Als die Mutter ihn umarmte, bekam er folgenden Eindruck:
Abgesehen von der Öffnung zwischen Nase und Kinn ist das Gesicht meiner Mutter beim Sprechen völlig falten- und fugenlos. Dann tritt sie vor, um mich zu umarmen. Es ist eine linkische Geste, etwa so, als würde man einen Weihnachtsbaum umarmen: die Arme weit ausgebreitet, das Gesicht abgewandt, nur die Hände nehmen Kontakt auf, die leicht tätschelnd nach oben streichen, als würde ein Mitglied der Bodenkontrolle einem Flugzeug seine Parkposition zuweisen. 
Man bekommt den Eindruck, dass die Kinder wenig emotionale Nähe erfahren haben. Jack beschreibt die Eltern, als würden sie mehr Zeit und Wert legen auf materielle Objekte, als diese mit den Kindern zu verbringen. Die Mutter, Aidar, sorgt für einen picobello Haushalt, der Vater ist in seiner Freizeit permanent mit seinem Auto beschäftigt gewesen.

Das könnten die Gründe sein, weshalb Jack als Kind ein so gestörtes Bild zu den Eltern aufgebaut hatte.
Jacksons Freundin heißt Hahva Finn, die in einem Obdachlosenheim als Sozialarbeiterin beschäftigt ist. Es nervt sie und es stimmt sie misstrauisch, dass Jack nichts von seiner Familie erzählt, bis er sich gezwungen sieht, ihr die Eltern vorzustellen, als sie ihm die Pistole auf die Brust setzt. Jack war viele Jahre nicht mehr zu Hause. Seine Flucht vor dem Elternhaus, seine Flucht vor dem dramatischen Ereignis, das für alle Familienmitglieder zu einem Tabu geworden ist. Den Unfall mit dem Bruder konnte er dadurch nicht verwinden und tief in sich sucht Jack nicht nur bei sich selbst die Schuld, nein, er macht auch den Vater für den Tod verantwortlich, da dieser z.B. seine Aufsichtspflicht verletzt habe …
Es mag kindisch sein, aber ich denke unwillkürlich - und voller Verbitterung; dass Dex deshalb starb: Weil wir meinem Vater zutiefst gleichgültig sind.Wir waren ihm nicht wichtig genug, als dass er Dex an jenem Abend am See im Auge behielt - und Dex starb.
Dass auch der Vater und Press voller Schuldgefühle sind, konnte der kleine Jack damals noch gar nicht wissen, denn sie alle behalten diese schwere Last für sich und finden ihre Art und Weise vor dem Ereignis zu flüchten, um nicht daran erinnert zu werden. Der Unfall wird einfach totgeschwiegen. Man gräbt sich mit diesem Erlebnis innerlich ein, und verwandelt sich zu einsamen Wesen. Jeder für sich. Aus meiner Sicht haben sie alle, besonders die Kinder, sich eine posttrauamtische Belastungsstörung hinzugezogen, die sie über drei Jahrzehnte begleitet hat. Das hat tiefe Auswirkungen auf das gegewärtige Leben von Jack, Press und von dem Vater. Jack entwickelt dazu noch Autoaggressionen, indem er sich, als er das Elternhaus mit dem kranken Vater neu betritt, wiederholte Male in die Handkante beißt, sodass das Fleisch sichtbar wird. Jack wird mit der Vergangenheit nicht fertig, und hält den Stress mit seinem Vater schlecht aus und reagiert sich durch Selbstverletzungen ab.
Er gefährdet auch die Beziehung zu Hahva.

Jack macht mir glauben, dass er und seine Geschwister von den Eltern nicht genug geliebt wurden, wie sie es eigentlich verdient hätten.

Interessant fand ich die Szene, als Jack die Flip-Flop seines Bruders, die er wohl im Wasser rausgefischt haben muss, als ein Andenken aufgehoben hatte. Dreißig lange Jahre und erst nach dreißig Jahren erfährt Jack durch Press, dass Dexter nicht mit den Flip-Flop ins Wasser gesprungen ist, sondern mit seinen Turnschuhen. Die Badelatschen gehörten einem anderen Kind, einem ganz fremden Kind.

Einen weiteren Schicksalsschlag muss die Familie hinnehmen. Der Vater erleidet einen Schlaganfall, und durch den Schlaganfall ändert der Vater sein Bewusstsein, und bekommt das Bedürfnis, den Todesfall seines Kindes zur Klärung mit der Familie nochmals neu aufzurollen. Ihm ist bewusst, dass Jack ihn als Mörder bezichtigt.

Der Vater ist zwar schwerst körperbehindert, aber sein Kopf funktioniert noch, so dass er mit Hilfe einer guten Fachkraft namens Bess mit Hilfsmitteln wie z.B. das Quija-Brett, lernt, sich zu artikulieren. Bess ist die einzige, die von dem Vater ein gutes Bild hat und versucht, die Familienmitglieder mit in die Krankenbehandlung einzubeziehen. Press hegt Fantasien, den Vater zu töten, da er sich nie um seine Kinder gekümmert habe. Die Instrumente bzw. die medizinischen Geräte absichtlich falsch einsetzen, sodass diese zum Tod führen und es nach einem Unfall aussehen ließe. Press versucht Jack von seinem Vorhaben zu überzeugen, in der Hoffnung, der Bruder würde sich an der Tötungsaktion beteiligen. 
"Glaubst du nicht, das würde als Entschuldigung genügen? Denk mal über dich nach, Jack. Denke darüber nach. Frage dich einfach mal, was gerecht ist. Hat er uns je etwas Gutes getan? Nein. Aber jetzt kann er etwas Gutes tun."
"Sterben?"
"Sterben ist korrekt. Und für seine beiden Kinder sorgen, die er bisher ignoriert hat. Teufel auch, wahrscheinlich wäre es eine Gnade. Wahrscheinlich wäre es das Einzige, was seine Seele retten könnte." (157)
Jack fühlt sich nicht wohl dabei, als der Bruder ihn in diese Überlegungen einweiht. Press denkt an sein Erbe, das nicht in die teure Behandlung verschwendet werden darf…

Jack macht es sich sehr einfach. Er muss einige Niederlagen in seinem Beruf wegstecken, und macht allein den Vater dafür verantwortlich, der sich nicht um ihn gekümmert hatte, wie er als Vater es hätte tun sollen.

Jack ist ein wenig irritiert, über das fürsorgliche Verhalten seiner Mutter dem Vater gegenüber. Er stellt sie zur Rede:
"Ich verstehe das nicht, Mom. So bist du früher nie gewesen. Noch nie, solange ich zurückdenken kann. Und jetzt, auf einmal, kümmerst du dich um ihn? Überall am Ärmel hast du Sabber. Dein Handtuch mit dem Fuchs drauf ist triefend nass von Spucke. Du berührst seine Hände. Du berührst sein Gesicht. Und glaub ja nicht, ich hätte nicht bemerkt, wie du ihm vorsingst, Mom." Das klingt wie ein Vorwurf. "Wie kommt das? Ganz plötzlich, wie soll man sagen, liebst du ihn?"
"Ich liebe ihn wirklich."
"Warum?" Sie zog zum dritten Mal in ihrem Leben mit den Schultern.
"Er hat mich noch nie so gebraucht." 
Interessant, dass die Mutter den Vater nur lieben kann, seit dieser auf ihre Hilfe angewiesen ist. Ist das wahre Liebe? 

An diesem Zitat wird noch einmal deutlich, wie emotionsarm die Kinder die Eltern erlebt haben mussten.

Da ich nicht alles verraten möchte, mache ich nun hier Schluss, denn besonders am Ende wurde ich völlig mit dem Ausgang überrascht, mit dem ich nicht gerechnet habe.

Da das Buch sehr facettenreich ist, solche Bücher liebe ich, gibt es noch so viel anderes, was hier in meiner Buchbesprechung keine Erwähnung gefunden hat. Das ist beabsichtigt und gut so, damit andere LeserInnen selber ihre Entdeckungen machen können.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.
Gut geschrieben, fantasievoller und humoristischer Stil, authentisches Auftreten und differenzierte Charaktere der einzelnen Figuren. Und ein nichtberechenbarer Ausgang. 
______
Kinder brauchen keine Analysen,
Kinder brauchen Liebe.
(Adam Davies)

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