Verlag: Aufbau Tb 2011
Seitenzahl: 383
9,99 €
ISBN-10: 3746627893
Ich bin nun um einige Seiten weiter gekommen. Mir ist die Fallada Familie total sympathisch, und ganz besonders die Eltern.
Nur eines konnte ich nicht nachvollziehen, dass den Kindern verboten
wurde, Karl May zu lesen, wo doch dieses Buch mit eines der wenigen ist,
in dem die Indianer mal nicht die Bösen sind, sondern diesmal sind es
die Weißen. Leider gehen aus dem Buch die Beweggründe dieses Verbots
nicht hervor und so kann ich sie nur vermuten.
Hans Fallada berichtet von der Italienreise, die die Eltern ohne die
Kinder unternommen hatten. Die Kinder wurden von einer Bekannten
betreut, namens Tatie, die allerdings über keinerlei
Durchsetzungsvermögen besaß, und sich die Kinder wie Wilde betrugen.
Das ist das erste Mal gewesen, wo die Eltern ohne die Kinder verreisten
und es war auch das letzte Mal. Doch erst im erwachsenem Alter wusste
Hans Fallada den Charakter jener fremden Tante sehr zu schätzen, als sie
verstorben war:
Aber, Tatie, ich muss dich loben: trotz all der Qualen und Ängste, die du durch uns ausstandest, hast du uns nicht bei den Eltern verpetztt. Du hast sie nicht zu Hilfe gerufen, du wolltest es durchhalten. Und wenn die Eltern doch überraschend und sehr viel früher als erwartet aus Italien zurückkamen, herbeigerufen von Unter oder Oberbewohnern, die den Tumult nicht mehr ertragen konnten, du hast uns in Schutz genommen und alles geschehene Unheil nur deinem völligen Mangel an Fähigkeit, mit Kindern umzugehen, zugeschrieben. Du hast es erreicht, dass keinerlei peinliche Fragen an uns gestellt, kein strenges Strafgericht abgehalten wurde.
Auch wenn diese Szene für den einen oder anderen recht banal erscheint,
mir hat sie total gut gefallen, denn Banalitäten prägen die Welt. Mir
hat Tatie sehr gut getan über sie zu lesen, dass sie doch an das Gute
dieser Kinder zu glauben wusste und sie frei von der Gier und Lust war,
den Eltern unbedingt von den Untaten berichten zu müssen. Auch wenn
Tatie diese Fallada Lobrede nicht mehr erfahren konnte, so bin ich doch
sicher, dass sie mit ihrem Verhalten einen Abdruck in der Welt
zurückgelassen hat. Und in der Seele der Kinder bleibt dieser Abdruck
ebenso zurück. Und das ist das Wesentliche.
Ich komme wieder auf das Sparverhalten der Fallada Eltern zurück, die nicht aus der Habsucht heraus sparsam lebten:
Wer es nicht selbst miterlebt hat, kann es sich gar nicht vorstellen, mit welcher Intensität die Generation um die Jahrhundertwende sparte. Das war nicht etwa Geiz, sondern eine tiefe Achtung vor dem Geld. Geld für Arbeit, oft sehr schwere Arbeit, oft sehr schlecht bezahlte Arbeit, und es war darum sündlich und verächtlich, mit Geld schlecht umzugehen. Auch Vater war gar nicht geizig, ich habe es später oft erfahren, wie großzügig er war, wenn eines seiner Kinder Geld brauchte, wie glücklich er dann war, seine sauer ersparten Hunderte oder gar Tausende einem von uns zu schenken. Aber derselbe Vater konnte sehr, sehr ärgerlich werden, wenn er die Seife im Badezimmer schwimmend fand, so dass sie aufweichte und sich zu rasch verbrauchte. Beim Händewaschen hatte er einen besonderen Trick, die Seife fast trocken zwischen den Händen nur durch rutschen zu lassen, das sparte! (…) So war mein Vater von hundert Ideen, die Ausgaben einzuschränken, und ich muss gestehen, dass keine einzige dieser Sparmaßnahmen die Behaglichkeit des Hauses verminderte oder den Gedanken an Mangel aufkommen ließ (natürlich abgesehen von meinen geflickten Hosen ).
Es folgt nun eine Szene, die mich so sehr amüsierte, dass ich nur
schwer aus dem Lachen wieder herausgekommen bin. Die Familie befindet sich im Zug
auf dem Weg in den Sommerurlaub. Der Zug war ein ganz gewöhnlicher
Personenzug. Als ein D-Zug an ihnen vorbeirauschte, waren die Buben von
dem D-Zug völlig angetan. Hans fragte seinen Vater, weshalb sie nicht
mit einem D - Zug in den Urlaub fahren würden, so kam folgende Antwort:
"Aber warum denn, mein Sohn? Du sitzt hier wie dort auf Holz, aber du musst es teurer bezahlen und hast weniger davon, denn Du bist drei Stunden eher am Ziel. Warum sollen wir der Eisenbahn drei Stunden schenken?"
Aus dieser Perspektive habe ich das Fahren mit dem Personenzug
noch gar nicht gesehen. Vater Fallada würde heute wahrscheinlich in
keine ICEs einsteigen, *grins*.
Hans Fallada war ein hellblondes lockiges Kind, das sein Haar nur wegen
der Locken schulterlang tragen musste. Hans war es leid und bettelte bei
der Mutter, sich die Haare doch abschneiden lassen zu dürfen, damit er
endlich wie ein richtiger Junge aussehen könne. Die Mutter lehnte ab.
Doch eines Sommers, als sich die Familie auf eine Reise vorbereitete und
sie zu sehr damit beschäftigt war, ging Fallada alleine zum Friseur,
bei dem er sich das Prachtexemplar an Haar und Locken komplett
abrasieren ließ. Ganz zum Erstaunen der Eltern:
Mutter mochte ihre Augen noch so sehr reiben. Das Gespenst blieb. Da begriff sie, was geschehen war, sie brach in Tränen aus und rief: "Junge, Junge, was hast du da nur wieder gemacht! Deine schönen Haare! Wie siehst du aus?! Was hast du nur für die Ohren?! Du siehst ja richtig wie ein Topf mit zwei Henkeln aus!
Richtig verletzt darüber zeigte sich noch mehr der Vater von Hans, der
in einen Zornesausbruch geriet, als er den kurzgeschorenen Sohn
erblickte.
Bei dieser besonderen Gelegenheit, so muss ich sagen, hat mich mein sanfter Vater sehr enttäuscht. Sein Zorn über den Lockenraub schien ihm in keinem Verhältnis zu stehen zu der Größe meines Vergehens. Er behauptete, ich sehe schändlich aus wie ein Zuchthäusler! Nur Zuchthäusler hätten so kahl geschorene Köpfe!! Kein Mensch könne sich mit mir auf der Straße sehen lassen!!! Vor Verwandten und Bekannten müsse ich versteckt werden! Und was die Fahrt in die Sommerfrische angehe, so weigere er sich, mit mir im gleichen Abteil zu fahren! Mutter könne tun, was sie wolle, aber er, setze sich nicht mit ein Zuchthäusler auf die gleiche Bank!! (…)
Wenn ich mir heute diesen sonst ganz unverständlichen Zorn meines Vaters überlege, glaube ich, dies Wort > Zuchthäusler < gibt einen Schlüssel zur Erklärung. Mein Vater war Jurist, er war Richter, er war Strafrichter, und so den von ihm so schwer empfundenem Pflichten eines Richters gehörte es, Todesurteile zu verhängen. (…) Aber mein Vater hatte nicht nur Todesurteile zu fällen, sondern er hatte ihnen auch, wie ich glaube, nach dem Brauch damaliger Zeit gelegentlich beizuwohnen. Welche Qual das für diesen zarten überempfindlichen Menschen gewesen sein muss! Aber so zart er war, so mutig war er auch: er dachte nie daran, sich dieser Folge eines Urteils zu entziehen. Doch hat er bei diesen Gelegenheiten und Zuchthäusler in den abschreckenden Situation gesehen, und das Zeichen des Zuchthäusler war eben der kahl geschorene Kopf!
Auch wenn Hans Fallada ein wenig anderer Meinung ist, so glaube ich doch
als neutrale Beobachterin, dass der Vater, der nicht so gerne
Todesurteile fällte und unbewusst auch sehr darunter litt, erschrak bei
dem Anblick seines Sohnes, indem er den rasierten Kopf automatisch mit
einem zum todeverurteilten Sträfling assoziierte. Hans Fallada
allerdings ist eher der Meinung, dass der Zornesausbruch aus purer
törichter Vatereitelkeit herrührte.
__________________
"Die rechte Vernunft kommt aus dem Herzen ." (T. Fontane)
UB:
Dickens: Schwere Zeiten
Fallada: Damals bei uns daheim
Kuan: Die Langnasen
Lenz: Die Masken
Leroux: Das Phantom der Oper
Lueken: New-York
Manguel: Die Bibliothek bei Nacht
Mann. T. Erzählungen (1)
Miin: Madame Mao
Muawad: Verbrennungen
Osorio: Mein Name ist Luz
Proust: Sodom und Gomorrha
Senger: Kaiserhofstr. 12
Thackeray: Das Buch der Snobs
Zweig: Brennendes Geheimnis
Gelesene Bücher 2012: 35
"Die rechte Vernunft kommt aus dem Herzen ." (T. Fontane)
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