Sonntag, 31. Januar 2021

Kim Thúy / Der Klang der Fremde (1)

Bildquelle: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Ein Büchelchen, das ich in einer kurzen Sprache erlebt habe. Kurz deshalb, weil die Sätze kurz waren, des Weiteren noch gepackt in vielen Absätzen und die Seiten waren nicht immer ganz gefüllt. Die Geschichte hat auf ihre Art Tiefgang, aber dennoch hat sie sich bei mir innerlich nicht wirklich festsetzen können. Das Buch habe ich seit ein paar Tagen ausgelesen, und es fällt mir schwer, mich an die Details zu erinnern. Ich habe überlegt, woran das gelegen haben könnte. Es lag an der Erzählstruktur. Die Episoden waren mir zu sprunghaft und zu abgehackt. Mir hat eine gewisse Chronologie gefehlt. Auch die Sprache war eine sehr kühle und distanzierte Sprache. Die Figuren waren für mich nicht ausreichend greifbar. Ich konnte keine innere Verbindung zu ihnen herstellen.

Und dennoch habe ich das Buch mit einer hohen Punktzahl votiert, weil ich im Nachklang mithilfe meiner Stichpunkte beim Durchblättern der Seiten nochmals durch viele interessante Kernstücke habe hervordringen können.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Heldin dieses Romans ist Kim, als sie 1978 im Alter von zehn Jahren zusammen mit ihrer wohlhabenden Familie aus Vietnam wegen des Kambodschanischen-vietnamesischen Krieges floh. Die Menschen flüchteten vor dem Kommunismus, der ihnen alles wegnahm, was sie besaßen.

Als die Kommunisten in Saigon einmarschierten, überließ meine Familie ihnen die Hälfte unseres Besitzes, denn wir waren verwundbar geworden. Eine Backsteinwand wurde im Haus errichtet, um zwei Adressen zu schaffen: eine für uns und eine für das Polizeirevier des Viertels. (35)

Die Angst vieler Menschen vor der Flucht über dem Meer war nicht so verbreitet wie die Angst vor den Kommunisten, und so nahmen diese Menschen alle Strapazen auf sich, sich hoffnungsvoll in abenteuerliche Aufbrüche zu begeben, um woanders eine neue Existenz aufzubauen. Das Erlebnis in einem Flüchtlingsschiff:

Wir waren erstarrt, eingeklemmt zwischen den Schultern der einen, den Beinen der anderen, gefangen in der Angst aller. Wir waren gelähmt. (11)

Die Flucht glückte trotz aller Nöte und Missstände bis nach Kanada ... In Quebec angekommen, wurde Kim in ihrem zweiten Aufenthaltsjahr auf eine Kadettenschule geschickt. Hier sollte sie auf Wunsch der Mutter zügig Französisch und Englisch lernen, damit sie schnellstmöglich in ihr neues Umfeld integriert werden könne, um am späteren gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt partizipieren zu können. Ihre Muttersprache musste sie aufgeben und stattdessen Englisch und Französisch lernen. Doch Kim verstummte zeitweise durch die Flucht.

Meine Mutter wollte, dass ich spreche, ich sollte so schnell wie möglich Französisch lernen und Englisch, denn meine Muttersprache war zwar nicht lächerlich, aber nutzlos geworden. (25)

Kim schafft es aber, in ihrer neuen Heimat erwachsen zu werden. Sie selbst kreierte eine eigene Familie. Sie hat zwei Söhne, Pascal und Henri, während einer davon Autist ist. Sie möchte ihren Kindern ein Stück Geschichte ihres Herkunftslandes vermitteln …

… um ein Stück Geschichte in Erinnerung zu bewahren, das nie Eingang in die Schulbücher finden wird. (45)

Diese flüchtenden Menschen träumen alle einen amerikanischen Traum mit westlichen Werten und Lebensstandards ...

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Eine Szene in Quebec.

Madame Girard hatte meine Mutter als Haushälterin eingestellt, ohne zu wissen, dass sie bis zu ihrem ersten Arbeitstag nie einen Besen in der Hand gehabt hat. (84)

Das ist für mich eine Degradierung ihrer beruflichen und sozialen Herkunft.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Gefallen hat mir, dass der Familie die Flucht geglückt ist und sie in Kanada eine neue Heimat hat finden können, wenn sie auch auf das Anderssein aufmerksam gemacht wurde und man sie daran erinnerte, dass sie als ehemalige Asiat*innen nicht wirklich zur kanadischen Gesellschaft dazugehören würde. 

Zur gleichen Zeit hatte mein Chef einen Artikel aus einer Montrealen Zeitung ausgeschnitten, in dem darauf gepocht wurde, dass das >Volk Quebecks< weiß sei und ich mit meinen Schlitzaugen automatisch einer anderen Kategorie angehörte, obwohl Quebec mir meinen amerikanischen Traum geschenkt und mich dreißig Jahren lang beherbergt hatte. (92)

Meine Gedanken dazu
Diese Probleme hat nur die Spezies Mensch, die Menschen anderer Nationen bewusst / unbewusst als Fremde, als Exoten aussortiert. Tiere und Pflanzen kennen das nicht und können sich problemlos in neue Gegenden beheimaten. Ich denke hierbei an Stefano Mancusos Buch, wie Pflanzen, die eigentlich im Gegensatz zu uns Menschen als sesshaft zählen, es dennoch schaffen mithilfe anderer Lebewesen über ganze Ozeane zu migrieren und sich auf neue Kontinente zu verpflanzen; Gewächsarten, die wir heute als unsere heimischen Pflanzen betrachten. Bei vielen dieser sog. heimischen Pflanzen ahnt man nicht mal, dass sie ihren eigentlichen Ursprung einst auf einem anderen Kontinent hatten. Warum gelingt es aber Menschen nicht, Menschen mit anderer Hautfarbe … als einen Artgenossen zu betrachten? Auch bei uns in Deutschland gibt es exotische Pflanzen, die mittlerweile heimisch sind. Zum Beispiel die deutsche Kartoffel. Warum wird die deutsche Kartoffel nicht auf ihre Wurzeln runtergestuft, während ein*e Migrant*in keine Chance hat, sich jemals als Deutsche*r bezeichnen zu dürfen? Mal ganz blöd gefragt: Sind uns die Kartoffeln ähnlicher als ein Mensch eines anderen Landes?  Fragen, an denen ich jedes Mal verzweifeln könnte, wenn Menschen anderer Länder immerzu auf die Wurzeln ihrer Vorfahren reduziert werden. 

Eine andere Sichtweise hierbei zu gewinnen wäre wohl einer menschlichen Entwicklung geschuldet, die bei jedem Zeit und noch mehr Zeit benötigt. Sie beginnt sich erst bei einem Einzelnen zu formen und mit der Zeit werden es immer mehr werden, bis ein Kollektiv, somit eine ganze Gesellschaft, von diesem Ideal getragen wird, mit dem Wissen, dass wir in einer Vielfalt alles Menschen einer einzigen Menschenrasse sind.

Doch glücklicherweise stehe ich nicht mehr alleine mit meiner Meinung da. Der Rassenbegriff soll lt. dem Darmstädter Echo vom Dez. 2020 aus dem Grundgesetz gestrichen werden. 

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Anh Phi und Tante Sechs. Tante Sechs verhalf Kim dazu, ihren eigenen Traum zu träumen. (Tante Sechs ist das sechste Kind in ihrer Familie, für Kim dadurch die sechste Tante).

Als ich fünfzehn wurde, schenkte mir meine Tante Sechs, die damals in einer Hühnerverwertungsfabrik arbeitete, eine viereckige Aluminium-Teedose mit Bildern von chinesischen Feen, Kirschbäumen und roten, goldenen schwarzen Wolken. Im Tee versteckt waren zehn gefaltete Zettel, auf die Tante Sechs je ein Metier, ein Beruf, einen Traum für mich aufgeschrieben hatte: Journalistin, Kunsttischlerin, Diplomatin, (...). Dies Geschenk lehrte mich, dass es andere Berufe gab als Arzt und dass ich meinen eigenen Traum träumen durfte. (89)

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine. Ich habe eher eine distanzierte Haltung zu den Figuren entwickelt, dies wohl auch an dem Schreibstil der Autorin liegt.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel 
Hat mich beides sehr angesprochen. Der Titel konnte für mich schlüssig werden. Nicht nur, wie sich die Fremde anfühlt, sondern auch welchen Klang eine Flucht haben könnte, fand ich auch spannend.

Zum Schreibkonzept
Der Roman ist auf 159 Seiten gepackt. Zu Beginn gibt es eine kleine Widmung Für die Menschen im Land. Es gibt keine Kapitel, und auch keine richtige Chronologie, wie ich oben schon geschrieben habe. Dennoch werden neue Kapitel mit den ersten Worten mit Großbuchstaben eingeleitet. Teilweise sind die Kapitel sehr kurz und füllen mit einem Absatz nicht mal die Hälfte der Seite.

Der Schreibstil ist eher in Tagebuchform und / oder im Telegrammstil verfasst. Die Sprache wirkt recht distanziert und ist in der Ichperspektive der erwachsenen Kim erzählt.

Insgesamt passt ihr Schreibstil eher in eine Dichtersprache, da sie manchmal wie wunderschöne und nachdenkenswerte Poesie klingt.

UND WO EINE ausgestreckte Hand keine Geste mehr ist, sondern ein Moment der Liebe, der bis in den Schlaf hinein dauert, bis zum Erwachen, bis in den Alltag. (159)

Meine Meinung
Viele Episoden stimmten mich nachdenklich. Dass Menschen durch den Anpassungsdruck und den Druck der Assimilation gezwungen werden, im neuen Land ihre Muttersprache aufzugeben, weil sie nicht mehr gebraucht wird und damit nutzlos geworden ist, ist für mich schwer zu verstehen. Für was? Diese Menschen werden in der neuen Heimat nie wirklich dazugehören, selbst wenn sie sich assimiliert haben. Einige kritische Beispiele sind in dem Buch zu finden.

Doch welchen Lebensstil hätte Kim geführt, wäre sie in Vietnam geblieben? Welche Perspektiven hätte sie gehabt? Traditionen eines Landes übernehmen zu müssen, und die Pflicht, die Fortsetzung ihrer Mutter zu sein? Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie groß dieser Amerikanische Traum nur sein kann ... 

Und für immer der Schatten ihre Cousine Sao Mai zu sein?

WÄHREND MEINER GANZEN KINDHEIT wünschte ich mir insgeheim, die Tochter von Onkel Zwei zu sein. Seine Tochter Sao Mai war seine Prinzessin, auch wenn er manchmal tagelang vergaß, dass es sie gab. Sao Mai wurde von ihren Eltern verehrt wie eine Primadonna. Onkel Zwei gab viele Feste bei sich zu Hause. (...). Er schenkte ihr nur gelegentlich zwei Minuten Aufmerksamkeit, doch das war genug, um meine Cousine mit einer inneren Kraft zu versehen, die ich nicht hatte. Ganz gleich, ob ihr Magen leer oder voll war, Sao Mai hatte nie Probleme, ihre großen Brüder und mich herumzukommandieren. (57)

Das Für und Wider spiegelt uns die Autorin immer wieder, aber der Gewinn einer Migration wiegt stärker hervor. Kims Kinder tragen keine Namen ihrer Vorfahren, sondern westliche Namen und zeigt damit eine Abnabelung von ihren Ahnen und damit die Entwicklung einer neuen Identität, die die Autorin durch die Flucht ins neue Land hat in sich entstehen lassen.  

Mein Fazit
Auf jeden Fall ein lesenswertes Buch, das Einblicke gibt in Familien, die vor dem Krieg in andere Welten fliehen müssen, und sich woanders eine neue Existenz aufbauen.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch eine Lesepartnerin P. G. auf Facebook. In einer Zoomrunde wird das Buch am kommenden Dienstagabend gemeinsam besprochen.

Meine Bewertung 

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (sachlich, fantasievoll, distanziert)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; autobiographische Erzählweise
1 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung: Ungebunden
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

11 von 12 Punkten

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Zoomrunde, Di. 03.02.2021; 19:00 Uhr bis 21:30 Uhr

Teilnehmerinnen: Hana, Petra, Christa und ich. 

Petra und Hana sind mir durch das Facebook-Bücherforum Lesedrachen bekannt. Ich gebe nur ein paar wenige Fakten wieder, nicht die gesamte Zoom-Runde.

Ich fand die ganze Diskussion sehr inspirierend und wir waren uns alle einig, dass die Sprache wunderschön ist und das Buch trotz schlanker Linie recht gehaltvoll und tiefgründig ist. 

Auch darüber, dass man das Buch nicht in einem Rutsch weglesen könne, sondern die vielen kurzen Geschichten in sich wirken lassen müsse. 

Interessant war auch, dass jeder andere Aspekte aus dem Buch gezogen hat. Es gab viele übereinstimmende Szenen, aber es gab auch Szenen, die jeder unterschiedlich wahrgenommen habe, nach dem Motto: Vier Augenpaare sehen mehr als ein Augenpaar. 

Meine anderen drei Mitdiskutantinnen fanden die vielen ernsten Themen wie Flucht, Krieg und Migration sehr leise erzählt. Das heißt, dass viele Vietnamesinnen einfach ihr Schicksal in die Hand nehmen, ohne zu klagen und in der Lage seien, das Beste daraus zu machen.

Bei Hana fand ich faszinierend, dass sie sogar bei der Zubereitung einer Mahlzeit regelrecht die Suppe hat riechen können.

Migration und das Ankommen: Eine prozessuale Entwicklung, die bis in die nächste Generationen andauern könne. Wobei Kim Kanada als ihre Wahlheimat bezeichnet habe. Dennoch sei es möglich, mehrere Heimaten zu pflegen. Der Begriff Heimat / Heimaten in der Pluralform gibt es noch nicht sehr lange. Wo wir uns nicht alle einig waren: Für mich und Petra schien es, als sei Kim in Kanada angekommen. Sie habe es geschafft, sich eine neue Identität und eine neue Heimat aufzubauen. Ihre beiden Kinder tragen westliche Namen ... Hana war davon nicht ganz überzeugt. 

Auch waren wir uns einig, dass man das Buch nicht mit einem westlichen Blick lesen dürfe. Dazu hat Hana einen schönen Gedanken formuliert: Eine Frau auf dem Reisfeld könne genauso glücklich sein wie eine westliche Frau in einem anderen Beruf, der bei uns angesehen sei. Denn die Frage kam uns auf, was ist mit den Menschen, die im Land geblieben und nicht geflüchtet seien? Wir hatten das Beispiel von Kims Cousine Sao Mai, die in Vietnam geblieben ist und glücklich auf uns wirkte trotz der Einfachheit an Leben. Wir waren uns einig, dass auch diese Menschen das Beste aus ihrem Leben machen würden, um auf ihre Weise glücklich zu leben, denn Glück sei nicht an westlichen Maßstäben zu messen. 

Ich war die einzige, die eine Struktur vermisst hat. Dadurch haben mir Details aus der Familie einfach gefehlt. 

Ich war auch die einzige, die die Sprache als zu kühl und distanziert beschrieben hatte.

Insgesamt erhielt das Buch von uns allen eine recht gute Bewertung ... 

Petra hat auch eine Rezension verfasst, siehe hier

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Ich lese in meinem langsamen Tempo
mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen, Tiere und auch mich
besser zu verstehen.