Sonntag, 10. August 2014

Tilman Jens / Demenz (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Der Autor verarbeitet die Geschichte seines Vaters Walter Jens, vor allem die, als der Vater im Nationalsozialismus in der Hitlerjugend eingebunden gewesen sein soll. Ein Gerücht? Oder ist da etwas Wahres dran? Dem geht der Sohn Tilman nach. Schuld ist die dementielle Erkrankung seines Vaters, so dass die Recherchen ihn notgedrungen in die Auseinandersetzung mit dessen Lebensgeschichte führen.

Zur Erinnerung gebe ich noch einmal den Klappentext rein:
„Mein Vater weiß heute nicht mehr, wer er ist.“ Walter Jens und die Reise ins Vergessen. Tilman Jens’ Buch ist die Chronik eines langsamen Abschieds des Sohnes vom geliebten und bewunderten Vater. Der Sohn berichtet von einem Lebensende, das so gänzlich anders verläuft, als sein Vater, der „Virtuose des Wortes”, der Anwalt eines selbstbestimmten Todes, erhofft hatte. Ein bewegendes Buch über Auslöser und Auswirkungen einer grausamen Krankheit.
Walter Jens muss eine bedeutende Persönlichkeit gewesen sein, der unter den Kreisen von Schriftstellern bekannt war. Thomas Mann, Günter Grass, um ein paar wenige zu nennen. … Er selbst war auch schriftstellerisch tätig.

Und nun muss Tilman zuschauen, wie sein Vater geistig immer weniger wird …

In seinem Leben galt Walter Jens als sehr beredsam. Er lebte nach dem Zitat Fontanes: Wer am besten redet, ist der reinste Mensch. Tilman erkennt seinen eigenen Vater nicht wieder, fühlt sich der Krankheit völlig ausgeliefert ... Tilman erkennt, dass selbst die Ärzte sich vor dieser Erkrankung beugen müssen:
Das Alters-Siechtum, vor dem die Götter in Weiß kapitulieren. Das schleichende Sterben, das nach einer Studie des Robert-Koch-Instituts rund eine Millionen Deutsche ereilt. Die durchschnittliche Krankheits-Dauer, heißt es da, beträgt vom Beginn der Symptome bis zum Tod 4,7 bis 8,1 Jahre. Das ist nicht eben präzise - aber eindeutig doch: Der Weg führt beharrlich nach unten. Es gibt keine Chance der Heilung. (42)
Auch die Gesellschaft ist schier überfordert, deshalb bleibt ihr nichts anderes übrig, als bestimmte Krankheiten zu tabuisieren: Die meisten Leute ziehen sich von den dementen PatientInnen zurück. Sie können nicht anders als weggucken.
Ein Genie mag taub werden wie Beethoven, dem Wahnsinn verfallen wie Strindberg, den Freitod wählen wie Hemingway, Celan oder Pavese – vertrotteln aber darf das Genie nicht. Walter Jens, der unbequeme Denker aus Tübingen, der Redner der Republik, als stammelndes Menschenkind mit dem Babyfon am Bett, da hüllt man sich lieber in Schweigen, als ob dies letzte Kapitel eines langen, reichen und wortreich geführten Lebens ehrenrührig wäre, eine Schande, die es unter den Teppich zu kehren gilt. (43)
Der Vater, der einst mal so viel wusste und so viel konnte, zu dem der Sohn aufschaute, weiß bald gar nichts mehr. Seine Identität erlischt immer mehr. Er weiß nicht, wer er selbst ist, geschweige denn, wer seine Söhne und seine Frau sind. Er wurde in mehrere Kliniken untergebracht, doch keine wirkte Wunder:
Zehn Tage später darf er wieder nach Hause. Aber in diesen Monaten erlebt er die Krankheit in ihrer ganzen Härte. So wie sie Hunderttausende erdulden. Verwahrt, ruhiggestellt in Kliniken, in Heimen, die oft nicht gerüstet sind für den Umgang mit Menschen, denen gerade das Gedächtnis stirbt. Mein Vater durchschlebt 2007 eine wahre Odyssee, man bringt ihn von einer Krankenstation zur anderen. Im Frühjahr liegt er in der Urologie, wo man ihn schnellstmöglich wieder loswerden will, weil er in seiner Verwirrung androht, aus dem Fenster zu springen. (135)
Eigentlich wäre gerade der Kontakt zu vertrauten Personen hilfreich. Besuch von FreundInnen und Angehörigen kann Wunder wirken, aber nicht das Wunder, das wir unter Wunder verstehen, die völlige Wiederherstellung seiner geistigen Kräfte. Nein, ihn begleiten, lernen ihn auszuhalten und lernen, die Krankheit zu akzeptieren, das könnte für den Betroffenen hilfreich sein, weil er sich damit nicht mehr allein gelassen fühlt. Die Krankheit isoliert und lässt diese Menschen vereinsamen, als wären sie in ihrem eigenen Käfig gefangen.

Nun ist die Familie Jens keine arme Familie, sondern ausreichend wohlhabend. Sie haben das nötige Kleingeld, sich eine Ganztagspflegerin anzuschaffen, die nach Hause kommt, und den Patienten mit allem was nötig ist, versorgt. Auch ich denke, dass nur so ein würdiges Restleben und Sterben möglich ist.
Die Menschen bauen geistig ab, aber seelisch sind sie noch am Leben, und sie dadurch vieles wahrzunehmen in der Lage sind, selbst wenn sie es nicht schaffen, dies intellektuell zu artikulieren.

Tilman Jens stellt sich folgende Frage:

Was ist mit all denen, die nicht das Geld für eine private Betreuung haben, sondern, abgegeben in einem Heim, fernab der vertrauten Umgebung, das Ende der Tage erwarten? Das eindringliche Buch der Niederländerin Stella Braam bringt das Dilemma auf den Punkt: Prinzessin Juliana - auch sie war an Altersdemenz erkrankt - hatte ständig jemanden um sich, der sie pflegte. Genauso muss es sein. Das Juliana-Modell-oder: privat-Pflege-müsste Standard sein. Das Juliana – Modell (…) .(140)

Ich mache nun hier Schluss und kann das Buch bestens weiterempfehlen. Aber es ist kein Buch, indem es nur um die Demenz geht. Wie anfangs schon geschrieben, wird auch viel das politische Leben des Betroffenen retrospektivisch einbezogen; eine Art von Biografiearbeit, und diese nimmt nicht gerade einen kleinen Raum ein. 
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Für kleine Lebewesen wie uns
ist die Weite des Raums nur durch Liebe erträglich.
(Matt Haig zitiert Carl Sagan)

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