Freitag, 5. Februar 2016

David Foenkinos / Charlotte (1)

Lesen mit Anne ...


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ein sehr schwermütiges Buch, eines von der heftigsten Sorte, eines, das ich bisher in dieser Art noch nicht gelesen habe. Schon das Cover ist von einer tiefen Traurigkeit gezeichnet ... Und in der Tat, es lastet eine seelische Schwere in den Lebensläufen mancher ProtagonistInnen …

Beginnen möchte ich gleich vorneweg mit Charlottes Großmutter mütterlicherseits, bevor ich erneut den Klappentext reingebe, in dem alles Notwendige drinsteht, da ich selbst nicht allzu viel verraten möchte:

Das Drama um ihre beiden Töchter. Es war nur der Höhepunkt einer ganzen Serie von Selbstmorden. Schon ihr Bruder war ins Wasser gegangen. Weil er so unglücklich in seiner Ehe war. Er war promovierter Jurist, und erst 28, als er starb. Tagelang blieb sein Leichnam im Wohnzimmer aufgebahrt. Und die Familie schlief an seiner Seite.
Sie wollte ihn nicht gehen lassen.Die Wohnung sollte sein Grab sein.

Diese Vorstellung, das Wohnzimmer zu einer Grabstätte umwandeln zu wollen, fand ich schon außergewöhnlich von der Idee her, wäre nicht dieser Verwesungsgeruch, der sich in dem Raum breitmachte, denn ... 

… erst der Verwesungsgeruch bereitete dem Spektakel ein Ende. Als man ihn wegtrug, versuchte die Mutter, ihren Sohn zurückzuhalten. Den Tod konnte sie hinnehmen, nicht aber, dass man ihn fortschaffte.

Der Tod der vielen Suizidentinnen und Suizidenten basierte nicht aus den Folgen des Nationalsozialismus´, wie ich erst kurz zu glauben versucht habe. Die Unglücklichen schieden aus dem Leben, da gab es den Hitler in Deutschland noch nicht. Es ist wirklich eine sehr tragische Lebensgeschichte, in der sich die Depression von einer Generation in die nächste schleicht und sich an deren Seele festkrallt. Nicht zu vergessen, dass das Leben der Charlotte Salomon keine fiktive Figur ist, sondern eine sehr begabte Malerin, die es wirklich gegeben hat, die von den Nazis 1944 vergast wurde.

 Nun wird es Zeit, zur  Erinnerung erneut den Klappentext reinzugeben:

„Das ist mein ganzes Leben“ – mit diesen Worten übergibt Charlotte 1942 einem Vertrauten einen Koffer voller Bilder. Sie sind im französischen Exil entstanden und erzählen, wie sie als kleines Mädchen, damals im Berlin der 1920er, nach dem Tod der Mutter das Alleinsein lernt, während sich ihr Vater, ein angesehener Arzt, in die Arbeit stürzt. Dann die Jahre, in denen das kulturelle Leben wieder Einzug hält bei den Salomons. Die Stiefmutter ist eine berühmte Sängerin; man ist bekannt mit Albert Einstein, Erich Mendelsohn, Albert Schweitzer. Charlotte beginnt zu malen, und es entstehen Bilder, in denen dieses einzelgängerische, verträumte Mädchen sein Innerstes nach außen kehrt, Bilder, die von großer Begabung zeugen. Doch dann ergreift 1933 der Hass die Macht, es folgen Flucht, Exil, aber auch Leidenschaft und Heirat. Nur ihre Bilder überleben – Zeugnis ihrer anrührenden Geschichte, die David Foenkinos nahe an der historischen Realität entlang erzählt.

Charlotte, die schon recht früh diese menschlichen Verluste hat hinnehmen müssen, fühlt sich von der Welt nicht ausreichend geliebt. Sie bewundert ihre beste Schulfreundin, die ihre Zeit nun lieber mit einer neuen Schulkameradin verbringt. Charlotte wundert sich, wie schnell die neue Schulkameradin Freundschaften zu schließen in der Lage ist:

Manche haben eben die Gabe, geliebt zu werden.Charlotte hat Angst, von allen im Stich gelassen zu werden. Am besten gar keine Freundschaft mehr schließen. Es ist doch sowieso nichts von Dauer. Man muss sich vor möglichen Enttäuschungen schützen. 

Charlotte erfährt erst sehr spät, dass die Mutter den Freitod wählte. Der Vater wollte seine Tochter emotional schonen. Als sie klein war, fünf Jahre alt, bereitete ihre Mutter sie auf das Weggehen vor. Sie würde zu den Engeln fliegen und sie würde ihr Kind vom Himmel aus immer beschützen. Als die Mutter schließlich tot war, war die fünfjährige Charlotte nicht traurig, denn sie glaubte fest daran, dass ihre Mutter bei den Engeln sei und sie von oben hinunterschauen würde. Das Kind tröstete mit diesen Worten den weinenden Vater.

Dies waren ein paar Szenen, die mich sehr beschäftigt haben, so sehr betroffen haben sie mich gestimmt.

Charlotte ist als Nachwuchskünstlerin mehr als erfolgreich. An der Kunsthochschule sollte sie mit ihren Bildern den ersten Preis erwerben, aber durch den Nationalsozialismus konnte sie als die beste Malerin nicht nominiert werden, da sie jüdischer Abstammung war, also ging der Preis unverdientermaßen an ihre Kommilitonin, die ihn ausgiebig zu feiern wusste. Man wollte Charlotte vor den Nazis schützen. Und so konnte Charlotte nur zugucken, wie ihr Preis an jemand Arisches verliehen wurde. 

Dann verkündete der Professor mit tonloser Stimme: Der erste Preis geht an Charlotte Salomon. Augenblicklich macht sich Unbehagen breit. Unmöglich, dass sie den Preis bekommt. Das würde zu viel Aufsehen erregen. Die Schule sei von jüdischen Elementen unterwandert, hieße es. Die Gewinnerin würde ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Sie könnte das Ziel von Anfeindungen werden. Womöglich würde man sie sogar ins Gefängnis bringen. 

Charlotte ist ein sehr introvertierter junger Mensch. Innerlich zurückgezogen, verträumt und auch recht nachdenklich. Sie lässt andere Menschen an ihrer Innenwelt nur über ihre gemalten Bilder teilnehmen. Man kommt schwer an sie heran. Selbst die Großeltern finden kaum Zugang zu ihr. Charlotte entwickelt immer mehr ernste Charakterzüge ihrer suizidierten Mutter, die wiederum den Tod ihrer Schwester nicht hat verwinden können. Obwohl schon viele Jahre dazwischen lagen. Charlotte trägt schon alleine durch ihren Vornamen eine große Last, denn ihre suizidierte Tante, Mutters Schwester, ist ihre Namensvetterin.

Charlottes Vater, der als angesehener Chirurg in seine Arbeit flüchtet, heiratet neu. Eine Sängerin namens Paula, die in der Öffentlichkeit einen guten Ruf genießt. Paula ist keinesfalls eine Stiefmutter, wie sie im bösen Märchen beschrieben wird. Sie ist sehr um Charlotte bemüht und ersetzt ihr die Mutter bestmöglich. Es entwickelt sich eine recht liebevolle Mutter-Kind-Beziehung.

Da der Nationalsozialismus immer weitere Kreise zieht, und das Leben in Deutschland für die Juden immer enger zu werden droht, reist Charlotte auf den Druck ihres Vaters und ihrer Stiefmutter hin ihren Großeltern nach Frankreich nach und lebt dort im Exil. Charlottes Vater wurde einmal von der Gestapo abgeholt und ins Arbeitslager gebracht. Dank Paula, die es schaffte, ihn da wieder rauszuholen, doch er war nicht mehr derselbe. Zuviel hatte er im Arbeitslager gesehen, weshalb er nun darauf bestand, dass Charlotte Deutschland so schnell wie möglich verlassen sollte.

Charlotte lässt nicht nur ihre Eltern zurück, sondern auch ihre erste große Liebe.

Was danach kommt, ist dem Buch zu entnehmen.

Mein Fazit?

Der Autor David Foenkinos hat supergut über das Leben der Charlotte Salomon recherchiert und gekonnt über ihr Schicksal und das ihrer Angehörigen geschrieben. Sehr ausdrucksstark und empathisch habe ich das Buch erlebt. Er konnte sich wirklich gut in diese Menschenschicksale hineinversetzen.

Der Schluss hatte mich auch recht nachdenklich gestimmt. Die Eltern flohen in die Niederlande und hatten Glück, dass sie dort den Nationalsozialismus überleben konnten. Dass Charlotte in Frankreich nicht dasselbe Glück ereilte, erfüllte sie mit tiefer Trauer und mit lebenslangen Schuldgefühlen.

Für mich sehr gewöhnungsbedürftig war allerdings der Schreibstil. Der Autor wählte die Prosa in Versen, sodass das flüssige Lesen nicht möglich war. Absicht? Wahrscheinlich, damit man nicht rasend zu den nächsten Seiten eilt. Mir kam das Lesen ein wenig stockend vor, hat aber nichts an der Qualität des Inhalts eingebüßt. Das Stocken habe ich als angenehm empfunden; kurz aufhören zu lesen, um das Gelesene innerlich wirken zu lassen.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.


Nachtrag: Telefonat zwischen Anne und mir:

Wir haben beide dasselbe empfunden, ein sehr trauriges Buch, das einen emotional aufwühlt. Auch Anne stimmte die Biografie sehr nachdenklich. Ein Plädoyer an die Nachwelt, die Welt menschlicher zu machen, indem man aus der Geschichte lernt. Nicht weggucken, nicht vergessen, sondern das Schicksal dieser Opfer mittragen und emotional aushalten. Das ist man ihnen schuldig. 

Und hier geht es zu Annes Buchbesprechung

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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)


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