Sonntag, 7. Februar 2021

Mein Jahresrückblick 2020

Foto: Pixabay
Mit nur 26 Büchern war 2020 das leseärmste Jahr der letzten neun Jahre. Was war los?

Gelesene Bücher 2020: 26
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Leseflaute?
Ich kann nicht sagen, dass ich unter einer Leseflaute leide. Ich bin eher frustriert, dass mir nicht mehr Zeit zur Verfügung gestanden hat. Aber was sind die eigentlichen Gründe, dass an meiner Lesestatistik seit den letzten Jahren solch ein sukzessiver Abfall zu beobachten ist? Häufig habe ich von Jahr zu Jahr mit meiner besten Freundin Anne darüber gesprochen, die mich gut kennt, und immer wieder habe ich die Gründe im Außen gesucht. Aber die wahren Gründe konnten nur in meinem Inneren gefunden werden. Denn zur Antwort hat mir schließlich hierbei der wunderbare Autor Stan Nadolny verholfen, in: Die Entdeckung der Langsamkeit. 

Eigenes Lese- und Lebetempo
Genau, daran liegt das. Ich habe mein eigenes Tempo. 

Sten Nadolny / Die Entdeckung der Langsamkeit
Zu viele neue Bücher verführen zu schnellem Lesen. Frühjahr- oder Sommerprogramme an Neuerscheinungen aller Verlage lassen an die Kleidermode erinnern. Lange habe ich die vielen Bücher im Sommer nicht mal ausgelesen, als schon die nächste Jahreszeit bzw. die neue Büchersaison angekündigt wurde. Manche Menschenseele kann so schnell nicht verarbeiten, wie der Kopf liest. Als ich zum Jahresabschluss Irvings Owen Meany gelesen habe, habe ich gemerkt, wie gut mir das langsame Lesen getan hat. Solche tiefgründige Gedanken haben sich mir aufgetan, die niemals entstanden wären, wenn ich ihn in einer schnelleren Geschwindigkeit abgelegt hätte. Wenn ich ein Buch geistig und seelisch erfassen möchte, und diesen Anspruch habe ich, dann geht das nur in meinem subjektiven Tempo.  

Man ist deshalb nicht verkehrt, weil man weniger Bücher schafft als andere. Diese unbewusste Einstellung ist zu revidieren, die Leseqauntität an der Lesequalität festmachen zu wollen. Irvings Owen Meany hat mir im Dezember gezeigt, dass mir viele Weisheiten aus dem Buch entgangen wären, hätte ich mir nicht die Zeit für ihn genommen. Und mit Prousts Briefen hatte meine Langsamkeit unbewusst schon längst begonnen, zu mir zurückzufließen, ohne dass mir das wirklich bewusst wurde. Ich las vor meiner Proust - Pause jedes Wochenende nicht mehr als zehn bis zwölf Seiten. Es hätte mich definitiv nicht befriedigt, wenn ich die Briefe einfach nur runtergelesen hätte. Dennoch bin ich gegen meinen eigenen Strom geschwommen, in dem ich versucht habe, dagegen anzukämpfen. Trotzdem habe ich nicht mehr geschafft, nur meine Unzufriedenheit hat noch weiter massiv zugenommen, wenn zur Mitte des Jahres hin eine schrumpfende Lesestatistik weiterhin zu beobachten war. 

Mit Sten Nadolny, der mich an die Vorteile der Langsamkeit erinnert, gehe ich also ins neue Lesejahr 2021. Ihn, nun in mein Herz eingelassen, möchte ich mich als eine langsame Leserin akzeptieren, dafür aber lese ich mit mehr Intensität und mit mehr Genuss. 

Viele meiner Bücherfreundinnen und meiner Besucher*innen melden mir zurück, dass ihnen an meinem Blog die Tiefe gefallen würde. Und ich verspreche, es wird mit meinem ursprünglichen Lesetempo noch tiefsinniger werden. 

Langsame Menschen können auch nicht so losplappern. Ähnlich wie bei 
John Franklin sprudeln auch bei mir die Worte nicht aus mir heraus, aber wenn ich durch einen Anpassungsdruck trotzdem rede und rede, kommen nur unreife Sachen hervor. Nicht anders erging es John Franklin, der auch das langsame Sprechen thematisiert hatte. Aber wenn diese Menschen Zeit bekommen, dann bekommen die Gedanken Blüten und aus den Blüten entstehen bei guter Pflege wunderschöne Pflanzen.

Doch nun etwas Statistik!

Meine Lesestatistik

Diese Bücher habe ich 2020 gelesen

Schwarz Fettgedruckt: Lesehighlight und die Blaugedruckten sind die abgebrochenen Bücher.

Das Jahr 2020 hatte gleich mit einem Lesehighlight begonnen und zum Ende hin hatte es sogar mit einem weiteren Leshighlight beendet. Beide Bücher sind aus dem Diogenes Verlag. 

Die Bücher werden unten in der Reihenfolge aufgezählt, wie sie auch über das Jahr verteilt gelesen wurden.

1. Ian McEwan: Die Kakerlake (12)
2. Ulrich Ladurner: Der Fall Italien (11)
3. Leena Gander: Die Gesichter des Meeres (***, nach 200 Seiten abgebrochen)
4. Charles Dickens: Dombey und Sohn BD 2 (11)
5. John Okada: No No Boy (12)
6. Ian McEwan: Liebeswahn (12)
7. Hasnaim Kazim: Auf sie mit Gebrüll (12)
8. Matthias A. K. Zimmermann: Kryonium (12)
9. John Kaag: Das Bücherhaus (***, nach 200 Seiten)
10. Hendrik Lambertus: Das Erbe der Altendiecks (12)
11. David Michie: Buddhismus für Mensch und Tier (12)
12. Saša Stanišić: Herkunft (12)
13. David Michie: Die Katze des Dalai Lama (***, nach 100 Seiten)
14. Dennis Lehane: Der Abgrund in dir (11)
15. Alexander Gosztonyi: Das große Buch der Seele (12)
16. Karmen Jurela: Rauschliebe (7)
17. Raffaella Romagnolo: Bella ciao (11)
18. Michael Rosenberger: Der Traum vom Frieden zwischen Mensch und Tier: (12)
19. Alexander Gosztonyi: Betrachte dich mit den Augen der Liebe (12)
20. Walter Moers (***) (338)
21. Oscar Wilde: Das Gespenst von Canterville (10)
22. Mahatma Gandhi: Es gibt keinen Weg zum Frieden, Frieden ist der Weg: (12)
23. Raffaella Romagnolo: Dieses eine Leben (8)
24. Stefano Mancuso: Die unglaubliche Reise der Pflanzen (12)
25. Michael Repkowsky / Hochensibel und glücklich (12)
26. John Irving: Owen Meany (12)

Punktevergabe gelesener Bücher

12 Punkte: 15 Bücher
11 Punkte: 04 Bücher
10 Punkte: 01 Buch
  8 Punkte: 01 Buch
  7 Punkte: 01 Buch

Das ist doch ein guter Schnitt. Dass von den bewerteten Büchern kein schlechtes zur Hand war. Sie entwickelten sich für mich alle zu einem überdurchschnittlichen Potenzial. 

An die Autor*innen, die es nicht bis zur 12 geschafft haben. Bitte nicht traurig sein, ich versuche wirklich ganz ehrlich meine Punkte zu vergeben, und es fällt mir selbst auch nicht immer leicht, ein Werk schlechter zu bewerten als ein anderes. In unserer leistungsbezogenen Gesellschaft glaubt man immer die "Höchstpunktzahl" erwerben zu müssen, weil man zu den Besten zählen muss, um dadurch etwas Besonderes  zu sein. Nein, das muss man aber nicht. Mit sieben Punkten und weniger kann man durchaus auch ein ganz besonderer Mensch und Autor*in sein. Mir ist bewusst, dass eure Bücher eure Babys sind, mit denen ihr lange Zeit schwanger gegangen seid, bis ihr sie auf dem Papier ausgetragen habt. Das allein verdient schon große Wertschätzung und Anerkennung. 

Abgebrochene Bücher:

An die Autor*innen der abgebrochenen Bücher. Die Chemie zwischen uns hat partout nicht gestimmt. Ich konnte mit eurer Welt nicht warm werden, befinde mich in meiner Entwicklung auf einer völlig anderen Stufe, was das Welt- und Menschenbild betrifft.

Wenn ich jedem Buch die gleiche Anerkennung zolle, kann ich nicht mehr authentisch sein und büße dadurch auch vor mir selbst meine Glaubwürdigkeit ein.

Aber wie kommen Abbrüche zustande?

Dafür gibt es für mich zwei Kategorien.

Kategorie 1: Unterschiedliches Wissen

Zu einseitiges Weltbild

Dieser Punkt ist auch abhängig davon, wie ich ein Buch innerlich bewerte. Manches Wissen von Autor*innen ist für mich regelrecht überholt, bin damit längst durch, weshalb es zu den Abbrüchen mancher Bücher kommen konnte. Undifferenzierte Charaktere, einseitige Lebensstile befriedigen mich nun mal nicht. Die Welt draußen ist überall bunt und überall auf der Welt gibt es facettenreiche Menschen, gute und böse. Selbst im "schlechtesten" Menschen sind positive Anteile behaftet. Wenn solche Bücher noch in einer populistischen Sprache verfasst wurden, dann können wir partout nicht zusammen kommen.

Kategorie 2: Zu kühle Sprache
Eine zu kühle und eine zu technisierte literarische Sprache findet in meiner Seele keinen Anklang, denn ich halte es wie Benedict Wells. Auch ich mag keine "intellektuellen Dünkel". Auch ich möchte alle lesende Menschen hier für willkommen heißen, niemanden ausschließen, wobei die Experten unter uns, die sog. Literaturwissenschaftler*innen, sich häufig selbst abkabseln, viele pflegen den Austausch in ihren eigenen Nischen, da wir, die Nichtprofis, ihnen sicherlich zu profan erscheinen. Wells möchte mit seinen Büchern auch keinen Menschen ausschließen. Solche Autor*innen mache ich zu meinen Vorbildner*innen, wenn sie mir so richtig aus der Seele sprechen. 

Wie kommen die Lesehiglights zustande?
Ich habe ja viele Bücher mit 12 Punkten votiert, bei sieben fanden ganz besondere innere Erlebnisse statt.

Welche waren das? Sechs Kriterien

1.   1. Neue Wissensvermittlung 
 2. Versetzung in einen tranceähnlichen Zustand
 3. Unvorhersehbare Ereignisse und Ausgänge
 4. Wenn ein belletristisches Buch viele Fragen aufwirft und die hypothetischen Antworten
     dazu irregeleitet waren
 5. Überraschungen und Aha-Erlebnisse
 6. Die Balance eines ausgewogenen Schreibstils zwischen Kognition und Empathie

Rezensionsexemplare
Im Jahr 2019 hatte ich es als ziemlich bedrückend erlebt, meine Rezensionsexemplare nicht zeitnah besprochen zu haben. Teilweise mussten die Verlage bis zu einem Jahr auf meine Buchbesprechung warten. Das tat mir sehr leid, deshalb habe ich mir für das Jahr 2020 ganz fest vorgenommen, nicht mehr so viele Leseexemplare anzufragen und das ist mir in diesem Jahr gelungen. Nur noch einzeln habe ich die Bücher beantragt und konnte sie dadurch auch zeitnah besprechen.

Im Jahr 2021 handhabe ich es ähnlich, allerdings mit einer kleinen Veränderung. Ich möchte nur noch die Bücher anfragen, auf die ich ganz besonders aufmerksam geworden bin. Ich suche nicht mehr gezielt.

Ein herzliches Dankeschön hierbei an allen Verlagen, vor allem auch dem Bloggerportal, für das dafür aufgebrachte Verständnis.

Auch möchte ich wieder vermehrt Bücher anfragen, die nicht jeder lesen möchte. Diese Bücher machen mir irgendwie mehr Freude, sie zu rezensieren. Bei den anderen, vor allem bei den behypten Büchern, lasse ich mir mit kleinen Ausnahmen gerne etwas Zeit, da sie schon überall auf den Blogs genug Raum einnehmen.  

Meine Lieblingsverlage

Diogenes und Suhrkamp
Noch immer der Diogenes Verlag, aber auch der Suhrkamp Verlag. Neben den interessanten Büchern findet man in den Leseexemplaren immer wundervolle Grußkarten von diesen beiden Verlagen. Aus Zeitgründen habe ich leider keine Leseexemplare mehr beim Suhrkamp beantragt, aber es ist für mich tröstlich zu wissen, dass ich mit meinem Anliegen laut der Pressereferentin mich jederzeit wieder an den Verlag wenden könne. 

Und der Diogenes Verlag?
Wenn man nur noch Bücher aus diesem Verlag lesen würde, kann ich dafür meine Hand ins Feuer legen; man wäre für den Rest seines Lebens durchgehend mit vielen verschiedenen anspruchsvollen Büchern versorgt. Auch für die jüngeren Leser*innen unter uns. Keine Übertreibung. Und bei den gebundenen Buchbänden ist der Diogenes Verlag weiterhin nicht um gute Sprüche verlegen. Immer mit dem Passenden dabei. Wenn ich ein Diogenes-Buch aus seiner äußeren Hülle entkleide, purzelt mir eine Postkarte aus dem Inneren entgegen. Alle diese Karten werden wie ein Schatz in eine schöne Kiste gelegt. Und damit die Sprüche nicht nur Sprüche bleiben, packe ich immer mal wieder einen aus und es kommt vor, dass dieser Spruch sogar einen Platz in meiner Küche erhält. Viele sind fein humoristisch nuanciert. Wer den Diogenes Verlag kennt, der versteht den Witz aus jedem Spruch herauszuziehen. 

  

Werden Sie ein besserer Mensch ... Doch auch dieser Spruch zauberte ein Lächeln auf meinen Lippen. Aber gleichzeitig drückt er für mich genau das aus, zu was Bücher mir verhelfen sollen. Oftmals holen Bücher mich auch zu mir selbst zurück ... 

Für eine tolle und für die ganz besondere Zusammenarbeit mit der Pressereferentin Susanne Bühler, die mit ihrem Einsatz auch virtuell wunderbar uns Buchblogger*innen auf eine besondere Art und Weise betreut, möchte ich mich hierfür recht herzlich bedanken.

Frankfurter Buchmesse 2020
Leider ist sie dieses Jahr der Pandemie wegen ausgefallen. (Zur Pandemie habe ich am Schluss ein paar Worte geschrieben.) Virtuelle Buchmesse? Das hat bei mir nicht funktioniert. Ein Sonntag ist mir gelungen, zwei Lesungen zu verfolgen, über die ich schreiben wollte. Ich habe mir Notizen gemacht, habe sie aber nicht auf meinem Blog übertragen. Mir hat definitiv das Buchmessen-Feeling gefehlt.

Bloggertreffen mit Diogenes
Diogenes Verlag / Bloggertreffen über Zoom. Auch hier hatte ich mir viele Notizen zu den Neuerscheinungen für das Frühjahr 2021 gemacht und habe sie noch nicht auf meinem Blog übertragen, wo ich eigentlich sonst so fix bin mit meinen Aktivitäten dieser Art.

Ein Trost: Die Notizen gehen mir nicht verloren und werde sicher damit noch arbeiten, wenn auch in einer anderen Form. Zumindest nehme ich sie mit ins neue Jahr 2021.

Was ist mir nicht gelungen?
Alle meine literarischen Reisen mussten bedingt der Pandemie ausfallen. Sowie auch die Bildungsreise nach Auschwitz.

Leseprojekt Italien
Ich bin mit diesem Projekt regelrecht gescheitert, sodass ich damit wegen der stereotypen Themen und der meist durchgehend einfachen Charaktere nicht fortsetzen möchte. Um dieses Land aber nicht ganz aufgeben zu müssen, möchte ich mit Biografien weiter machen, weil sie viel differenzierter und glaubwürdiger ausfallen. Nicht alle belletristischen Bücher waren schlecht, aber die Themen, die darin behandelt wurden, waren (fast) immer dieselben. 

Was ist mir gelungen?
Das Marcel Proust – Leseprojekt habe ich zusammen mit Anne regelmäßig weiter verfolgt. Allerdings ist Anne zum Jahresende ausgestiegen, was ich natürlich verstehen kann, da sie zu Proust nicht dieselbe Bindung hat wie ich. Dennoch ein herzliches Dankeschön an Anne, dass sie mich für eine längere Zeit begleitet hat. Der Austausch mit ihr war immer sehr schön und bereichernd.

Weitere Leseprojekte
Ein paar weitere Leseprojekte zu bestimmten von mir favorisierten Autor*nnen konnten fortgesetzt werden. Das waren Bücher von Charles Dickens, Ian McEwan und John Irving.

Neue Leseforen auf Facebook
Es gibt auf Facebook so viele tolle Lesegruppen, für die ich neben meinem Beruf leider nicht die Zeit habe, mich überall einzubringen. Ich habe auch nicht immer die Power, mich mit anderen auszutauschen. Oftmals genieße ich auch die Stille und das Ausbrüten diverser Gedanken im Alleingang. 

Lesedrachen
Durch das Kennenlernen einer weiteren Lesefreundin bin ich in diesem Forum, das noch heimelig klein ist, nach bestem Willen aktiv.

Diogenes Backlistenlesen
Hier bin ich schon seit ein paar Jahren Mitglied, meist in stiller Form. Aber wenn es passt, kann ich mich auch recht aktiv einbringen, wie ich es dieses Mal mit einem Irving erlebt habe. Auch in einem Alleinposting-Gang. Eine wunderbare Erfahrung durfte ich in diesem Forum auch zum Ende des Jahres machen und habe hierbei neue und sehr interessante Menschen kennenlernen dürfen. Diese zahlreichen Posts haben mir geholfen, mir Owen näher zu bringen, da ich gewisse Gedanken und Eindrücke nicht einfach geschluckt habe, sie stattdessen dort festhalten konnte.

Leseforum außerhalb von Facebook
  Mojoreads

Leider werde ich mit dieser Plattform nicht so richtig warm, das aber auch an mir liegt, weil ich evtl. durch meinen Zeitmangel zu wenig aktiv bin, was ich selbst bedauere.

Schade finde ich allerdings, dass das Konzept dieses Forums von vielen Mitglieder*innen ideell nicht wirklich geschätzt und im schlimmsten Fall sogar missbraucht wurde. Durch die Kreditvergabe wurden viele Rezensionen gepostet, aber es kam wenig Austausch zustande. Eine ideelle Sache hat sich in eine materielle entpuppt. Das war sicher nicht im Sinne des wirklich gut gemeinten Administrator Volker Oppmann, der nun sein Konzept verändert hat. Kredite gibt es jetzt nur noch bis zu einer bestimmten Grenze. Ganz verwerflich fand ich, dass viele Rezensionen von anderen Seiten sogar gestohlen bzw. plagaiert wurden, um an Kredits dranzukommen.

Dennoch bleibe ich dem Forum weiterhin treu und fülle dort nach und nach meine virtuelle Bibliothek mit neuen Büchern auf, sobald ich sie ausgelesen habe.

Warum schreibe ich, wie ich schreibe?
Zu dieser Antwort hat mir John Irving mit seinem Buch Owen Meany verholfen.

Eine reine technische Sprache, wie ich oben schon geschrieben habe, liegt mir nicht, nimmt mir die Kreativität zu eigenen Gedanken. Mir kommt es in einem Werk hauptsächlich auf die Zwischenmenschlichkeit an. Ich möchte auf zwei Ebenen verstehen können, was ein*e Autor*in schreibt. Auf der kognitiv - intellektuellen Ebene und auf der Ebene der Feinfühligkeit. Wie fühlt sich der Gedanke an, den ein*e Autor*in durch jenes Werk in meinem Kopf hat entstehen lassen? Und so versuche ich im zweiten Akt des Verstehens in einem Buch eine Verbindung zu beiden Ebenen herzustellen.

Besondere Rückmeldung von Autor*innen?
Ich hatte in diesem Jahr eine Rückmeldung in kryptischer Form. Der Autor schickt mir einfach zwei Smilies, wovon der eine für mich erst ohne Bedeutung war. Was soll ich denn damit?, hatte ich mich gefragt. Smilies ersetzen die verbale Sprache nicht, sie unterstreichen sie lediglich. Er hatte mir einen lachenden Smilie geschickt, den Link meiner Rezension und darunter war der umgekehrte Smilie abgedruckt. Ich wusste nicht, was dieser Smilie sollte. Da schreibt ein Mensch so ein tolles Buch, und schickt mir Smilies, weil er wahrscheinlich nicht weiß, wie er sich mir gegenüber ausdrücken soll. Und erst am nächsten Morgen kam mir das Aha-Erlebnis. Er hatte mich mit seinem Buch gefoppt und alle meine Hypothesen wurden am Ende des Buches auf den Kopf gestellt. 18 Kilometer zur Arbeit eBike fahren war für mich ein Gewinn, da ich viel Zeit hatte, ohne abgelenkt zu werden, über sein zweites Smilie nachzudenken. Und das wäre sehr schade gewesen, wenn ich seine Antwort nicht verstanden hätte. Danke hierfür an den Autor.

Meine herausragende Freundschaft mit Anne-Marit Strandborg
Auch das Lesejahr 2020 war sehr schön mit Anne. Jede Menge buchige Themen haben wir telefonisch austauschen können. Leider befinden sich unsere Wohnorte zu weit auseinander. Aurich und Darmstadt  trennen fast 600 Kilometer. 

Zusammen haben wir die Proust - Briefe  gelesen, im Dezember eine Dickens-Weihnachtsgeschichte. Wir verfolgen zwar unterschiedliche Leseprojekte, auf die wir uns fokussieren, aber wir lernen trotzdem recht viel voneinander. Anne beschäftigt sich literarisch mit der ehemaligen DDR und aktuell ist sie seit Längerem mit Büchern über vergessene Autorinnen zugange. Anne habe ich vor zehn Jahren im Literaturforum kennengelernt, in dem auch ich sehr aktiv war, da ich noch keinen Blog hatte und auch Facebook war ich noch nicht beigetreten. Als ich das Forum aus bestimmten Gründen verlassen habe, baute ich mir vor acht Jahren meinen Blog auf, der im Mai 2021 neun Jahre alt wird. 

Liebe Anne,
ich danke Dir herzlichst für diese besondere Freundschaft. Ich wünsche Dir weiterhin viel Erfolg mit Deinen Leseprojekten und freue mich auf viele weitere Buchgespräche und über sonstige Themen, die auch das reale Leben uns bietet.  

Zum Abschluss ein paar Gedanken zur Pandemie, die unser aller Leben geprägt hat.
Auch die Buchbranche hat es stark getroffen
Fast überall wird nur noch über Covid 19 gesprochen. Dies hat sich schon auch zu einer Art Hype im Gesundheitswesen entwickelt. Die Sozialen Netzwerke sind voller Anfeindungen, auch die Journalisten bringen vielerorts nur noch recht einseitige Themenberichte. Daher halte ich mich in den Medien eher zurück, bevor man in eine rechte Schublade gesteckt wird. Ich möchte nur hier ein paar Zeilen darüber schreiben. Selbst viele Leseratten tauschen sich vermehrt darüber aus, wie ich heute von Anne mitgeteilt bekommen habe, die dieses Phänomen des Austauschs auch auf Twitter immer wieder beobachten würde. Die Buchthemen würden dadurch in den Hintergrund treten.

In so einer Phase ist es besonders wichtig, dass die Menschen zusammenhalten und sie sollen aufhören, sich gegenseitig anzufeinden. Corona ist besorgniserregend, ohne Frage, aber mit einer angstschürenden Politik kommt man auch nicht weiter, sie spaltet nur eine Gesellschaft und lenkt eher von den Ursachen der Problematik ab, und ich mich frage, ob das nicht auch gewollt ist? Klimawandel, gestörtes Ökosystem, Massentierhaltung, Abholzung von Regenwäldern, etc. Diese bereiten mir langfristig noch mehr Sorgen. Corona ist nicht die erste Pandemie. BSE, Vogelgrippe, Schweinegrippe ... Und jetzt der Ausbruch von Mutanten. Die Viren scheinen immer aggressiver zu werden. Wenn wir unsere gewohnte Lebensweise nicht hinterfragen und so weiter machen wie bisher, ist es sehr wahrscheinlich, dass bald mit neuen Erregern zu rechnen ist. Sorgen bereitet mir, wenn wir die Erlösung nur in die Impfungen setzen. Wir denken, der Impfstoff befreit uns von der Seuche. Das ist nur die eine Sichtweise. In Wahrheit müssen wir unser Leben ändern, denn die Natur wehrt sich, zeigt, wie krank sie durch uns geworden ist und sich die Krankheit auf uns überträgt. Eine Aufklärungskampagne dazu müsste gestartet werden. Welche Zukunft wollen wir unseren Kindern hinterlassen? Eine verbrannte Erde? Es wird längst Zeit für einen inneren und äußeren Lebenswandel. Alle haben sie Angst vor Covid. Aber wo bleibt die Angst vor einem ausgeraubten Planeten? Immer mehr jüngere Menschen erkranken an Krebs und sterben daran. Darüber werden keine Statistiken gezeigt. Das finde ich sehr gruselig und besorgniserregend ... 

Wieder zurück zur Buchthematik: Bedingt durch die Pandemie fällt die Leipziger Buchmesse auch 2021 zum zweiten Mal aus und es ist abzusehen, dass es auch die Frankfurter Buchmesse treffen wird. 

Meine Ziele für 2021
Ich würde gerne meine Leseprojekte weiter intensivieren. Ansonsten habe ich keine Ziele, da durch die Pandemie alles noch offen ist. Ich möchte bescheiden bleiben, da im Jahr 2020 viele Vorhaben ausgefallen sind. Eigentlich habe ich vor, Benedict Wells, der ein Lesungskonzert in Darmstadt am vierten November 2021 in der Centralstation gibt, zu besuchen. 

Neues Bewertungssystem, kleine Abweichung
Im möchte im neuen Jahr 2021 für die Lesehighlights zwei Extrapunkte vergeben. Zwölf bleibt weiterhin die volle Punktzahl, doch dieser kleine Obolus von zwei Punkten zusätzlich macht diese Werke zu Besonderheiten, zu Leseh
ighlights. Ich hatte 2019 das Problem, dass ich jede Menge 12-er Bewertungen hatte, und ich mich für die Highlights nicht entscheiden konnte. Und das fand ich sehr schade, denn es gab vereinzelt 12-er Bewertungen, obwohl mir die Bücher nicht besonders gut gefallen haben. 

Eigentlich hatte ich auch die Überlegung, ganz von der Bewertung abzukommen. Dann hatte ich mich doch wieder dafür entschieden, weil die Furcht vor unfairer Bewertung größer war, und ich Gefahr laufen würde, eine*r Autor*in nicht ausreichend gerecht werden zu können. Und dieses Punktesystem soll zu einer gerechteren Beurteilung verhelfen. Sie hilft , den Blick auf mehrere Bereiche auszuweiten. Es ist nur für mich eine persönliche Hilfe, denn eigentlich ist jede Bewertung sehr subjektiv, auch die vermeintlich objektive. Mehr nicht. 

Mein Fazit?
Trotz Leseabfall hatte ich insgesamt durch die besonderen inneren Erlebnisse ein wundervolles Lesejahr 2020. 

Foto: Pixabay
Verspätete Neujahrsgrüße? 
Tja, auch wenn der Jahreskalender jetzt schon Anfang Februar 
verzeichnet, möchte ich trotzdem noch die Gelegenheit nutzen, allen Verlagen, Autor*innen, Freund*innen, Bloger*innen und allen Besucher*innen ein erfolgreiches und ein gesundes neues Jahr 2021 wünschen. Uns allen wünsche ich auf jeder Ebene weiterhin viel Erfolg. Es bleibt noch genug übrig, um das Jahr mit diesen Wünschen weiter auszufüllen.

Herzlichst und beste Grüße

Mirella Pagnozzi

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Gelesene Bücher 2021: 02
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Aufhören, gegen den eigenen 
Strom zu schwimmen.

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere 
besser zu verstehen.


Donnerstag, 4. Februar 2021

Trutz Hardo / Das große Buch der Reinkarnation

Der Wissende weiß, dass er glauben muss. 
(Friedrich Dürrenmatt)


Wenn einer 75 Jahre alt ist, kann er nicht fehlen, dass er mitunter an den Tod denke. Mich lässt dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, dass unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein Fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die selbst unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.
(Goethe an Eckermann)

Ich bin gewiss, wie Sie mich hier sehen, schon tausendmal dagewesen und hoffe wohl noch tausendmal wiederzukommen.
(25.1.1813 Goethe an Johann Daniel Falk)  

Hier  geht es zu den Goethe - Zitaten, Zitate über Reinkarnation.

Klappentext  

Jede Krankheit, jedes Problem hat eine Ursache. Oft liegt diese Ursache in einem früheren Leben. Deckt man sie auf, wird sehr häufig eine spontane oder allmähliche Heilung erreicht. So heilt die aus Amerika stammende Rückführungstherapie oft dort, wo jede »klassische« Therapie versagt – von Beziehungsschwierigkeiten bis hin zu körperlichen Erkrankungen und Schmerzen wie auch zu Migräne, Asthma und andere psychosomatische Erkrankungen, Allergien, Ängste oder möglicherweise sogar Krebs.

Themen aus dem Inhalt sind: Müssen der Therapeut und/oder der Patient an Wiedergeburt glauben? Was vermag die Rückführungstherapie? Wie wird die Rückführungstherapie durchgeführt? Wie lässt sich die Rückführungstherapie mit anderen Therapien kombinieren? Was bedeutet ganzheitliches Heilen?

Dieses Handbuch ist nicht nur als Arbeitsbuch für Mediziner und Therapeuten gedacht. Es ist auch für all jene Menschen bestimmt, die körperliche, seelische oder beziehungsbedingte Probleme haben und sich auf der Suche nach Heilung befinden.

Autor*inporträt

Trutz Hardo gilt als der bekannteste Rückführungsexperte Deutschlands. Millionen kennen ihn aus dem Fernsehen, denn er hat verschiedentlich vor laufender Kamera selbst in Live-Sendungen Personen erfolgreich in ihre früheren Leben zurückgeführt.

Meine ersten Leseeindrücke
Sehr interessante Einblicke aus der Berufspraxis des Autors. Man muss sich dafür aber auch Zeit nehmen, das Gelesene sacken zu lassen. Ich lese schon darin seit ein paar Wochen. Interessant fand ich, dass in Kalifornien die ersten Rückführingstherapeuten entdeckt wurden. In den 1950er Jahren breiteten sie sich in ganz Amerika weiter aus, sodass immer mehr Psychotherapeuten diese in ihre Praxis haben miteinfließen lassen. Leider ist dies bei uns hier nicht sehr weit verbreitet. Viele somatische und psychische Erkrankungen könnten damit schneller geheilt werden. Auch das Gesundheitssystem könnte stärker entlastet werden, da die herkömmlichen Psychotherapien, wie ich es auch in meiner Berufspraxis erlebe, nicht wirklich den Heilerfolg bringen und sehr langwierig sind. Doch auch o. g.  Therapieform birgt ihre Grenzen, wie ich in der späteren Buchbesprechung noch schreiben werde.

Buchdaten

·       ASIN : 3898455491

·       Herausgeber : Silberschnur Verlag; New Edition (15. August 2017)

·       Sprache : Deutsch

·       Gebundene Ausgabe : 480 Seiten

·       ISBN-10 : 9783898455497

Hier geht es zur Verlagsseite von Silberschnur.

Hier geht es zu meiner Buchbesprechung.


Sonntag, 31. Januar 2021

Kim Thúy / Der Klang der Fremde (1)

Bildquelle: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein Büchelchen, das ich in einer kurzen Sprache erlebt habe. Kurz deshalb, weil die Sätze kurz waren, des Weiteren noch gepackt in vielen Absätzen und die Seiten waren nicht immer ganz gefüllt. Die Geschichte hat auf ihre Art Tiefgang, aber dennoch hat sie sich bei mir innerlich nicht wirklich festsetzen können. Das Buch habe ich seit ein paar Tagen ausgelesen, und es fällt mir schwer, mich an die Details zu erinnern. Ich habe überlegt, woran das gelegen haben könnte. Es lag an der Erzählstruktur. Die Episoden waren mir zu sprunghaft und zu abgehackt. Mir hat eine gewisse Chronologie gefehlt. Auch die Sprache war eine sehr kühle und distanzierte Sprache. Die Figuren waren für mich nicht ausreichend greifbar. Ich konnte keine innere Verbindung zu ihnen herstellen.

Und dennoch habe ich das Buch mit einer hohen Punktzahl votiert, weil ich im Nachklang mithilfe meiner Stichpunkte beim Durchblättern der Seiten nochmals durch viele interessante Kernstücke habe hervordringen können.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Heldin dieses Romans ist Kim, als sie 1978 im Alter von zehn Jahren zusammen mit ihrer wohlhabenden Familie aus Vietnam wegen des Kambodschanischen-vietnamesischen Krieges floh. Die Menschen flüchteten vor dem Kommunismus, der ihnen alles wegnahm, was sie besaßen.

Als die Kommunisten in Saigon einmarschierten, überließ meine Familie ihnen die Hälfte unseres Besitzes, denn wir waren verwundbar geworden. Eine Backsteinwand wurde im Haus errichtet, um zwei Adressen zu schaffen: eine für uns und eine für das Polizeirevier des Viertels. (35)

Die Angst vieler Menschen vor der Flucht über dem Meer war nicht so verbreitet wie die Angst vor den Kommunisten, und so nahmen diese Menschen alle Strapazen auf sich, sich hoffnungsvoll in abenteuerliche Aufbrüche zu begeben, um woanders eine neue Existenz aufzubauen. Das Erlebnis in einem Flüchtlingsschiff:

Wir waren erstarrt, eingeklemmt zwischen den Schultern der einen, den Beinen der anderen, gefangen in der Angst aller. Wir waren gelähmt. (11)

Die Flucht glückte trotz aller Nöte und Missstände bis nach Kanada ... In Quebec angekommen, wurde Kim in ihrem zweiten Aufenthaltsjahr auf eine Kadettenschule geschickt. Hier sollte sie auf Wunsch der Mutter zügig Französisch und Englisch lernen, damit sie schnellstmöglich in ihr neues Umfeld integriert werden könne, um am späteren gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt partizipieren zu können. Ihre Muttersprache musste sie aufgeben und stattdessen Englisch und Französisch lernen. Doch Kim verstummte zeitweise durch die Flucht.

Meine Mutter wollte, dass ich spreche, ich sollte so schnell wie möglich Französisch lernen und Englisch, denn meine Muttersprache war zwar nicht lächerlich, aber nutzlos geworden. (25)

Kim schafft es aber, in ihrer neuen Heimat erwachsen zu werden. Sie selbst kreierte eine eigene Familie. Sie hat zwei Söhne, Pascal und Henri, während einer davon Autist ist. Sie möchte ihren Kindern ein Stück Geschichte ihres Herkunftslandes vermitteln …

… um ein Stück Geschichte in Erinnerung zu bewahren, das nie Eingang in die Schulbücher finden wird. (45)

Diese flüchtenden Menschen träumen alle einen amerikanischen Traum mit westlichen Werten und Lebensstandards ...

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Eine Szene in Quebec.

Madame Girard hatte meine Mutter als Haushälterin eingestellt, ohne zu wissen, dass sie bis zu ihrem ersten Arbeitstag nie einen Besen in der Hand gehabt hat. (84)

Das ist für mich eine Degradierung ihrer beruflichen und sozialen Herkunft.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Gefallen hat mir, dass der Familie die Flucht geglückt ist und sie in Kanada eine neue Heimat hat finden können, wenn sie auch auf das Anderssein aufmerksam gemacht wurde und man sie daran erinnerte, dass sie als ehemalige Asiat*innen nicht wirklich zur kanadischen Gesellschaft dazugehören würde. 

Zur gleichen Zeit hatte mein Chef einen Artikel aus einer Montrealen Zeitung ausgeschnitten, in dem darauf gepocht wurde, dass das >Volk Quebecks< weiß sei und ich mit meinen Schlitzaugen automatisch einer anderen Kategorie angehörte, obwohl Quebec mir meinen amerikanischen Traum geschenkt und mich dreißig Jahren lang beherbergt hatte. (92)

Meine Gedanken dazu
Diese Probleme hat nur die Spezies Mensch, die Menschen anderer Nationen bewusst / unbewusst als Fremde, als Exoten aussortiert. Tiere und Pflanzen kennen das nicht und können sich problemlos in neue Gegenden beheimaten. Ich denke hierbei an Stefano Mancusos Buch, wie Pflanzen, die eigentlich im Gegensatz zu uns Menschen als sesshaft zählen, es dennoch schaffen mithilfe anderer Lebewesen über ganze Ozeane zu migrieren und sich auf neue Kontinente zu verpflanzen; Gewächsarten, die wir heute als unsere heimischen Pflanzen betrachten. Bei vielen dieser sog. heimischen Pflanzen ahnt man nicht mal, dass sie ihren eigentlichen Ursprung einst auf einem anderen Kontinent hatten. Warum gelingt es aber Menschen nicht, Menschen mit anderer Hautfarbe … als einen Artgenossen zu betrachten? Auch bei uns in Deutschland gibt es exotische Pflanzen, die mittlerweile heimisch sind. Zum Beispiel die deutsche Kartoffel. Warum wird die deutsche Kartoffel nicht auf ihre Wurzeln runtergestuft, während ein*e Migrant*in keine Chance hat, sich jemals als Deutsche*r bezeichnen zu dürfen? Mal ganz blöd gefragt: Sind uns die Kartoffeln ähnlicher als ein Mensch eines anderen Landes?  Fragen, an denen ich jedes Mal verzweifeln könnte, wenn Menschen anderer Länder immerzu auf die Wurzeln ihrer Vorfahren reduziert werden. 

Eine andere Sichtweise hierbei zu gewinnen wäre wohl einer menschlichen Entwicklung geschuldet, die bei jedem Zeit und noch mehr Zeit benötigt. Sie beginnt sich erst bei einem Einzelnen zu formen und mit der Zeit werden es immer mehr werden, bis ein Kollektiv, somit eine ganze Gesellschaft, von diesem Ideal getragen wird, mit dem Wissen, dass wir in einer Vielfalt alles Menschen einer einzigen Menschenrasse sind.

Doch glücklicherweise stehe ich nicht mehr alleine mit meiner Meinung da. Der Rassenbegriff soll lt. dem Darmstädter Echo vom Dez. 2020 aus dem Grundgesetz gestrichen werden. 

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Anh Phi und Tante Sechs. Tante Sechs verhalf Kim dazu, ihren eigenen Traum zu träumen. (Tante Sechs ist das sechste Kind in ihrer Familie, für Kim dadurch die sechste Tante).

Als ich fünfzehn wurde, schenkte mir meine Tante Sechs, die damals in einer Hühnerverwertungsfabrik arbeitete, eine viereckige Aluminium-Teedose mit Bildern von chinesischen Feen, Kirschbäumen und roten, goldenen schwarzen Wolken. Im Tee versteckt waren zehn gefaltete Zettel, auf die Tante Sechs je ein Metier, ein Beruf, einen Traum für mich aufgeschrieben hatte: Journalistin, Kunsttischlerin, Diplomatin, (...). Dies Geschenk lehrte mich, dass es andere Berufe gab als Arzt und dass ich meinen eigenen Traum träumen durfte. (89)

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine. Ich habe eher eine distanzierte Haltung zu den Figuren entwickelt, dies wohl auch an dem Schreibstil der Autorin liegt.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel 
Hat mich beides sehr angesprochen. Der Titel konnte für mich schlüssig werden. Nicht nur, wie sich die Fremde anfühlt, sondern auch welchen Klang eine Flucht haben könnte, fand ich auch spannend.

Zum Schreibkonzept
Der Roman ist auf 159 Seiten gepackt. Zu Beginn gibt es eine kleine Widmung Für die Menschen im Land. Es gibt keine Kapitel, und auch keine richtige Chronologie, wie ich oben schon geschrieben habe. Dennoch werden neue Kapitel mit den ersten Worten mit Großbuchstaben eingeleitet. Teilweise sind die Kapitel sehr kurz und füllen mit einem Absatz nicht mal die Hälfte der Seite.

Der Schreibstil ist eher in Tagebuchform und / oder im Telegrammstil verfasst. Die Sprache wirkt recht distanziert und ist in der Ichperspektive der erwachsenen Kim erzählt.

Insgesamt passt ihr Schreibstil eher in eine Dichtersprache, da sie manchmal wie wunderschöne und nachdenkenswerte Poesie klingt.

UND WO EINE ausgestreckte Hand keine Geste mehr ist, sondern ein Moment der Liebe, der bis in den Schlaf hinein dauert, bis zum Erwachen, bis in den Alltag. (159)

Meine Meinung
Viele Episoden stimmten mich nachdenklich. Dass Menschen durch den Anpassungsdruck und den Druck der Assimilation gezwungen werden, im neuen Land ihre Muttersprache aufzugeben, weil sie nicht mehr gebraucht wird und damit nutzlos geworden ist, ist für mich schwer zu verstehen. Für was? Diese Menschen werden in der neuen Heimat nie wirklich dazugehören, selbst wenn sie sich assimiliert haben. Einige kritische Beispiele sind in dem Buch zu finden.

Doch welchen Lebensstil hätte Kim geführt, wäre sie in Vietnam geblieben? Welche Perspektiven hätte sie gehabt? Traditionen eines Landes übernehmen zu müssen, und die Pflicht, die Fortsetzung ihrer Mutter zu sein? Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie groß dieser Amerikanische Traum nur sein kann ... 

Und für immer der Schatten ihre Cousine Sao Mai zu sein?

WÄHREND MEINER GANZEN KINDHEIT wünschte ich mir insgeheim, die Tochter von Onkel Zwei zu sein. Seine Tochter Sao Mai war seine Prinzessin, auch wenn er manchmal tagelang vergaß, dass es sie gab. Sao Mai wurde von ihren Eltern verehrt wie eine Primadonna. Onkel Zwei gab viele Feste bei sich zu Hause. (...). Er schenkte ihr nur gelegentlich zwei Minuten Aufmerksamkeit, doch das war genug, um meine Cousine mit einer inneren Kraft zu versehen, die ich nicht hatte. Ganz gleich, ob ihr Magen leer oder voll war, Sao Mai hatte nie Probleme, ihre großen Brüder und mich herumzukommandieren. (57)

Das Für und Wider spiegelt uns die Autorin immer wieder, aber der Gewinn einer Migration wiegt stärker hervor. Kims Kinder tragen keine Namen ihrer Vorfahren, sondern westliche Namen und zeigt damit eine Abnabelung von ihren Ahnen und damit die Entwicklung einer neuen Identität, die die Autorin durch die Flucht ins neue Land hat in sich entstehen lassen.  

Mein Fazit
Auf jeden Fall ein lesenswertes Buch, das Einblicke gibt in Familien, die vor dem Krieg in andere Welten fliehen müssen, und sich woanders eine neue Existenz aufbauen.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch eine Lesepartnerin P. G. auf Facebook. In einer Zoomrunde wird das Buch am kommenden Dienstagabend gemeinsam besprochen.

Meine Bewertung 

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (sachlich, fantasievoll, distanziert)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
1 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung: Ungebunden
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

11 von 12 Punkten

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Zoomrunde, Di. 03.02.2021; 19:00 Uhr bis 21:30 Uhr

Teilnehmerinnen: Hana, Petra, Christa und ich. 

Petra und Hana sind mir durch das Facebook-Bücherforum Lesedrachen bekannt. Ich gebe nur ein paar wenige Fakten wieder, nicht die gesamte Zoom-Runde.

Ich fand die ganze Diskussion sehr inspirierend und wir waren uns alle einig, dass die Sprache wunderschön ist und das Buch trotz schlanker Linie recht gehaltvoll und tiefgründig ist. 

Auch darüber, dass man das Buch nicht in einem Rutsch weglesen könne, sondern die vielen kurzen Geschichten in sich wirken lassen müsse. 

Interessant war auch, dass jeder andere Aspekte aus dem Buch gezogen hat. Es gab viele übereinstimmende Szenen, aber es gab auch Szenen, die jeder unterschiedlich wahrgenommen habe, nach dem Motto: Vier Augenpaare sehen mehr als ein Augenpaar. 

Meine anderen drei Mitdiskutantinnen fanden die vielen ernsten Themen wie Flucht, Krieg und Migration sehr leise erzählt. Das heißt, dass viele Vietnamesinnen einfach ihr Schicksal in die Hand nehmen, ohne zu klagen und in der Lage seien, das Beste daraus zu machen.

Bei Hana fand ich faszinierend, dass sie sogar bei der Zubereitung einer Mahlzeit regelrecht die Suppe hat riechen können.

Migration und das Ankommen: Eine prozessuale Entwicklung, die bis in die nächste Generationen andauern könne. Wobei Kim Kanada als ihre Wahlheimat bezeichnet habe. Dennoch sei es möglich, mehrere Heimaten zu pflegen. Der Begriff Heimat / Heimaten in der Pluralform gibt es noch nicht sehr lange. Wo wir uns nicht alle einig waren: Für mich und Petra schien es, als sei Kim in Kanada angekommen. Sie habe es geschafft, sich eine neue Identität und eine neue Heimat aufzubauen. Ihre beiden Kinder tragen westliche Namen ... Hana war davon nicht ganz überzeugt. 

Auch waren wir uns einig, dass man das Buch nicht mit einem westlichen Blick lesen dürfe. Dazu hat Hana einen schönen Gedanken formuliert: Eine Frau auf dem Reisfeld könne genauso glücklich sein wie eine westliche Frau in einem anderen Beruf, der bei uns angesehen sei. Denn die Frage kam uns auf, was ist mit den Menschen, die im Land geblieben und nicht geflüchtet seien? Wir hatten das Beispiel von Kims Cousine Sao Mai, die in Vietnam geblieben ist und glücklich auf uns wirkte trotz der Einfachheit an Leben. Wir waren uns einig, dass auch diese Menschen das Beste aus ihrem Leben machen würden, um auf ihre Weise glücklich zu leben, denn Glück sei nicht an westlichen Maßstäben zu messen. 

Ich war die einzige, die eine Struktur vermisst hat. Dadurch haben mir Details aus der Familie einfach gefehlt. 

Ich war auch die einzige, die die Sprache als zu kühl und distanziert beschrieben hatte.

Insgesamt erhielt das Buch von uns allen eine recht gute Bewertung ... 

Petra hat auch eine Rezension verfasst, siehe hier

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Gelesene Bücher 2021: 02
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese in meinem langsamen Tempo
mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen, Tiere und auch mich
besser zu verstehen.

 

Sonntag, 24. Januar 2021

Kim Thúy / Der Klang der Fremde

 Klappentext  

Das Exil als Chance und Glück

Saigon, 1978: Als Zehnjährige muss Kim Thúy mit ihren Eltern aus Vietnam fliehen, Kanada wird ihre neue Heimat. Die Fremdheit der neuen Welt überwältigt das Mädchen – sie erschließt sich ihre Umgebung über Klänge, Farben und Gerüche. In unvergesslichen Bildern geht Kim Thúy dreißig Jahre später dieser sinnlichen Spur ihres Lebens nach, erzählt von Vertreibung und Neubeginn, von Schmerz und Lust der Erinnerung und dem täglichen Glück, sein Leben zu wagen.

Autor*inporträt

Kim Thúy wurde 1968 in Saigon geboren und floh als Zehnjährige mit ihrer Familie nach Kanada. Sie arbeitete als Übersetzerin und Rechtsanwältin, als Gastronomin, Kritikerin und Moderatorin für Radio und Fernsehen. Als Autorin wurde sie 2010 mit ihrem in zahlreiche Sprachen übersetzten Roman ›Der Klang der Fremde‹ bekannt. Kim Thúy lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Montreal.

Meine ersten Leseeindrücke

Eine sehr ausdrucksvolle und fantasievolle Sprache. Wir wissen in unserem Land zu wenig zu schätzen, was wir materiell und ideell alles besitzen. Selbst Frieden ist Luxus. Würden die Menschen hier dies mehr zu schätzen wissen, würden sie sicher viel respektvoller miteinander umgehen. Ich befinde mich derzeit auf der Seite 62.

Buchdaten

·       ASIN : 3423144157

·       Herausgeber : dtv Verlagsgesellschaft (19. Juni 2015)

·       Sprache : Deutsch

·       Taschenbuch : 160 Seiten, 9,90 €

·       ISBN-10 : 9783423144155

Hier geht es zur Verlagsseite von dtv.

Hier geht es zu meiner Buchbesprechung.

 

Sonntag, 17. Januar 2021

Sy Montgomery / Einfach Mensch sein - Von Tieren lernen

 Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 


Ein wundervolles Buch, das ich vor ein paar Tagen ausgelesen habe. Meine ersten Leseeindrücke haben sich bis zur letzten Seite halten können, sodass ich vorab zwei weitere Werke von der Autorin mir bestellt habe, die ich am Ende noch vorstellen werde.

Das Schöne an der sehr feinfühligen Autorin ist, dass sie ihre Tierliebe nicht auf die üblichen Tiere wie Hunde und Katzen, etc. begrenzt, sondern sie sogar auf viele Exoten ausweitet. Ich konnte viel von ihr lernen, speziell was ihre Liebe auch zu Spinnen und Insekten betrifft.

Ein Buch über den respektvollen Umgang mit anderen Lebewesen, die uns, wenn wir es zulassen, so auch die Autorin, vom inneren Wesen her recht ähnlich sind. 

An einem einzigen Beispiel habe ich durch die Autorin das Bedürfnis verspürt, auch über meine eigene Erfahrung mit meinen Vierbeinern zu schreiben. Seelenverwandte? Finde ich draußen in der realen Welt unter den Menschen sehr wenige. Und dabei gibt es sie sehr wohl. Das hinterlässt für mich einen tröstlichen Charakter.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Sy Montgomery erzählt in einem narrativen Schreibstil von ihrem Leben mit Tieren, dessen Weichen schon recht früh entgegen der Mutter in ihrer Kindheit gelegt wurden. Während ihre Mutter aus ihr ein adrettes Mädchen zu formen versucht hatte, geht sie dennoch ihren eigenen Weg. Sie fühlt sich zu Tieren dermaßen hingezogen, dass sie diese zu ihren einzigen Spielgefährten machte. Begonnen hatte alles mit einer Scotchterrier – Hündin namens Molly. In dieser Kindheit träumte sie schon ihren Traum, aus ihrem Umfeld auszuziehen, um mit den Tieren in der Wildnis leben zu können. Obwohl ihre gut situierten Eltern mit ihr andere Pläne hatten, begannen ihre Träume mit 26 Jahren Gestalt anzunehmen, indem sie beschloss, ihren eigentlichen Beruf als Journalistin aufzugeben und in die Tierforschung zu gehen, um das Verhalten verschiedener Tierarten zu ergründen.

Vorbilder fand sie schon in ihren Kinderbüchern. Sie las Jane Goodall, die berühmte Primatologin und Verhaltensforscherin. Weg von den verborgenen Beobachtungen, und rein in die Sukzessive, um auf die Tiere zuzugehen und deren Verhalten aus der Nähe zu beobachten. Der Terminus  wäre  hierzu Empirie bzw. Feldforschung. Dies waren Goodalls Methoden, die Montgomery übernommen und in ihre Arbeit integriert hatte. 

Sy Montgomery bereiste dadurch mehrere Kontinente, um ihre Forschungsprojekte anzugehen. Doch sie führte als Tierforscherin auch ein Privatleben mit eigenen Tieren wie Hühner, Border – Colly, ein Schwein etc. und auch alle ihre Tiere bekamen einen Namen ... Doch selbst die Goliath – Wolfsspinne aus der Forschung erhielt den Namen Clarabelle und der Oktopus hieß Octavia.

Ihre eigenen Tiere nahm sie bei sich auf, die gehandicapt waren …

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Mir hat nicht gefallen, dass Sy Montgomery von den Eltern enterbt wurde, nachdem sie einen Mann ihrer eigenen Wahl geheiratet hat. Ihr Mann ist Schriftsteller von Beruf und in den Augen ihrer Eltern nicht angesehen genug. Weitere Beispiele hierzu siehe unten.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Es waren jede Menge Szenen, doch bei einer Szene musste ich an Goethe denken, der das Buch über die Wahlverwandtschaft geschrieben hat, weshalb ich diese Szene unbedingt aufschreiben möchte, denn man kann durchaus auch Tiere zu Wahlverwandten machen, wenn man erkennt, dass diese Geschöpfe wie man selbst auch beseelte Wesen sind.

Die Autorin selbst hat sich mehr zu Tieren als zu Menschen hingezogen gefühlt. Wie ich oben schon geschrieben habe, war ihre Zuneigung zu Tieren schon mit der Geburt mitgegeben. Ihren damaligen ersten Hund erhielt sie im Alter von drei Jahren. Diese Hündin bezeichnete sie als ihre Schwester. Deshalb die Bezeichnung Wahlverwandtschaft, die mich an Goethe zurückdenken ließ, in der die Seelentiefe bei der Wahlverwandtschaft stärker ausgeprägt sein kann als bei der Blutsverwandtschaft. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die innere Entwicklung eines Menschen nicht unbedingt von der Erbmasse abhängig gemacht werden muss. Natürlich ist die physische Anatomie davon ausgenommen. Obwohl man die Gene der Eltern in sich trägt, ist man dennoch mit völlig anderen Vorlieben und Bedürfnissen ausgestattet.

Nach einem bewegten Leben voller Umzüge erdete er mich. Und nachdem meine Eltern mich verstoßen hatten, war es Christopher, der aus einem bunten Gemisch von Wahlverwandten eine richtige Familie entstehen ließ, die nicht den Genen zu verdanken ist, sondern allein auf Zuneigung beruht. (77)

Welches Einzelkind kommt schon auf die Idee, sein Haustier als ein Geschwister zu betrachten?

Viele kleine Mädchen vergöttern ihre älteren Schwestern. Mir ging es nicht anders. Nur dass meine ältere Schwester eine Hündin war. Hilflos stand ich da, in dem Rüschenkleidchen und den Spitzensöckchen, in die meine Mutter mich gesteckt hatte. Ich wollte sein wie Molly: wild. Unerschrocken. Nicht zu halten. (15)

Probleme bereitete es der Mutter, da ihr sog. Prinzessinnenkind sich zu einem Wildfang entpuppte.

Dass andere Menschen meine Vorstellung von unserer Beziehung nicht teilten, merkte ich erst, als meine Mutter anfing, uns beide zu zähmen. (27)

Die Autorin hat schon recht früh begriffen, dass Tiere eine Persönlichkeit besitzen, Individuen sind, auf ihre Lebensweise bezogen sogar denken können und auch Gefühle haben. Was sie als Kind unbewusst schon wusste, schärfte sich in ihr durch die Tierforschung noch verstärkt ein. Sie schaffte es sogar mit Spinnen, Quallen … eine Beziehung aufzubauen.

Nähere Bekanntschaft mit jemand aus einer anderen Spezies zu machen, bereichert einen Menschen auf erstaunliche Weise. Alle Tiere, denen ich - und sei es nur flüchtig - begegnet bin, haben mein Leben verändert. (...) Ich (kann) davon erzählen, dass es immer und überall Lehrmeister gibt, mit vier, zwei, acht oder auch gar keinen Beinen, einige mit Skelett, andere ohne. Alles, was wir tun müssen, ist, sie als Lehrer zu erkennen und uns zu öffnen für ihre Wahrheiten. (10f) 

Sehr anschaulich fand ich auch das Exempel mit den Emus, die Montgomerys erstes Forschungsprojekt in Australien abgaben. Ich fand es phänomenal, wie diese Tiere mit ihr auf einer nonverbalen und telepathischen Art kommuniziert haben. In Hawaii und Kalifornien untersuchte Montgomery sogar die Tiersprachen. Und hier, bei den Emus, erschien es mir so, als hätten diese Tiere in ihren Gedanken gelesen, ihre Fragen aufgeschnappt und sie die Tierforscherin in eine Richtung gelenkt haben, die Montgomery zu Antworten verhalfen. Außerdem erinnerten mich ein paar Szenen dazu an den italienischen Biologen Stefano Mancuso, der über die außergewöhnliche Reise der Pflanzen geschrieben hat.

Sind Emus möglicherweise Samenverbreiter? Welche Pflanzen fressen sie? Können die Samen aus den Emus-Ausscheidungen besser keimen? (2019, 42) 

Die Antwort darauf findet man auch bei Mancuso, welchen Einfluss Tiere bei der Migration von Pflanzen haben. Fand ich genial, sie hier nochmals zu finden.

Hier im Nebelwald hatte ich jene Urkraft wiederentdeckt, die uns geistig und körperlich gesund erhält: ungebrochenen, köstlichen Lebenshunger. (140)

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Sy Montgomery und ihr Gatte Howard.

Welche Figur war mir antipathisch?
Das war mir die Mutter, die ich aber nicht verurteilen möchte. Sie konnte eben nicht aus ihrer Haut und versuchte nur ihr Prestigeverhalten an ihre Tochter weiterzugeben, damit diese ein bestmögliches Leben mit allen Privilegien führen könne. Irgendwie tun doch die meisten Menschen in allen Kulturkreisen dasselbe. Gesellschaftliche Normen und Regeln einhalten, um dazuzugehören, um von der Gesellschaft nicht ausgestoßen zu werden. Den Maßstab an Werten an die nächste Generation weiterzuvererben, sehen viele in der Erziehung als ihre Hauptaufgabe an. Glücklicherweise gibt es aber Menschen, die man nicht einfach in eine vorgegebene Richtung erziehen kann. Still oder rebellisch, egal wie, gehen sie doch ihren ureigenen Weg, der von ihrer Anlage her für sie bestimmt ist. Wem es nicht sofort gelingt, erreicht sein eigenes Leben über Umwege. Aber besser Umwege gehen, als kein eigenes Leben zu haben. 

Meine Identifikationsfigur
Sy Montgomery. Sie hat alles für ihre Tiere getan. Hat mich an meinen Momo erinnert, den ich als einen heimatlosen Kater zu mir genommen habe. Er war traumatisiert und litt unter Verlustängsten. Dadurch bin ich nicht mehr in den Urlaub gefahren. Zehn Jahre lang. Und viele konnten nicht verstehen, dass ich wegen eines Tieres auf meine Reisen verzichtet habe. Immerzu haben sie mich bezichtigt, dass das nur eine Ausrede sei, und meinten, dass mein Kater nur vorgeschoben wäre, dass mir die Reisen in Wirklichkeit nicht wichtig genug seien. Das waren aber alles Menschen, die selbst keine Haustiere hatten. Nun lese ich Montgomery und mir fällt es wie Schuppen vor den Augen. Nein, das waren keine Ausreden, mein Kater war nicht vorgeschoben. Bekanntlich hätte die Autorin in meiner Lage dasselbe getan, da auch sie für ihre Tiere Bürden auf sich genommen hat. Und sie hätte mir geglaubt, dass ich aus Liebe zu meinem Kater gerne auf meine Reisen verzichtet habe. Warum müssen Menschen andere Lebensweisen immer so kritisch hinterfragen und zerreden? Im Grunde genommen verstehen sie es nicht. Alle Jahre diese störenden wiederkehrenden Fragen in saisonalen Urlaubszeiten wie z. B. Bist du weggefahren? (…) Und jedes Jahr kam dieselbe peinliche absagende Antwort. Und schon war ich abgeschrieben. Man hat sich lieber mit anderen ausgetauscht, die große Reiseerlebnisse aus ihren Urlaubsorten mitbrachten. Wegen der Tiere auf etwas zu verzichten? Uns werden häufig anthropomorphe Verhaltensweisen vorgeworfen in der Form, dass wir Tiere vermenschlichen würden. Das mag bei einigen Menschen wohl der Fall sein, die mit ihren Haustieren irgendeine innere Lücke kompensieren. Aber echte Tierliebe hat nichts damit zu tun. Denn in der Tierliebe geht es ausschließlich darum, den Tieren ein glückliches und erfülltes Leben zu ermöglichen. Dass Tiere den Menschen bei guter Behandlung mit einer tiefen, freundschaftlichen Geste bereichern, ist außer Zweifel. Selbst mit einem Oktopus erlebte die Autorin eine besondere Beziehung, weil sie fähig war, sich ganz auf dieses Tier einzulassen.

Wer Tiere nur als Lückenfüller benutzt, ist zu solch einer Fähigkeit schon gar nicht in der Lage.

Cover und Buchtitel  

Auf dem gebundenen Cover sind die Hühner abgebildet, die Montgomery von einer Freundin geschenkt bekam. Es waren acht Hühner, die sie als Die Ladys bezeichnet hatte. Das Cover auf dem Taschenbuch trägt einen Hund, der Tess darstellen müsste.

Der Buchtitel hält auch, was er verspricht.

Bald erkannte ich, dass ich in meinem Bemühen, einfach Mensch zu sein, noch viele Lektionen zu lernen hatte. (192) 

Ihre Lehrmeisterinnen waren die Tiere. Selbst von dem kleinen Ferkelchen namens Christopher Hogwood, das bei ihr und ihrem Mann bis zu seinem Lebensende glücklich leben durfte, konnte Montgomery Weisheiten entlocken:

Er war ein großer dicker Buddha, der uns lehrte zu lieben, was das Leben uns gibt. (66)

Sich innerlich öffnen können ist dabei eine Kunst, denn …

(U)nsere Welt bietet eine unermessliche Vielfalt, welche die menschlichen Sinne kaum zu erfassen vermögen. Das hat mir (auch) die Freundschaft mit einem Oktopus gezeigt. (173)

Zum Schreibkonzept
Eine Kurzwidmung zu Beginn des Buches ist enthalten. Anschließend folgt ein Inhaltsverzeichnis. Weiter geht es mit einer recht interessanten Einleitung, die sehr vielversprechend ist. Daraufhin folgen elf weitere Kapitel. Das Buch endet mit einem Nachwort und einer Danksagung. Mit jedem neuen Kapitel ist eine Illustration mit dem betreffenden Tier und einem Spruch abgebildet. Weitere Illustrationen findet man auch mitten in den Geschichten. Sehr schön gemacht. Der Schreibstil ist ein empathischer. Hier bestätigt mir die Autorin, dass die emotionale Intelligenz genauso wichtig ist wie die kognitive. Sy Montgomery ist nicht einseitig gebildet, Kognition oder Emotion, sondern als Wissenschaftlerin auf beiden Ebenen, sowohl Kognition als auch Emotion. Welch ein enormer Reichtum.

Das Nachwort ist von Donna Leon, die das ganze Buch nochmals zusammengefasst hat. Warum eigentlich?

Meine Meinung
Ich habe dieses Buch sehr genossen zu lesen. Nicht nur was das Zwischenmenschliche im Zusammenleben mit den Tieren betrifft, spannend fand ich auch das Fachwissen, an dem uns die Autorin ebenso teilhaben lässt. Gerade was die Berichte zu anderen Tierarten betreffen, habe ich viel Neues dazulernen können.

Mein Fazit
Mein Fazit schließe ich mit einem Zitat:

Um das Leben jeglicher Tiere zu verstehen, braucht man nicht nur ein gehörig Maß an Neugier, Wissen und Verstand. (...) Ich würde nicht nur mein Gehirn öffnen müssen, sondern auch mein Herz. (57)

Wer also Tiere verstehen will, muss es mit Herz und Verstand tun. Gilt aber auch im Umgang mit Menschen im eigenen Land und in anderen Ländern.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Nun, eigentlich war es Tina, die mir dieses Buch empfohlen hat. Sie selbst besitzt die Taschenbuchausgabe. Ich kannte die Autorin Sy Montgomery bisher überhaupt noch nicht. Und bin der Tina unsagbar dankbar für diesen Wink, denn durch die Autorin verstehe ich mein Verhalten zu meinen Tieren nun viel besser, sodass ich mir vorgenommen habe, die Autorin mit zu meinen Lesefavoriten anzureihen und habe vor, alle Bücher von ihr nach und nach zu lesen. Eine wunderbare Möglichkeit, mein Leseprojekt Den Tieren eine Stimme geben mit dieser Autorin weiter zu füllen.

Mit der Autorin setze ich in den nächsten Monaten mit zwei weiteren Werken fort. Ich habe mich für die Bücher entschieden, die die Exoten behandeln, weil ich so gerne mehr dazulernen möchte. Später schaffe ich mir noch die Bücher zu dem Schwein Chris, zu ihren Hunden und zu den Katzen an. 


Meine Bewertung / 14 Punkte

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Empathisch und sachlich)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere in Mensch und Tier
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
2 Punkte: Anregung zur Vertiefung, zum weiteren Erforschen und zur Erkundung
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

2 Sonderpunkte wegen des Lesehighlights.

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Gelesene Bücher 2021: 02
Gelesene Bücher 2020: 25
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Lesen mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.