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Mittwoch, 4. Mai 2016

Marian Izaguirre / Als die Träume noch uns gehörten (1)

Lesen mit Anne ...

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch ist dermaßen originell geschrieben, so viele clevere Ideen, mit denen die Autorin ihr Thema geschmückt hat, finde ich grandios. Man war intellektuell recht gut gefordert. Keine Zeit für Langeweile. Der Roman ist so facettenreich, dass ich beschlossen habe, die Buchbesprechung kurz zu halten. Um nicht zu viel zu verraten, denn ich gönne jeder Leserin und jedem Leser von der ersten bis zur letzten Seite dieselben Genüsse, wie wir sie, Anne und ich, auf geistiger Art erlebt haben.

Man muss intellektuell sehr flexibel sein …

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:

Lola und Matías leben eher schlecht als recht von dem kleinen Buchladen am Ende einer Sackgasse. Da taucht ein geheimnisvolles Buch auf, von dem keiner weiß, wo es herkommt. Matías ist fasziniert von dem Roman. Er stellt ihn, das erste Kapitel aufgeklappt, ins Schaufenster. Jeden Tag wird er eine weitere Seite umblättern. Niemand interessiert sich für das Buch, bis eine geheimnisvolle Frau vor das Fenster tritt und liest. Lola bittet die Fremde hinein. Gemeinsam tauchen sie in die seltsame Geschichte ein. Eine Geschichte, nach der beide nicht mehr dieselben sind wie vorher…

Wenn ich nun den Klappentext mit diesen Hintergründen lese, die mir zur Verfügung stehen, sehe ich die ganze Geschichte vor mir.

Was mir besonders gut gefallen hat, waren nicht nur die kreativen Ideen, sondern auch die geschichtlichen und politischen Hintergründe Spaniens, die die Autorin in ihren Stoff hat mit einfließen lassen. Vor allem die Francodiktatur fand ich recht interessant. Auch hier geize ich allerdings mit weiteren Informationen, obwohl es mir in den Fingern juckt.

Das Originellste an der Geschichte war, dass man zwei Bücher in einem Buch gelesen hat. Und am Ende haben sich die Realitäten vermischt. Rose Tomlins Buch stand auf dem Buchdeckel. Roses familiäre Herkunft ist dermaßen diffus, dass man zu glauben meint, sie sei ein Waisenkind, das nirgends seinen festen Platz in der Gesellschaft hat. Und hier fällt mir wieder der weitere Klappentext ein, der schreibt:

Wenn Kate Morton und Carlos Ruiz Zafón zusammen einen Roman geschrieben hätten, dann diesen!

Ich muss schon zugeben, auch wenn ich kein Fan dieser genannten AutorInnen bin, dass der Klappentext doch recht behalten hat. Nur dass Marian Izaguirre mir doch mehr gelegen hat. Denn sie hat aus diesem Mix einen eigenen Stil entwickelt, wobei ich nicht wissen kann, ob das nicht eher Zufall ist. Vielleicht hat Izaguirre noch nie Zafón gelesen. Und vielleicht auch nicht einmal Morton ... 

Matías und seine zweite Frau Lola bekommen Schwierigkeiten mit der Francoregierung, weil sie z. B. sich nicht an die Vorgaben von Regeln und Normen ihrer Konfession halten konnten und geraten mit der Regierung in einen tiefen Konflikt, der sie existenziell geschwächt hat. Der Autorin ist es gut gelungen, in ihrem fiktiven Roman historische Begebenheiten mit einzubauen. Starre Vorstellungen und Erwartungen von politischen und gesellschaftlichen Lebensweisen kommen hier zum Tragen. Differenz und Vielfalt waren in der Francoregierung nicht erwünscht. Der Leitgedanke war symbolisch gesehen von einer Einheitsgesellschaft geprägt, in der kulturell alle dasselbe tun  und dasselbe denken ...

Weder Kate Morton, noch Ruiz Zafón haben politische Aspekte in ihren Romanen einfließen lassen ... Zumindest nicht in den Büchern, die ich gelesen habe. 


Mein Fazit?

Da der Roman dermaßen gefüllt ist mit so vielen wichtigen Begebenheiten, Fiktion und Realität, hätte ich Lust, das Buch ein zweites Mal zu lesen. Im Austausch mit Anne konnte ich in Erfahrung bringen, dass es ihr auch so erging. Mal schauen, wann wir das zweite Lesen umsetzen werden. Auch Anne ist von dem Buch sehr angetan gewesen. Wenn unser SuB nur nicht so hoch wäre ...

Da Anne immer die Erste ist, die meine Buchbesprechung zu lesen bekommt, bevor ich sie freischalte, habe ich von ihr erfahren, dass Zafón in dem Buch Der Gefangene des Himmels auch politisch gewesen sei. Ein hartes Buch über die Francoregierung. Nun, das wäre jetzt für mich ein Grund, eine Ausnahme zu machen und so beabsichtige ich, auch dieses Buch zu lesen.

Zafón zählt zu Annes LieblingsautorInnen. Ich glaube, mich erinnern zu können, dass sie alle Bücher von ihm gelesen hat, während ich mit dem dritten Zafón-Buch stehengeblieben bin.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.

________
Unsere Erinnerung gebe denen das Leben zurück, die es nicht mehr besäßen.
(Izaguirre zitiert Guy de Maupassant)

Gelesene Bücher 2016: 24
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Donnerstag, 7. April 2016

Jens Andersen / Astrid Lindgren - Ihr Leben (1)


Ich möchte mich erneut recht herzlich für dieses tolle Rezensionsexemplar beim DVA-Buchverlag bedanken.

Lesen mit Anne ...


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich bin von dieser Biografie von Jens Andersen sehr angetan gewesen. Sie hat mich so tief berührt, dass ich über mehrere Nächte von Schweden geträumt habe.

Einen Traum habe ich noch deutlich in Erinnerung. Es war ein Landschaftstraum, umgeben von einem wunderschönen See, an dem ich mich allein befand. Nun, was hat dieser Traum denn mit Astrid Lindgren zu tun? Auf dem zweiten Blick wurde er mir schließlich verständlich. Mich hat das Thema Einsamkeit sehr beschäftigt, denn die Einsamkeit ist ein Thema, das in dieser Biografie recht häufig behandelt wird, und ich dem so gut nachfühlen konnte. Ich bin schon als Kind immer sehr gerne alleine gewesen. Und wie oft macht man die Erfahrung, dass man sich gerade unter Menschen recht einsam fühlen kann. Viele Menschen haben mit dem Alleinsein ein Problem, es macht ihnen Angst, sodass die Einsamkeit in einer Industrienation doch recht negativ besetzt ist. Doch nicht bei Astrid Lindgren. Selbst aus ihrem eigenen Erleben heraus und in ihren Kinderbüchern ist die Einsamkeit ein großes Thema, denn die jungen ProtagonistInnen sind fast alles einsame Wesen, die daraus aber Potenziale schlagen und keineswegs daran verzweifeln ...

Vieles war mir in dem Buch nicht neu, da ich schon andere Bücher von Astrid Lindgren und über sie gelesen habe. Aber die vorliegende Biografie ist aus meinem Leseerlebnis heraus, wie ein anderer Mensch Astrid Lindgren beschreibt, eine der authentischsten überhaupt. Die Texte waren gut durchstrukturiert und die vielen Fotos, darunter auch jede Menge Familienporträts, hat Andersen miteinfließen lassen. Dieser ganze Mix zwischen Text und Bildmaterial hat das Buch so richtig aufleben lassen.

Einige Gedanken, mit denen sich Astrid Lindgren beschäftigt hatte, fand ich auch in meinen eigenen Gedanken wieder, wie z. B. die kritische Nutztierhaltung in Form von Tierfabriken; doch auch die politische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus Hitlers über Tagebucheintragungen fand ich höchst interessant; und die fatale Steuerpolitik Schwedens hat mich beschäftigt. A.L. hatte von ihrem Einkommen als Schriftstellerin 102% Steuern an den Staat entrichten müssen. Literarisch versiert sagt sie den Kampf gegen diese absurde Steuerpolitik an ... Und das Allerwichtigste waren noch jede Menge reformpädagogische Gedanken und Aktivitäten. Astrid Lindgren setzte sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit für die Rechte der Kinder ein … Sie hatte sich auch mit den Büchern von Ellen Key vertraut gemacht, eine schwedische Reformpädagogin, die von 1849 bis 1926 gelebt hat, die Astrid Lindgren als großes Vorbild diente. Key schrieb Über das Recht des Kindes, seine Eltern selbst auszusuchen. Natürlich ist das symbolisch gemeint. Doch diese Thematik findet sich auch in einem der Kinderbücher von Astrid Lindgren wieder, wie z.B. in Rasmus und der Landstreicher. Und was ich zusätzlich ganz interessant fand, Key schrieb auch über die Seelenmorde in den Schulen. Seelenmorde, ein harter Begriff, doch er drückt genau das aus, was manche Kinder auch heute noch an Schulen durchmachen müssen, wenn sie nicht den Vorstellungen jener Bildungseinrichtung entsprechen …

Ein paar Sätze zu ihrer Herkunft möchte ich noch schreiben. Astrid Lindgren wuchs in  Näs, bei Vimmerby, auf. Sie wurde 1907 als zweites von vier Kindern vom Pfarrhofpächter Samuel August Ericsson und seiner Ehefrau Hanna Ericsson geboren. Die Eltern lebten streng religiös, was für die damalige Zeit normal war. Astrid Lindgren verlebte hier eine recht glückliche Kindheit. Sie beschreibt ihre Kindheit als die glücklichste Zeit ihres Lebens. Sie war ein sehr verspieltes Kind, und das blieb sie noch bis ins hohe Alter. Mit siebzig Jahren kletterte sie z.B. noch auf Bäumen. Sie starb 2002 mit 95 Jahren in Stockholm. Drei Jahre vor ihrem Tod erlitt sie einen Schlaganfall und wurde zu einem Pflegefall. Ihre Tochter Karin Nyman kümmerte sich bis zum Tod um ihre Mutter.

Als Erwachsene hatte Astrid Lindgren kein so einfaches Leben mehr. Sie gebär im Dezember 1926 als neunzehnjähriges Mädchen ihr erstes Kind, ein uneheliches Kind, das sie vor der schwedischen Gesellschaft zu verbergen versuchte. Sie brachte das Kind, Lasse, die ersten Jahre schweren Herzens heimlich und anonym bei einer Pflegemutter unter. Sie liebte ihr Kind über alles, und nach jedem Besuch fiel ihr die Trennung sehr schwer ... Dessen ungeachtet, dass ihre Eltern streng religiös lebten, lernten sie schließlich ihren unehelichen Enkel doch noch zu akzeptieren, sodass A. L. Lasse zu den Eltern bringen konnte, nachdem die Pflegemutter ernsthaft erkrankte. Die Großeltern lernten Lasse zu lieben wie ihr eigenes Kind ... Das ist doch eine immense Entwicklung vonseiten der Eltern/Großeltern, die mir imponiert hat.

Über Verhütungsmittel war Astrid Lindgren nicht richtig aufgeklärt. Obwohl der Kindsvater deutlich älter war als sie, da er sich schon in den reiferen Jahren befand, kümmerte er sich auch nicht um die Verhütung. Astrid Lindgren warf ihm Verantwortungslosigkeit vor  …

Nicht nur das Paar-Beziehungsleben von Astrid Lindgren zu  zwei wichtigen Männern wird hier sehr eindrucksvoll beschrieben, sondern auch die freundschaftlichen und beruflichen Kontakte greift Andersen auf. Es existieren dazu jede Menge Briefe zu FreundInnen und zu ihren Fans jeden Alters. Dadurch wird deutlich, wie Astrid Lindgren in ihrem Leben in der Beziehung zu anderen Menschen, bedeutsamen und weniger bedeutsamen, gewirkt hat. Sie blieb in der Öffentlichkeit immer menschlich und immer souverän.

Beruflich war Astrid Lindgren auf vielen Gebieten erfolgreich. In den ersten Jahren arbeitete sie als Sekretärin und als Stenotypistin und arbeite sich hoch als Lektorin in einem Verlag, doch hauptsächlich war sie als Schriftstellerin tätig. In dem Verlag lektorierte sie ihre eigenen Manuskripte ...

In den jungen Jahren hatte sich Astrid Lindgren vehement gesträubt, Schriftstellerin zu werden, obwohl ihre LehrerInnen zu ihrer Schulzeit dazu geraten haben.


Mein Fazit?

Das Buch ist sehr, sehr spannend geschrieben, man möchte gar nicht mehr mit dem Lesen aufhören. Viele Punkte habe ich hier nicht erwähnt. Es gibt noch Vieles zu entdecken.

Es werden in der Biografie zusätzlich jede Menge Werkproträts zu den Kinder- und Jugendbüchern Astrid Lindgrens vorgestellt und kurz behandelt. Im Anhang hat uns der Biograf Andersen eine Liste erstellt, auf der alle ihre  Kinderbücher abgebildet sind. Es gab ein paar Bücher, die mir zuvor unbekannt waren. Nun bin ich so neugierig geworden, dass ich mir die Trilogie zu Kati in Amerika, Italien und Paris bestellt habe. Ich habe aber noch vor, mir Rasmus und der Landstreicher auch noch zuzulegen. Rasmus macht sich als Waisenkind auf die Suche nach neuen Eltern, die er sich selbst aussuchen möchte …

Die Biografie von Andersen, die ich als sehr lebendig und als recht empathisch erlebt habe, werde ich zu gegebener Zeit ein weiteres Mal lesen.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.


Nachtrag zum Telefongespräch mit Anne, 8.4.2016

Anne hat das Buch auch schon durch, und es hat ihr auch sehr gut gefallen. Dies war zu Astrid Lindgren ihre erste Biografie, und für sie war alles neu. Wir haben heute Abend telefoniert und über viele Szenen gesprochen, die wir nicht schriftlich festgehalten haben, wie z.B. der sensible Umgang mit ihren Kindern Lasse und Karin. Man wünscht jedem Kind eine Mutter wie Astrid Lindgren. Auch wenn sich heute in der Erziehungsmethode so manches verändert hat, gibt es noch immer sehr viele Kinder, die von ihren Eltern in jeder Form wie z.B. psychisch, sexuell oder körperlich missbraucht werden. 



Das Buch ist in München in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen und ist unter
der ISBN-Nummer  978-3-421-04703-8 erhältlich. 
___________
Will man glücklich sein, muss es aus einem selbst kommen
 und nicht von einem anderen Menschen.
(Astrid Lindgren)


Gelesene Bücher 2016: 15
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Montag, 7. März 2016

Frances Greenslade / Der Duft des Regens (1)

Lesen mit Anne ...


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir recht gut gefallen.

Insgesamt hat mir der Schreibstil sehr zugesagt. Das Buch ist recht flüssig geschrieben. Der Autorin ist es gelungen, ihren Stoff so zuzubereiten, dass man jede Seite gerne gelesen hat. Mit großem Interesse, mit Neugier und auch mit Spannung habe ich Seite für Seite umblättern können. Die Geschichte wird in der Ichperspektive von der jugendlichen Maggie erzählt ...

Schöne Naturbetrachtungen Kanadas sind in dem Buch beschrieben, doch die Lebensart der dort lebenden Menschen kam mir sehr kühl vor. Um in der Natur überleben zu können, musste jeder hart zupacken. Man macht Bekanntschaft mit einigen Frauen, die sich nicht zu schade waren, Männerarbeiten zu verrichten, um unabhängig zu bleiben. Wer in soziale Nöte geriet, konnte keine Sozialhilfe beantragen, wie wir dies hier von Deutschland her kennen.

Am letzten Freitag haben Anne und ich telefoniert und über das Buch gesprochen. Aufgrund der Authentizität habe ich mir die Frage gestellt, ob die Autorin aus ihrem eigenen Erleben das Buch verfasst hat. Auf den letzten Seiten erfährt man schließlich, dass diese Familiengeschichte von Jenny und Maggie erfunden ist. Als Frances Greenslade ihr Manuskript dem Verlag eingereicht hatte, bekam sie eine Absage. Erst als die Autorin ein paar  Jahre später selber Mutter geworden ist, konnte sie sich leichter in die Mutterrolle hineinversetzten, und so rollte sie ihre Geschichte von Jenny und Maggie wiederholt auf, veränderte ihr Manuskript, legte es dem Verlag nochmals vor, als es dann schließlich von ihm angenommen und das Buch vertrieben werden konnte.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein: 
In den Wäldern im Westen Kanadas ist die Welt noch in Ordnung - zumindest für die Schwestern Maggie und Jenny. Sie lieben ihre Ausflüge zu den Seen, sammeln Pilze und Beeren, die Eltern spielen abends Karten. Doch Maggie ist eine geborene »Sorgenmacherin«, sie kann nicht anders, sie fürchtet um das Wohl ihrer Liebsten. Als der Vater bei einem Unfall ums Leben kommt, fühlt sie sich in ihren tiefsten Ängsten bestätigt, schlimmer noch: Es scheint sich die im Dorf vorherrschende Überzeugung zu bewahrheiten, dass ein Unglück selten allein kommt. Auf der Suche nach einem Lebensunterhalt lässt die Mutter die Mädchen bei einer fremden Familie zurück, vorübergehend, sagt sie. Doch Tage werden zu Wochen, Wochen zu Monaten und dann zu Jahren - Irene bleibt verschwunden. Schließlich macht Maggie sich auf, die Mutter zu finden. Ihre Reise führt sie in Irenes Vergangenheit, bis an die Küste, zu einem alten Boot namens Elsa ...
Das Schicksal der beiden Mädchen Maggie und Jenny hatte mich sehr berührt, vor allem, als der Vater durch einen Berufsunfall tödlich verunglückt, und die kleine Familie sich auf die Suche nach einem neuen Heim begibt. Sie musste ihr altes Heim aufgeben, da sie mittellos wurde und das Geld für die Miete ihres Hauses nicht aufgebracht werden konnte. Ich frage mich nun, bei einem Berufsunfall müsste die Familie über eine Rente durch die Berufsgenossenschaft abgesichert sein ...

Anne und ich waren beide ganz gespannt darauf, wo die Mutter von Jenny und Maggie sich aufhielt, nachdem der Kontakt zwischen ihnen abgebrochen war. Aus unserer Sicht war die Mutter keineswegs eine Person, die ihre Kinder vergisst, oder sie im Stich lässt. Regelmäßig zu Weihnachten und an den Geburtstagen schickte die Mutter ihren Töchtern Geldgeschenke, die mit einem Brief beigelegt waren. Leider ließ die Mutter den Absender weg, sodass die Mädchen nicht wissen konnten, in welcher Gegend sich die Mutter aufhält. Erst der Schluss macht deutlich, weshalb die Mutter nicht gefunden werden wollte. Weiter haben Anne und ich uns nicht mehr austauschen können, da wir das Buch noch nicht beendet hatten … Wir unterhielten uns auch über die anderen Figuren dieser Geschichte. Es gibt welche, die ein großes und warmes Herz haben wie z. B. Onkel Leslie. Onkel Leslie ist Verns Onkel ... Vern ist der Jugendfreund von Maggie, doch zwischen ihnen beiden scheint sich mehr zu entwickeln ...

Tja, in den Schlusskapiteln erfuhr man dann schließlich doch, welches Unglück der Mutter schließlich zuteilwurde, sodass ich mit dieser möglichen Perspektive schließlich zum Teil gar nicht gerechnet habe. Ich hatte eher den Eindruck, dass sie, nachdem sie ihre Kinder bei einem älteren Ehepaar vorübergehend untergebracht hatte, sich aufmacht, um Arbeit und eine geeignete Wohnung zu finden, um dann ihre Kinder von dem alten Ehepaar wegzuholen. Sicher war dies ursprünglich ihr Ziel, doch dieses Ziel nahm allerdings andere Formen an, wobei ich nun nicht weiß, ob ich für die Mutter noch Verständnis aufbringen möchte ...

Mehr möchte ich darüber nicht schreiben, wenn auch viele Ereignisse nennenswert wären, wie z. B. die Entwicklung der mittlerweile 16-jährigen Jenny, die schwanger wird und von der alten Bea in ein Kloster geschickt wird, das für uneheliche schwangere Mädchen ausgerichtet ist, um einen gesellschaftlichen Skandal zu vermeiden … Dort sollte für Mutter und Kind gesorgt werden, mit dem Ziel, das Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben. Nach der Geburt erleidet Jenny für mich völlig überraschend eine Wochenbettpsychose ...

Auch Maggie ist eine interessante Persönlichkeit. Sie ist es, die sich schließlich auf den Weg macht, um ihre Mutter zu suchen, nach dem einige Jahre seit deren Fortgang vergangen sind. Dabei erfährt sie jede Menge brisante Familiengeheimnisse ...

In den Beziehungsgeflechten der beiden Mädchen mit ihren eigenen männlichen Partnern finden sich Wiederholungen, bestimmte partnerschaftliche Ereignisse, die es schon bei den Eltern zu beobachten galt, denn was die Eltern psychisch gesehen nicht haben aufarbeiten können, setzt sich in der nächsten Generation fort, damit diese sich dran macht, jene belastenden Schicksalsabläufe auf ein Besseres umzuwandeln …


Mein Fazit?

Ich werde mich ein weiteres Mal mit Anne kurzschließen … Bin neugierig, zu erfahren, wie sie den Schluss erlebt hat und was sie für Gedanken zu den Szenen mit Jenny entwickeln konnte.

Aber ich habe so keine Textstelle finden können, die ich gerne rausgeschrieben hätte; umso kürzer verläuft dann diese Buchbesprechung. Trotzdem verliert das Buch nicht seinen Wert, weshalb ich ihm die volle Punktzahl erteile.

Zehn von zehn Punkten.

Austausch mit Anne:
Auch Anne hat mit dem Ausgang nicht gerechnet ...
Eigentlich hätte es noch einen zweiten Teil zu der Geschichte geben sollen, denn es bleibt offen, wie es mit den Mädchen nun weitergehen wird.

Und hier geht es zu Annes Buchbesprechung

___________
Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)


Gelesene Bücher 2016: 10
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86








Freitag, 5. Februar 2016

David Foenkinos / Charlotte (1)

Lesen mit Anne ...


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ein sehr schwermütiges Buch, eines von der heftigsten Sorte, eines, das ich bisher in dieser Art noch nicht gelesen habe. Schon das Cover ist von einer tiefen Traurigkeit gezeichnet ... Und in der Tat, es lastet eine seelische Schwere in den Lebensläufen mancher ProtagonistInnen …

Beginnen möchte ich gleich vorneweg mit Charlottes Großmutter mütterlicherseits, bevor ich erneut den Klappentext reingebe, in dem alles Notwendige drinsteht, da ich selbst nicht allzu viel verraten möchte:

Das Drama um ihre beiden Töchter. Es war nur der Höhepunkt einer ganzen Serie von Selbstmorden. Schon ihr Bruder war ins Wasser gegangen. Weil er so unglücklich in seiner Ehe war. Er war promovierter Jurist, und erst 28, als er starb. Tagelang blieb sein Leichnam im Wohnzimmer aufgebahrt. Und die Familie schlief an seiner Seite.
Sie wollte ihn nicht gehen lassen.Die Wohnung sollte sein Grab sein.

Diese Vorstellung, das Wohnzimmer zu einer Grabstätte umwandeln zu wollen, fand ich schon außergewöhnlich von der Idee her, wäre nicht dieser Verwesungsgeruch, der sich in dem Raum breitmachte, denn ... 

… erst der Verwesungsgeruch bereitete dem Spektakel ein Ende. Als man ihn wegtrug, versuchte die Mutter, ihren Sohn zurückzuhalten. Den Tod konnte sie hinnehmen, nicht aber, dass man ihn fortschaffte.

Der Tod der vielen Suizidentinnen und Suizidenten basierte nicht aus den Folgen des Nationalsozialismus´, wie ich erst kurz zu glauben versucht habe. Die Unglücklichen schieden aus dem Leben, da gab es den Hitler in Deutschland noch nicht. Es ist wirklich eine sehr tragische Lebensgeschichte, in der sich die Depression von einer Generation in die nächste schleicht und sich an deren Seele festkrallt. Nicht zu vergessen, dass das Leben der Charlotte Salomon keine fiktive Figur ist, sondern eine sehr begabte Malerin, die es wirklich gegeben hat, die von den Nazis 1944 vergast wurde.

 Nun wird es Zeit, zur  Erinnerung erneut den Klappentext reinzugeben:

„Das ist mein ganzes Leben“ – mit diesen Worten übergibt Charlotte 1942 einem Vertrauten einen Koffer voller Bilder. Sie sind im französischen Exil entstanden und erzählen, wie sie als kleines Mädchen, damals im Berlin der 1920er, nach dem Tod der Mutter das Alleinsein lernt, während sich ihr Vater, ein angesehener Arzt, in die Arbeit stürzt. Dann die Jahre, in denen das kulturelle Leben wieder Einzug hält bei den Salomons. Die Stiefmutter ist eine berühmte Sängerin; man ist bekannt mit Albert Einstein, Erich Mendelsohn, Albert Schweitzer. Charlotte beginnt zu malen, und es entstehen Bilder, in denen dieses einzelgängerische, verträumte Mädchen sein Innerstes nach außen kehrt, Bilder, die von großer Begabung zeugen. Doch dann ergreift 1933 der Hass die Macht, es folgen Flucht, Exil, aber auch Leidenschaft und Heirat. Nur ihre Bilder überleben – Zeugnis ihrer anrührenden Geschichte, die David Foenkinos nahe an der historischen Realität entlang erzählt.

Charlotte, die schon recht früh diese menschlichen Verluste hat hinnehmen müssen, fühlt sich von der Welt nicht ausreichend geliebt. Sie bewundert ihre beste Schulfreundin, die ihre Zeit nun lieber mit einer neuen Schulkameradin verbringt. Charlotte wundert sich, wie schnell die neue Schulkameradin Freundschaften zu schließen in der Lage ist:

Manche haben eben die Gabe, geliebt zu werden.Charlotte hat Angst, von allen im Stich gelassen zu werden. Am besten gar keine Freundschaft mehr schließen. Es ist doch sowieso nichts von Dauer. Man muss sich vor möglichen Enttäuschungen schützen. 

Charlotte erfährt erst sehr spät, dass die Mutter den Freitod wählte. Der Vater wollte seine Tochter emotional schonen. Als sie klein war, fünf Jahre alt, bereitete ihre Mutter sie auf das Weggehen vor. Sie würde zu den Engeln fliegen und sie würde ihr Kind vom Himmel aus immer beschützen. Als die Mutter schließlich tot war, war die fünfjährige Charlotte nicht traurig, denn sie glaubte fest daran, dass ihre Mutter bei den Engeln sei und sie von oben hinunterschauen würde. Das Kind tröstete mit diesen Worten den weinenden Vater.

Dies waren ein paar Szenen, die mich sehr beschäftigt haben, so sehr betroffen haben sie mich gestimmt.

Charlotte ist als Nachwuchskünstlerin mehr als erfolgreich. An der Kunsthochschule sollte sie mit ihren Bildern den ersten Preis erwerben, aber durch den Nationalsozialismus konnte sie als die beste Malerin nicht nominiert werden, da sie jüdischer Abstammung war, also ging der Preis unverdientermaßen an ihre Kommilitonin, die ihn ausgiebig zu feiern wusste. Man wollte Charlotte vor den Nazis schützen. Und so konnte Charlotte nur zugucken, wie ihr Preis an jemand Arisches verliehen wurde. 

Dann verkündete der Professor mit tonloser Stimme: Der erste Preis geht an Charlotte Salomon. Augenblicklich macht sich Unbehagen breit. Unmöglich, dass sie den Preis bekommt. Das würde zu viel Aufsehen erregen. Die Schule sei von jüdischen Elementen unterwandert, hieße es. Die Gewinnerin würde ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Sie könnte das Ziel von Anfeindungen werden. Womöglich würde man sie sogar ins Gefängnis bringen. 

Charlotte ist ein sehr introvertierter junger Mensch. Innerlich zurückgezogen, verträumt und auch recht nachdenklich. Sie lässt andere Menschen an ihrer Innenwelt nur über ihre gemalten Bilder teilnehmen. Man kommt schwer an sie heran. Selbst die Großeltern finden kaum Zugang zu ihr. Charlotte entwickelt immer mehr ernste Charakterzüge ihrer suizidierten Mutter, die wiederum den Tod ihrer Schwester nicht hat verwinden können. Obwohl schon viele Jahre dazwischen lagen. Charlotte trägt schon alleine durch ihren Vornamen eine große Last, denn ihre suizidierte Tante, Mutters Schwester, ist ihre Namensvetterin.

Charlottes Vater, der als angesehener Chirurg in seine Arbeit flüchtet, heiratet neu. Eine Sängerin namens Paula, die in der Öffentlichkeit einen guten Ruf genießt. Paula ist keinesfalls eine Stiefmutter, wie sie im bösen Märchen beschrieben wird. Sie ist sehr um Charlotte bemüht und ersetzt ihr die Mutter bestmöglich. Es entwickelt sich eine recht liebevolle Mutter-Kind-Beziehung.

Da der Nationalsozialismus immer weitere Kreise zieht, und das Leben in Deutschland für die Juden immer enger zu werden droht, reist Charlotte auf den Druck ihres Vaters und ihrer Stiefmutter hin ihren Großeltern nach Frankreich nach und lebt dort im Exil. Charlottes Vater wurde einmal von der Gestapo abgeholt und ins Arbeitslager gebracht. Dank Paula, die es schaffte, ihn da wieder rauszuholen, doch er war nicht mehr derselbe. Zuviel hatte er im Arbeitslager gesehen, weshalb er nun darauf bestand, dass Charlotte Deutschland so schnell wie möglich verlassen sollte.

Charlotte lässt nicht nur ihre Eltern zurück, sondern auch ihre erste große Liebe.

Was danach kommt, ist dem Buch zu entnehmen.

Mein Fazit?

Der Autor David Foenkinos hat supergut über das Leben der Charlotte Salomon recherchiert und gekonnt über ihr Schicksal und das ihrer Angehörigen geschrieben. Sehr ausdrucksstark und empathisch habe ich das Buch erlebt. Er konnte sich wirklich gut in diese Menschenschicksale hineinversetzen.

Der Schluss hatte mich auch recht nachdenklich gestimmt. Die Eltern flohen in die Niederlande und hatten Glück, dass sie dort den Nationalsozialismus überleben konnten. Dass Charlotte in Frankreich nicht dasselbe Glück ereilte, erfüllte sie mit tiefer Trauer und mit lebenslangen Schuldgefühlen.

Für mich sehr gewöhnungsbedürftig war allerdings der Schreibstil. Der Autor wählte die Prosa in Versen, sodass das flüssige Lesen nicht möglich war. Absicht? Wahrscheinlich, damit man nicht rasend zu den nächsten Seiten eilt. Mir kam das Lesen ein wenig stockend vor, hat aber nichts an der Qualität des Inhalts eingebüßt. Das Stocken habe ich als angenehm empfunden; kurz aufhören zu lesen, um das Gelesene innerlich wirken zu lassen.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.


Nachtrag: Telefonat zwischen Anne und mir:

Wir haben beide dasselbe empfunden, ein sehr trauriges Buch, das einen emotional aufwühlt. Auch Anne stimmte die Biografie sehr nachdenklich. Ein Plädoyer an die Nachwelt, die Welt menschlicher zu machen, indem man aus der Geschichte lernt. Nicht weggucken, nicht vergessen, sondern das Schicksal dieser Opfer mittragen und emotional aushalten. Das ist man ihnen schuldig. 

Und hier geht es zu Annes Buchbesprechung

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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)


Gelesene Bücher 2016: 06
Gelesene Bücher 2015: 72
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Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Samstag, 9. Januar 2016

Petra Oelker / Das klare Sommerlicht des Nordens (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Mir hat das Buch recht gut gefallen, auch wenn ich ein wenig gebraucht habe, um reinzukommen. Mit dem Prolog hatte ich etwas Schwierigkeiten, da ich mit den Figuren nicht so schnell warm werden konnte. Später mit der Geschichte hatte ich keine Probleme mehr, habe aber am Ende den Prolog ein weiteres Mal lesen müssen. Und das war gut, da mir nun der Hintergrund zur Verfügung stand.

Gefallen hat mir auch die differenzierte Beschreibung der Buchfiguren. Frei von Klischees und Stereotypen. Ganz besonders hat mich eine Deutsche angesprochen, die spanische Eltern hat. Ich habe mich in dieser Figur gesehen, da auch ich Deutsche bin mit italienischen Eltern.

Meine Buchbesprechung werde ich hierzu kurzfassen, weil Oelkers Buch zu den Büchern gehört, die mich allein vom Lesen her gesättigt haben.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:

Zwei Frauen, ein Traum. Freiheit. Sidonie Wartberger führt ein von materiellen Sorgen unberührtes Dasein in einer Villa an der Hamburger Außenalster. Doch die junge Ehefrau aus jüdischem Haus fühlt sich eingezwängt wie in ein Korsett. Sie träumt von einem anderen, viel freieren Leben.Dora Lenau wohnt am unteren Ende der Stadt, im Hafenviertel, in kümmerlichen Verhältnissen. Sie träumt von finanzieller Unabhängigkeit, von einem kleinen Atelier für Avantgarde-Mode. Als ihre Not am größten ist, kreuzen sich die Wege der beiden Frauen. Gemeinsam wagen sie es, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben ...

Schön fand ich, dass sich die beiden Protagonistinnen, die wohlhabende Sidonie Wartberger und die sozialschwache Dora Lenau, trotz ihrer gegensätzlichen Herkunft so nahegekommen sind, dass eine kleine Freundschaft entstehen konnte.

Sidonie erleidet eine schwere Lebenskrise, da sie und ihr Mann Victor sich in ihrer jungen Ehe Kinder gewünscht haben, der Kinderwunsch allerdings unerfüllt bleibt. Sidonie erleidet zwei Mal eine Fehlgeburt. Diese führt sie in eine langwierige und schwerwiegende Depression. Sie fühlt sich nicht mehr als eine vollwertige Frau und hegt auch Victor gegenüber Schuldgefühle.Victor ist eigentlich ein recht verständiger Ehemann, der für seine Frau viel Liebe empfindet, trotzdem kriselt die Ehe, weil Sidonie mit ihren Fehlgeburten einfach nicht fertig wird. Auch die Erwartungen ihrer Schwiegermutter wurden mit dem versagten Kinderwunsch enttäuscht, und vergrößern das Problem in der Familie um einiges mehr. Ob diese Tragik überwunden wird, das soll jede/r selbst herausfinden.

Dora Lenau ist auch eine recht interessante Persönlichkeit, was ihre Herkunft betrifft. Bemerkenswert ist auch Theo, Doras angebliches Familienmitglied als Vetter und Mitbewohner, der ihre soziale Lage durch und durch ausnutzt, als er Informationen über Doras Vergangenheit einholt, die für eine potenzielle Brisanz sorgen. Eine sehr unsympathische Figur.

Auch hier möchte ich eigentlich nicht zu viel schreiben, denn sonst ist die Spannung weg, denn der Roman lebt von diesen vielen Informationen. Das Buch sorgt immer mal wieder für Überraschungen.

Dora ist gerade mal neunzehn Jahre alt und geht dem Beruf einer Näherin nach. Als ungelernte Kraft ist sie in einer Manufaktur angestellt, in der Kleider für die anspruchslosere Dame genäht werden. Dora ist sehr begabt, der Chef hält viel von ihr, bevorzugt sie gegenüber anderen Kolleginnen ein wenig.

Dora entwickelt eigene Nähmuster, die sie ihrem Chef vorlegt, der aber nichts von ihnen hält, da die Muster viel zu vornehm seien, würden nicht zu seiner Klientel passen. Dora ist enttäuscht und macht ihrem Ärger dadurch Luft, indem sie ihrem Chef ein paar kostbare Handarbeitsperlen stiehlt. Nicht lange, und sie bereut ihr Diebesgut. Theo kommt dahinter und erpresst sie, sie bei ihrem Chef auflaufen zu lassen, wenn sie nicht tue, was er von ihr verlange. Auch hier geht es spannend weiter …

Sidonie ist Hobbymalerin; sie und Dora machen durch die Handarbeit im Hause Wartberger Bekanntschaft. Beide kommen sich durch ihre Talente näher. Sidonie merkt sehr bald, dass Dora ein Auge für Farben hat, die sie in ihrer Handarbeit zur Geltung bringt. Das Nähen entwickelt sich zu einer Kunst, die Dora durch Sidonies Fürsprache weiterbringen lässt. Doch auch Sidonie kommt weiter durch Doras wichtige Anregungen, die ihr mit hilfreichen Ratschlägen für die Malerei zur Seite steht.


Mein Fazit?
Das Ende hat mir sehr gut gefallen. Obwohl ich es ein wenig gewöhnungsbedürftig empfunden habe, denn auf den letzten zwanzig Seiten hat sich noch immer nichts geklärt und ich fürchtete einen offenen Schluss für alle Beteiligten im Roman. Schließlich fasst der oder die Erzähler\in dieser Geschichte auf den letzten paar Seiten sämtliche Fakten zusammen, indem er/sie jede einzelne Romanfigur erneut aufgreift und der Leserin mitteilt, was aus ihr geworden ist, welche Wege sie schlussendlich eingeschlagen hat. Man wird also irgendwann, zwanzig Seiten vor Schluss, aus der Geschichte rausgeschmissen, ohne zu wissen, wie diese Schicksale enden, gäbe es diese Zusammenfassung nicht.

Für mich hatte der Schluss etwas Versöhnliches, ohne dass er schnulzig oder kitschig gewirkt hat.

Heute Abend haben Anne und ich gemeinsam telefoniert, und über das Buch gesprochen und stellten fest, dass wir eine recht ähnliche Meinung pflegten. Den Schluss hat sie ähnlich empfunden: Doch statt der Zusammenfassung hätte sie lieber ein offenes Ende gehabt und einen eventuellen zweiten Teil gelesen.

Das Buch greift politische Themen auf, wie z.B. den Antisemitismus in der Kaiserzeit. Damit konfrontiert Theo Dora.

Auch wissenschaftliche Errungenschaften hebt die Autorin in ihrem Buch hervor, mit denen der damalige Mensch zu Beginn des 20. Jhd. erst lernen musste, umzugehen. Erste Plattenspieler kamen auf den Markt und für viele wurde diese Apparatur als Teufelszeug abgetan ...

Das Buch hat literarischen Anspruch und wir können es beide, Anne und ich, wärmstens weiterempfehlen.


Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.

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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)

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Samstag, 5. Dezember 2015

Carla Guelfenbein / Der Rest ist Schweigen (2)

Lesen mit Anne 

Zweite von zwei Buchbesprechungen zur o. g. Lektüre

Das Buch verdient seine zehn von zehn Punkten. Die Autorin blieb ihrem Schreibstil bis zur letzten Seite treu. Ich habe vor, mir weitere Bücher von ihr anzuschaffen. Lt. Amazon gibt es nicht so viele in deutscher Übersetzung. Nur noch zwei weitere:
Nackt Schwimmen 
Die Frau unseres Lebens
Nun gut, dann habe ich nicht viel nachzuholen.

Wenn diese beiden Bücher ebenso gut ausfallen sollten, dann erkore ich Guelfenbein zu meinen Favoriten.

Und nun zum Inhalt:

Das Buch ist sehr facettenreich ...

Viele einsame Menschen treten hier auf, und die Einsamkeit macht vor dem Alter keinen Halt. Tommy ist kein Kind wie jedes andere. Schon allein die Herzoperation zwingt ihn zu einem sorgsamen Leben, das ihn von anderen Kindern absondert. Auch wenn die OP geglückt ist, kann er sich nicht bewegen wie andere in seinem Alter. In der Schule ist er bei seinen Mitschülern nicht beliebt, sie verspotten ihn recht boshaft. Jeden Tag befinden sich üble eMails in seinem virtuellen Postfach.
Hoer zu du asch. Bloeder wixer verpisss dich doch zu deiner Mami die hat dich ja soooo lieb du opfer lol …Strebersau hast ja e blos deine hefte als freunde … ..!!! .. hahahahaha spasti^ ^…
Tommy ist auch ein Träumer. Oft betrachtet er sich die Natur, in der er die Freiheit sucht. Es folgt nun ein Bild zu einem Vogelschwarm, das auch mich, noch heute, in das Träumen verführt:
Hoch oben verschwindet ein Schwarm Vögel hinter den dichten Wolken. Zugvögel machen mich ein bisschen neidisch, sie sind zu nichts verpflichtet und immer unterwegs an Orte, wo die Sonne scheint.
Sein Vater, der von Beruf Chirurg ist, versucht seinen Sohn von der Welt abzuschirmen, damit sein Herz keine unnötige Belastung auf sich nehmen muss. Tommy zieht sich immer mehr zurück und flüchtet in eine Fantasiewelt. Sein Vater verbietet ihm die fiktive Welt, die aus vielen fiktiven Freunden besteht. Kann man sie einem Kind verbieten? Eigentlich nicht.

Wenn ein Kind anders ist als andere Kinder, weil es schwächer ist, dann wird dieses Kind oft zum Außenseiter gemacht. Ich kenne das zu gut, ich kannte mal ein kleines Mädchen aus meiner eigenen Kindheit, die schon im Kindergarten aus bestimmten Gründen ausgesondert war ... Die anderen Kinder spüren, wenn ein Kind anders ist, wenn ein Kind schwächer ist ... Tommy ist für seine zwölf Jahre ein recht intelligentes Bürschchen. Durch seine Gedanken, die er in der Einsamkeit hegt, entwickelt er jede Menge Weisheiten und jede Menge Erkenntnisse, die für ihn lebensnotwendig sind.

Das folgende Zitat, bezogen auf die Kontaktarmut, verschaffte mir Gänsehaut. Dieses Erlebnis deckt sich mit meinen eigenen Erkenntnissen.
 Ich bin nicht gern allein, aber um einen Freund zu finden, müsste ich mich richtig anstrengen, und wahrscheinlich würde trotzdem nichts dabei rauskommen. Deshalb denke ich lieber über meine neusten Entdeckungen nach.
Dass sich seine Mutter das Leben genommen hat, erfährt Tommy durch Zufall. Auch eine seiner neusten Erkenntnisse, die er still für sich behält. Seitdem begibt er sich heimlich auf Spurensuche, um mehr von seiner Mutter in Erfahrung zu bringen. Auf dem MP3-Player nimmt Tommy heimlich Dialoge von den Erwachsenen auf ...
Mama hat sich das Leben genommen. Das ist die erste Erkenntnis. Aber wie komme ich weiter? Vielleicht wenn ich das zusammentrage, was ich schon weiß, aber vorher nicht wichtig fand. Wie dass Papa nie von ihr spricht. Oder dass er von all ihren Sachen nur das Foto aufgehoben hat, das ich aus der Schublade genommen habe. Oder dass Großvater die wenigen Male, wenn jemand Mama erwähnt, zu schlucken anfängt, als hätte er eine Kröte im Hals. Oder dass wir nie meine Großmutter in Buenos Aires besucht haben, noch nicht mal, als Großpapa gestorben ist. Einmal habe ich Papa nach den beiden gefragt, und er hat erzählt, dass sie wieder nach Buenos Aires gezogen sind, als Mama tot war, weil Großmama aus Buenos Aires kam.
In dem Buch findet man viele, viele schöne Zeichnungen aus Tommys Kinderhand.

Tommys Vater, Juan, der den Suizid seiner Frau nicht wirklich verwunden hat, flüchtet sich recht schnell in eine neue Beziehung und geht mit Alma den Bund der Ehe ein. Juan ist zwar ein guter Chirurg, doch ist er mit menschlichen Gefühlen schier überfordert, weshalb er es nicht schafft, sich in Tommys Welt einzufühlen. Er kennt die Probleme seines Sohnes nicht wirklich.

Alma bringt eine uneheliche Tochter mit in die Ehe, die jünger als Tommy ist. Alma, die aus einer nicht einfachen Familie kommt, in der die Mutter, als Alma noch klein war, mit fast allen Männern geschlafen hat, musste erst mal lernen, damit umzugehen. Alma hatte zwar einen Vater, der für sie sorgte, als er sich von der Mutter getrennt hatte. Trotzdem war Alma auch schon in jungen Jahren ein recht einsamer Mensch und blieb von Mutters exzentrischem Verhalten geprägt und gezeichnet. Alma versuchte aus ihrem Leben etwas Besonderes zu machen. Als junge Frau zog sie nach Spanien und erwarb dort auf einer Schauspielschule ihren Universitätsabschluss. Sie wollte auf keinen Fall wie ihre Mutter werden, auf keinen Fall in ihre Fußstapfen treten. Doch auch hier holt sie die Vergangenheit ein, denn sie schafft es nicht, eine stabile Bindung zu einem Mann zu halten ..., da auch sie versucht, ihre Eheprobleme mit Juan wegzuschweigen, stattdessen flüchtet sie in eine andere Beziehung. Der Jugendfreund Leo, der einst auch mit Almas Mutter sexuellen Kontakt gepflegt hatte, wird auch für Alma wieder interessant ...
Zwischen Juan und mir ragt eine Mauer, über die hinweg wir uns sehen können, durch die aber jede echte Begegnung verhindert wird. Selbst hier im Dunkeln sehe ich sein verbissenes Gesicht, seine energischen, verärgerten Handgriffe. Schweigen ist so facettenreich wie reden, und ich spüre, dass Juans Wortlosigkeit zu einem Zorn gehört, dessen Tiefe und Ursprung ich womöglich gar nicht kenne.
Sie schweigen, bis das Schicksal sie zwingt, das Schweigen zu brechen, aber bis dahin kann alles zu spät sein. Ich möchte nicht allzu viel verraten ...

Auch Almas Mutter schaffte es nicht, über ihre Probleme mit der Tochter zu reden, damit Alma die Chance gehabt hätte, ihre Mutter besser zu verstehen. Eine Mauer baute sich im Laufe des Lebens zwischen der Tochter und der Mutter auf. Alma versuchte als erwachsene Frau ihrer Mutter näher zu kommen. Dazu die Reaktion ihrer Mutter:
Wäre ein bisschen spät, wenn ich jetzt anfangen wollte, dir meine Probleme zu erzählen. (…) Wir können uns erzählen, was wir gerade lesen, können gemeinsam einen Sonntagnachmittag verbringen, Lola beim Großwerden zuschauen. Das ist weit mehr, als viele andere Mütter und Töchter miteinander teilen. 
Hier mache ich nun Schluss.

Aus dem Anhang ist zu entnehmen, dass es Tommy tatsächlich gegeben hat. Die Zeichnungen sind von ihm.

Mein Fazit zu dem Buch?
Manchmal geht das Leben, so sehr wir uns auch anstrengen, über uns hinweg. Was wir tun und was wir empfinden, liegt nicht ausschließlich in unserer Hand. Es wird auch davon bestimmt, was andere uns geben oder nehmen, was sie uns verschweigen, was sie zu uns sagen, von unserer Geschichte.
(Almas Mutter im Gespräch mit der Tochter)
Zu Annes Buchbesprechung 
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Auch nach der schwärzesten Nacht geht immer wieder die Sonne auf.
(Agatha Christie)

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Donnerstag, 3. Dezember 2015

Carla Guelfenbein / Der Rest ist Schweigen (1)

Lesen mit Anne ...

Eine von zwei Buchbesprechungen

Das Buch gefällt mir recht gut, muss aber sagen, dass ich ein wenig gebraucht habe, um mich reinzufinden. Die IcherzählerInnen wechseln nach jedem Kapitel und man benötigt etwas Zeit, bis man weiß, welche Figur nun aus deren Perspektive spricht. Wenn man aber die Figuren so langsam kennengelernt hat, dann fällt der Wechsel von der einen Stimme in die nächste auch nicht mehr so schwer. Manchmal sind die Geschichten auch zeitversetzt. Das ist ebenso ein wenig gewöhnungsbedürftig.

Die südamerikanische Schriftstellerin, die in England Biologie und Design studiert hat, kann wunderbar schreiben. Man findet einen super tollen kreativen Ausdruck vor, dazu noch sehr lebendig und sprachlich vielseitig. Gefällt mir gut. Damit mich am Ende nicht die vielen schönen Zitate erschlagen werden, schreibe ich jetzt ein paar Zeilen, auch damit sich mir die vielen Buchstaben von meinem geschriebenen Text nicht lösen und vor meinen Augen schwimmen. (Ja, ich sehe sehr schlecht, trotz neuer Sehhilfe, und meine Augen haben sich deutlich verschlechtert.)

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein. Wer ihn noch in Erinnerung hat, der kann den Klappentext gerne überspringen.
Das Wort trifft den kleinen Tommy wie ein Schlag, als er bei einem Familienfest unter dem Tisch hockt und lauscht: Selbstmord. Seine geliebte Mutter hat ihn freiwillig verlassen. Während der zarte Junge sich auf die Suche nach der verschwiegenen Wahrheit macht, ringen sein Vater, der arrivierte Chirurg, und dessen zweite Frau Alma ihrerseits mit all dem Unsagbaren, Ungesagten, an dem sie fast zu ersticken drohen. Wie Planeten mit einem heißen Kern aus Sehnsucht kreisen Tommy, Juan und Alma umeinander und bleiben sich auf ihren Umlaufbahnen doch fern. Erst als das Leben brutal dazwischenfährt, scheint so etwas wie Nähe wieder möglich - doch der Preis ist hoch.Clara Guelfenbein macht ihren Figuren ein Geschenk: sie lässt sie reden, von sich und denen, die sie lieben. In wechselnden Stimmen entfaltet sich so das Drama einer modernen Familie - bestürzend in seiner Unausweichlichkeit, aber auch voller Zärtlichkeit und Hoffnung.
Vielleicht bin ich mit den vielen unterschiedlichen Icherzählern so irritiert gewesen, weil ich nur mit Tommy gerechnet habe, der die Menschen beobachtet und über diese spricht, wobei der Klappentext seine Leserinnen darauf vorbereitet, dass auch andere aus Tommys Familie zu Worte kommen.

Tommy, der sich von seiner Mutter, die noch leben könnte, wäre sie nicht freiwillig aus dem Leben geschieden, verlassen fühlt, wird vielleicht für sein Leben geprägt sein. Obwohl er eine Stiefmutter hat, die ihn liebt wie ihr eigenes Kind, denkt Tommy immer wieder an seine leibliche Mutter. Den Grund des Suizids konnte er noch nicht in Erfahrung bringen.

Würdet ihr lieber leiden oder tot sein? fragt der kleine Tommy seine Stiefmutter Alma und deren Jugendfreund Leo, der bei ihnen auf Besuch ist. Als die beiden unisono mit Leiden geantwortet haben, dachte der Junge an seine Mutter, die sich für den Tod entschieden hatte.

Tommy rechnet aus, wie viele Formen es geben könnte, sich selbst in den Tod zu treiben.

Mit welchen ernsten Gedanken schon kleine Kinder beschäftigt sind. Das Schicksal, das sie dazu treibt.

Leo und Alma lesen sehr gerne, lieber als alles andere auf der Welt. Als Leo von Alma die Frage gestellt bekommt, weshalb das Lesen für ihn so wichtig sei, kommt folgende Antwort:
Wahrscheinlich weil ich beim Lesen in eine Welt hineingehen kann, die neben meiner herläuft. 
Ja, das kann ich sehr gut nachvollziehen.

Doch Leo liest nicht nur gerne, er schreibt auch recht viel. Alma ist sicher, dass er ein guter Schriftsteller abgeben würde.
Wieso bist du dir da so sicher? fragt Leo ein wenig ungläubig und gleichzeitig hoffnungsvoll.
Weil du gut lügst, war die Antwort.
Eine recht interessante Antwort, über die ich gestolpert bin, da für mich die belletristischen Bücher eine andere Form von Wahrheit in sich tragen. Eine Wahrheit, die zum Beispiel ins Unbewusste führt.

Nachtrag zu Tommys leiblicher Mutter
Habe noch vergessen zu erwähnen, dass auch der Leserin der Grund des Suizids noch verschlossen ist. Man erfährt lediglich, dass Tommys Mutter, namens Soledads, als eine zartbesaitete Persönlichkeit beschrieben wird. Sie hatte Kunstgeschichte studiert und durch die Krankheit ihres Sohnes gab sie ihre Karriere auf. Tommy wurde mit drei Jahren an einer schweren Herzerkrankung operiert und die Mutter verbrachte jede Minute mit ihrem Kind. Eine Wesensänderung nahm Tommys Vater, Juan, allmählich wahr.


Dienstag, 3. November 2015

Daniel Pennac / Wie ein Roman (1)

Lesen mit Anne


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Wie schon gesagt, das Buch hat mich nicht besonders angesprochen  und werde auch nicht viel dazu schreiben. Und Anne hat es auch nicht gefallen. Sie hat das Buch nach siebzig Seiten abgebrochen.

Das Buch war mir ein wenig zu belehrend, zu wegweisend, vielleicht, weil ich selber aus der Pädagogik komme, und mir die Theorien nicht unbekannt sind. Mir war das Buch definitiv zu trocken. Habe nicht viel Neues erfahren …

Ich wusste nicht, zu welchem Genre das Buch einzustufen ist. Durch die hohen pädagogischen Anforderungen war es für mich erst als ein Erziehungsratgeber auf dem Gebiet der Literatur zu verstehen, und am Ende war es für mich auch ein Plädoyer vor allem für alle Deutschlehrer, Eltern, für Literaturwissenschaftler, aber auch für die Leser selbst.

Denn, das Recht Nummer drei, ein Buch nicht zu Ende zu lesen, hat mich als Leserin arg angesprochen, da ich mir bei einem Fehlgriff immer mit dem Abbrechen sehr schwertue und quäle mich oftmals bis zur letzten Seite. Anne hat von ihrem Recht Gebrauch gemacht. Hätte ich auch, wäre das Buch sehr viel umfangreicher an Seiten ausgefallen.

Wie ist es für (junge) Menschen, die gar keine Bücher lesen? Wie verhält man sich dabei als Deutschlehrer? Als Eltern? …
Schon das Bildmotiv auf dem Cover hilft, diese Frage zu beantworten. Man sollte z.B.  einem (jungen) Menschen, der es nicht gewohnt ist, Bücher zu lesen, die Literatur nicht mit moralischen Maßstäben herantragen. Kein Buch aufstülpen, nichts aufzwingen. Am besten auch den gehobenen Zeigefinger schön unten lassen, :-) . Besser sei es, in ihm die Neugier zu wecken, sodass der ungeübte (junge) Leser selbst Lust auf´s Lesen bekommt … Daniel Pennac weiß, wovon er schreibt, er selbst ist Französischlehrer und er schlägt mehrere Methoden vor, sodass ich dazu auf das Buch verweisen möchte.

Mir hat außerdem folgendes Zitat gut gefallen:

Man bemüht sich gerade (an Grundschulen) eifrig um bessere Lesemethoden. Man erfindet Lesekästen und Karten. Man macht aus der Kinderstube eine Druckerei. (…) Es ist ein Jammer! Das sicherste Mittel, das man aber immer wieder vergisst, ist natürlich der Wunsch, lesen zu lernen. Erweckt diesen Wunsch im Kinde; lasst eure Kästen und Würfel sein, und jede Methode ist ihm Recht. Das unmittelbare Interesse ist die einzige Triebfeder, die sicher und weit führt. (…).
Noch ein grundsätzliches Wort möchte ich anfügen: gewöhnlich erreicht man sicher und rasch, was man nicht übereilt.

Pennac zitiert aus dem Buch Emil oder über die Erziehung, von Jacques Rousseau.

Jacques Rousseau habe ich selbst auch in meinem Studium gelesen. Wie schön, daran wieder erinnert zu werden.

Wie kommt es, dass manche Bücher uns mehr liegen als andere? Dazu gibt es ein schönes Zitat:

Der große Roman, der sich uns widersetzt, ist nicht unbedingt schwieriger als irgend ein anderer. Zwischen ihm, so groß er auch sein mag, und uns, durchaus fähig, ihn zu >>verstehen<<, wie wir meinen, findet eine bestimmte chemische Reaktion nicht statt.

Wie im richtigen Leben mit unseren Mitmenschen. Stimmt die Chemie, umso leichter lässt sich der Umgang miteinander gestalten. Aber manchmal, so meine Sicht, versteht man ein Buch tatsächlich nicht ...

Zu Annes Buchbesprechung


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Auch nach der schwärzesten Nacht geht immer wieder die Sonne auf.
(Agatha Christie)

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Montag, 5. Oktober 2015

J. R. Moehringer / Knapp am Herz vorbei (1)

Lesen mit Anne ...

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Nun bin ich mit dem Buch durch, das sich als eine Biografie zu einem versierten Bankräuber namens Willie Sutton erwiesen hat, der tatsächlich existiert hat. Geboren ist Sutton im Jahre 1901 in Boston, Bundesstaat New-York. Eine sehr interessante Persönlichkeit, die ein wenig den Geist des Robin Hoods besitzt.

Diese Lektüre hat mich nicht mehr losgelassen. Habe jede Seite mit vollem Interesse verfolgt. Der Autor hat mich mit diesem Buch schlichtweg geschwängert an Gedanken, lol. Das sind so viele, die ich hier nicht alle festhalten kann. Ein tolles Buch zu Amerika und seiner Gesellschaft. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten … Von wegen. So einfach ist das dann doch nicht. Das Land, das es nur mit den Wohlhabenden gut meint. Das angeblich freie Amerika produziert sowohl Gewinner als auch Verlierer, wobei die Gewinner die Wohlhabenden sind, die ihren Wohlstand  zu vermehren wissen. In der Zeit der Depression, dem Bankencrash, der Weltwirtschaftskrise. Amerika, das parallel dazu mehr als 14 Mio. Arbeitslose bis zum Ende der 1930er Jahre zählte.

Das Buch erinnert mich deutlich an den deutschen Autor Hans Fallada. Die Nöte der Menschen, die aus den unteren Gesellschaftsschichten stammen, haben es schwer, zu überleben.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
New York, Weihnachten 1969. Willie Sutton packt seine Bücher ein und räumt die Zelle. Endlich Freiheit. Nach siebzehn Jahren. Doch die Zeit hat ihre Bedeutung verloren. Mit einem Fotografen und einem Reporter fährt er durch das verschneite New York auf den Spuren seiner legendären Vergangenheit: Die Kindheit im irischen Viertel, der erste Raub, dann 200 Banküberfälle, ohne je einen einzigen Schuss abzufeuern - und immer wieder Bess, die ihm das Herz brach. Wie ein Puzzle setzt sich Seite für Seite Suttons Leben zusammen. Was dabei Wirklichkeit und was Erfindung war, werden wir nie erfahren. Aber was macht das schon. 
In der Welt gibt es keinen Platz für mittellose Menschen. Willie gehört dazu. Nachdem er die Schule beendet hatte, er ging nicht auf eine weiterführende Schule, obwohl er Klassenbester war, da sich die Familie diese nicht leisten konnte, versuchte er auf dem freien Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden.
Immer mal wieder kurze Arbeitsstellen, mit immer neuen Entlassungen, obwohl Willie fleißig war, doch die miese wirtschaftliche Lage konnten neuen Angestellten nur befristete Verträge anbieten.

Willie wälzt sämtliche Stellenangebote durch, doch alle verlangen beste Referenzen und Berufserfahrung. Selbst zum Tellerwäscher werden Kompetenzen und Referenzen eingefordert … Wie soll ein Schulabgänger      Berufserfahrung nachweisen können? Wie, wenn ein Berufsanfänger diese Chance nicht mal bekommt?

Für mich zählt Willie zu den Verlierern der Gesellschaft. Schon seine Kindheit verlief schräg. Seine erste Liebe mit Bess erweist sich auch als recht kompliziert, die genauso wenig Beständigkeit zeigt … Willie fühlt sich zu einer Prostituierten namens Wingy hingezogen, der eher in ihr eine Freundschaft sucht und kein Liebesleben ...

Den ersten Raubüberfall verursachte Willie durch Bess, die ihn dazu brachte, den Tresor ihres Vaters zu knacken …

Willie entwickelte sich zu einem Serientäter. Dadurch, dass er keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, erwarb er viel Sympathie unter dem Volk. Während seiner Einbrüche gab es keine Toten und auch keine Verletzten. Und mit dem erworbenen geraubten Geld bereicherte er auch andere bedürftige Menschen. Er lebte nach dem Motto, wenn die Reichen mir keine Arbeit geben können, dann muss ich mir holen, was andere zu viel haben.

Die Einbrüche machte Willie zu seiner Berufung … Er war damit nicht allein. Er hatte Komplizen. Doch Willie erwies sich als der Sanfteste von allen …

Er wusste, dass seine Einbrüche nicht rechtens waren, sie waren falsch, jawohl, das wusste er, aber es sei auch falsch, dass er Hunger hatte, und kein Geld, um sich Nahrung zu beschaffen.

Willie war nicht nur ein Räuber, nein, er war auch eine echte Leseratte. Er konnte ganze Stunden in Bibliotheken zubringen. Er war auch ein Fan von Marcel Proust. Er las alle seine Bände im Knast. Die Journalisten berichteten darüber in den Zeitungen, und so wurden die Buchläden von Lesern bestürmt, die, beeinflusst durch Willie, nun auch alle Proust lesen wollten ...
Als die Bücher im Knast knapp wurden, lernte er ganze Bücher auswendig, um sie für immer im Kopf zu behalten. Eine starke Leistung …

Mein Fazit?
Das Buch liest sich wie ein Krimi, nur ist es besser als ein Krimi. Viel authentischer, während Krimis oftmals szenisch zu künstlich dargestellt werden, weil die Aktionen eher erfunden sind. Moehringer ist durch seine journalistische Tätigkeit näher an kriminalistiche Fälle. Man merkt dem Autor seine Professionalität und seine Erfahrung an. Und er ist nicht irgendein Journalist. Nein, er ist aus meiner Sicht ein ganz besonderer, schreibbegabter und ein empathischer, menschlicher noch dazu, der den Menschen, die es schwer in der amerikanischen Gesellschaft haben, seine Stimme leiht.

Anne ist ebenso von dem Buch angetan. Wir werden uns am kommenden Freitag telefonisch austauschen ...

Annes Buchbesprechung

Geeignet ist das Buch nicht, so seid gewarnt, für VeganerInnen ...  Tieren gegenüber findet man recht heftige Szenarien, die mich schon regelrecht geschüttelt haben, aber Realität pur. Weltweit werden Tiere brutalst geschändet und jedes Land auf eine besondere Art und Weise. Auch die tierhafte Nahrung hat mich geschüttelt. 

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten …

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Auch nach der schwärzesten Nacht geht immer wieder die Sonne auf.
(Agatha Christie)

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