Donnerstag, 7. August 2014

Matt Haig / Ich und die Menschen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Anfangs glaubte ich, dass der Protagonist unter einer  Wahnstörung litt. Viele Psychotiker und Schizophrene leiden unter dermaßen starken Halluzinationen, sodass ihr gesamtes Weltbild auf den Kopf gestellt wird. Diese Menschen entwickeln in ihrer Erkrankung ein hohes Potenzial an Kreativität und verkaufen ihre Welt als die einzig wirkliche. Da ich beruflich mit solchen Menschen zu tun habe, sind mir die psychiatrischen Krankheitsbilder mehr als vertraut.

Im späteren Verlauf musste ich mich geschlagen geben. Nein, der Protagonist leidet unter keiner Wahnvorstellung, denn er kommt tatsächlich aus dem All, um eine Mission auf dem Planeten Erde zu erfüllen. Doch der Autor, wie es sich aus dem Nachwort entnehmen lässt, litt unter massiven Angststörungen, durch die diese Idee für das Buch entstanden ist. Massive Angststörungen können auch zu einen wahnhaften Denken und Verhalten führen. Weil diese Menschen in ihrer Angst nicht mehr in der Lage sind zu unterscheiden zwischen realer und irrealer Angst.

Zur Erinnerung gebe ich noch einmal den Klappentext rein:
In einer regnerischen Freitagnacht wird Andrew Martin, Professor für Mathematik in Cambridge, aufgegriffen, als er nackt eine Autobahn entlangwandert. Professor Martin ist nicht mehr er selbst. Ein Wesen mit überlegener Intelligenz und von einem weit entfernten Stern hat von ihm Besitz ergriffen. Dieser neue Andrew ist nicht begeistert von seiner neuen Existenz. Er hat eine denkbar negative Meinung von den Menschen. Jeder weiß schließlich, dass sie zu Egoismus, übermäßigem Ehrgeiz und Gewalttätigkeit neigen. Doch andererseits: Kann eine Lebensform, die Dinge wie Weißwein und Erdnussbutter erfunden hat, wirklich grundschlecht und böse sein? Und was sind das für seltsame Gefühle, die ihn überkommen, wenn er Debussy hört oder Isobel, der Frau des Professors, in die Augen blickt?
Der Daily Express schreibt: Ein Roman mit ganz großem Herzen.

Das kann ich nur bestätigen. Ein Roman mit so viel Wärme und mit so viel Weisheit behaftet.

Aber welchem Genre gehört das Buch denn nun an?

Ich würde sagen, am ehesten in der Rubrik der Science-Fiction, wobei es auch kein typischer S.F. Roman ist.

Er ist das, was er ist, ein Roman á la Matt Haig …

Erst dachte ich, welches negative Bild doch dieser Mathematiker Andrew Martin von den Menschen nur hat. Sie werden z. B. als gierig, egoistisch, als ichsüchtig bezeichnet. Eine Art Rasse diese Menschen, die es nicht verdient hätten, auf der Erde zu sein, da sie mit ihren narzisstischen Bedürfnissen den Planeten nur zerstören würden. Damit dies nicht geschieht, erhält Andrew Martin den Auftrag, die Menschen zu töten, und dies mit Hilfe von Gedankenmanipulation … (66)

Doch der Mathematiker durchläuft eine Entwicklung und merkt, dass er die Mission gar nicht erfüllen kann, weil er die Menschen auch von ihrer positiven Seite zu sehen lernt. Auf seinem Planeten sind alle unsterblich, aber sie kennen weder Gefühle, noch kennen sie die Liebe. Das Einzige, woran sie glauben, das sind Zahlen, von denen sie überzeugt sind, damit alle Theorien belegen zu können … Aber tun sie das, die Zahlen, die alles erklärbar machen? Lest selbst …

Das Buch hat mich so manches Mal zum Lachen angesteckt, weil der Mathematiker, der die Lebensweisen und die Sprichwörter der Menschen nicht kennt, alles sehr wortwörtlich begreift.

Kritisch steht der Mathematiker auch den LeserInnen gegenüber. Er macht die Entdeckung vieler Geschäfte:
Nach und nach machten die Geschäfte auf. In den Städten der Menschen, sollte ich herausfinden, gab es überall Geschäfte. In jedem suchten die Menschen nach Erlösung. In einem solchen Geschäft sah ich im Schaufenster eine Menge Bücher. Wie ich jetzt weiß, müssen die Menschen Bücher lesen. Sie müssen sich buchstäblich hinsetzen und ein Wort nach dem anderen lesen. Das kostet Zeit. Viel Zeit. Ein Mensch kann sich nicht mehrere Bücher auf einmal zuführen oder in wenigen Sekunden fast unendliches Wissen einverleiben. Er kann sich nicht einfach eine Wortkapsel mit einem neu erschienenen Buch in den Mund schieben wie wir. Man stelle sich das vor! Nicht nur sterblich zu sein, sondern auch noch gezwungen, einen Teil der wertvollen begrenzten Zeit auf Erden mit Lesen zu verbringen. Kein Wunder, dass die Menschen eine primitive Spezies waren. Kaum hatten sie annähernd genug Bücher gelesen, um mit dem erworbenen Wissen irgendetwas anfangen zu können, waren sie schon tot. (33)
Er wundert sich auch über die Behandlung von Nutz- und Haustieren ...
Eine Kuh ist ein irdisches Lebewesen, ein domestizierter Paarhufer, den die Menschen als Lieferanten für Nahrung, Getränke, Dünger und Designerschuhe betrachten. Die Menschen züchten diese Lebewesen und schneiden ihnen die Kehle durch und dann verteilen, verpacken und kühlen sie sie, um ihr Fleisch zu verkaufen und zu kochen. Im Verlauf dieses Vorgangs ändert sich der Name der Kuh in Rind, ebenfalls ein Einsilber, der aber so weit entfernt ist von >Kuh< wie nur möglich, denn das Letzte, woran ein Mensch denken will, wenn er Kuh isst, ist eine echte Kuh. (55)
... Und darüber, dass die Menschen Hühnerbrust essen, aber nicht die Brust von Hunden.

Später entwickelt der Mathematiker zu den Menschen eine Weisheit nach der anderen, wie z. B. dass jeder Mensch auf seine kleine Art ein wunderbares Ereignis sei.

Nun frage ich mich, was dieser Sinneswandel ausgemacht hat? Andrew Martin lernt das Gefühl und die Empathie an seinem eigenen Leib kennen.

Der Protagonist fragt sich selbst, was ihn zu dieser Empathie bewogen hatte? War es seine Lieblingsdichterin Emily Dickinson, deren Gedichte er vergötterte? Hatte sie ihn beeinflusst?

Lest selbst. Ich gebe ein letztes Zitat rein, das aber noch lange nicht das letzte ist. Das Buch, zum Ende hin, wimmelt geradezu von schönen Zitaten:
Wenn ich ein Herz vor dem Zerbrechen retten kann, dann habe ich nicht umsonst gelebt.
Wenn man bedenkt, dass Andrew Martin gekommen ist, um zu töten, will er jetzt Leben retten …

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten für die Idee, für die Weisheit und für den Schreibstil.
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Für kleine Lebewesen wie uns 
ist die Weite des Raums nur durch Liebe erträglich. 
(Matt Haig zitiert Carl Sagan)

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