Lesen mit Anne ...
Eine Buchbesprechung zur o. g.
Lektüre
Ein sehr schwermütiges Buch, eines von
der heftigsten Sorte, eines, das ich bisher in dieser Art noch nicht gelesen habe. Schon das
Cover ist von einer tiefen Traurigkeit gezeichnet ... Und in der Tat, es lastet
eine seelische Schwere in den Lebensläufen mancher ProtagonistInnen …
Beginnen möchte ich gleich vorneweg mit
Charlottes Großmutter mütterlicherseits, bevor ich erneut den Klappentext
reingebe, in dem alles Notwendige drinsteht, da ich selbst nicht allzu viel verraten möchte:
Das Drama um ihre beiden
Töchter. Es war nur der Höhepunkt einer ganzen Serie von
Selbstmorden. Schon ihr Bruder war ins Wasser gegangen. Weil er so
unglücklich in seiner Ehe war. Er war promovierter Jurist, und erst 28,
als er starb. Tagelang blieb sein Leichnam im Wohnzimmer
aufgebahrt. Und die Familie
schlief an seiner Seite.
Sie wollte ihn nicht gehen lassen.Die Wohnung sollte sein Grab
sein.
Diese Vorstellung, das Wohnzimmer zu
einer Grabstätte umwandeln zu wollen, fand ich schon außergewöhnlich von der
Idee her, wäre nicht dieser Verwesungsgeruch, der sich in dem Raum breitmachte,
denn ...
… erst der
Verwesungsgeruch bereitete dem Spektakel ein Ende. Als man ihn wegtrug,
versuchte die Mutter, ihren Sohn zurückzuhalten. Den Tod konnte sie
hinnehmen, nicht aber, dass man ihn fortschaffte.
Der Tod der vielen Suizidentinnen und
Suizidenten basierte nicht aus den Folgen des Nationalsozialismus´, wie ich
erst kurz zu glauben versucht habe. Die Unglücklichen schieden aus dem Leben,
da gab es den Hitler in Deutschland noch nicht. Es ist wirklich eine sehr
tragische Lebensgeschichte, in der sich die Depression von einer Generation in
die nächste schleicht und sich an deren Seele festkrallt. Nicht zu vergessen,
dass das Leben der Charlotte Salomon keine fiktive Figur ist, sondern eine sehr
begabte Malerin, die es wirklich gegeben hat, die von den Nazis 1944 vergast
wurde.
Nun wird es Zeit, zur
Erinnerung erneut den Klappentext reinzugeben:
„Das ist mein ganzes Leben“ – mit diesen Worten übergibt
Charlotte 1942 einem Vertrauten einen Koffer voller Bilder. Sie sind im
französischen Exil entstanden und erzählen, wie sie als kleines Mädchen, damals
im Berlin der 1920er, nach dem Tod der Mutter das Alleinsein lernt, während
sich ihr Vater, ein angesehener Arzt, in die Arbeit stürzt. Dann die Jahre, in
denen das kulturelle Leben wieder Einzug hält bei den Salomons. Die Stiefmutter
ist eine berühmte Sängerin; man ist bekannt mit Albert Einstein, Erich
Mendelsohn, Albert Schweitzer. Charlotte beginnt zu malen, und es entstehen
Bilder, in denen dieses einzelgängerische, verträumte Mädchen sein Innerstes
nach außen kehrt, Bilder, die von großer Begabung zeugen. Doch dann ergreift 1933
der Hass die Macht, es folgen Flucht, Exil, aber auch Leidenschaft und Heirat.
Nur ihre Bilder überleben – Zeugnis ihrer anrührenden Geschichte, die David
Foenkinos nahe an der historischen Realität entlang erzählt.
Charlotte, die schon recht früh diese
menschlichen Verluste hat hinnehmen müssen, fühlt sich von der Welt nicht
ausreichend geliebt. Sie bewundert ihre beste
Schulfreundin, die ihre Zeit nun lieber mit einer neuen Schulkameradin
verbringt. Charlotte wundert sich, wie schnell die neue Schulkameradin
Freundschaften zu schließen in der Lage ist:
Manche haben eben die
Gabe, geliebt zu werden.Charlotte hat Angst, von allen im Stich gelassen zu
werden. Am besten gar keine Freundschaft mehr schließen. Es ist doch
sowieso nichts von Dauer. Man muss sich vor möglichen Enttäuschungen
schützen.
Charlotte erfährt erst sehr spät, dass die Mutter den Freitod wählte. Der Vater wollte seine Tochter
emotional schonen. Als sie klein war, fünf Jahre alt, bereitete ihre Mutter sie
auf das Weggehen vor. Sie würde zu den Engeln fliegen und sie würde ihr Kind
vom Himmel aus immer beschützen. Als die Mutter schließlich tot war, war die
fünfjährige Charlotte nicht traurig, denn sie glaubte fest daran, dass ihre
Mutter bei den Engeln sei und sie von oben hinunterschauen würde. Das Kind
tröstete mit diesen Worten den weinenden Vater.
Dies waren ein paar Szenen, die mich
sehr beschäftigt haben, so sehr betroffen haben sie mich gestimmt.
Charlotte ist als Nachwuchskünstlerin
mehr als erfolgreich. An der Kunsthochschule sollte sie mit ihren Bildern den
ersten Preis erwerben, aber durch den Nationalsozialismus konnte sie als die
beste Malerin nicht nominiert werden, da sie jüdischer Abstammung war, also ging der Preis
unverdientermaßen an ihre Kommilitonin, die ihn ausgiebig zu feiern
wusste. Man wollte Charlotte vor den Nazis schützen. Und so konnte Charlotte
nur zugucken, wie ihr Preis an jemand Arisches verliehen wurde.
Dann verkündete der
Professor mit tonloser Stimme: Der erste Preis geht an Charlotte
Salomon. Augenblicklich macht sich Unbehagen breit. Unmöglich, dass
sie den Preis bekommt. Das würde zu viel Aufsehen erregen. Die Schule
sei von jüdischen Elementen unterwandert, hieße es. Die Gewinnerin würde
ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Sie könnte das Ziel von
Anfeindungen werden. Womöglich würde man sie sogar ins Gefängnis
bringen.
Charlotte ist ein sehr introvertierter
junger Mensch. Innerlich zurückgezogen, verträumt und auch recht nachdenklich.
Sie lässt andere Menschen an ihrer Innenwelt nur über ihre gemalten Bilder
teilnehmen. Man kommt schwer an sie heran. Selbst die Großeltern finden kaum
Zugang zu ihr. Charlotte entwickelt immer mehr ernste Charakterzüge ihrer
suizidierten Mutter, die wiederum den Tod ihrer Schwester nicht hat verwinden können.
Obwohl schon viele Jahre dazwischen lagen. Charlotte trägt schon alleine durch
ihren Vornamen eine große Last, denn ihre suizidierte Tante, Mutters
Schwester, ist ihre Namensvetterin.
Charlottes Vater, der als angesehener
Chirurg in seine Arbeit flüchtet, heiratet neu. Eine Sängerin namens Paula, die
in der Öffentlichkeit einen guten Ruf genießt. Paula ist keinesfalls eine
Stiefmutter, wie sie im bösen Märchen beschrieben wird. Sie ist sehr um
Charlotte bemüht und ersetzt ihr die Mutter bestmöglich. Es entwickelt sich
eine recht liebevolle Mutter-Kind-Beziehung.
Da der Nationalsozialismus immer weitere
Kreise zieht, und das Leben in Deutschland für die Juden immer enger zu werden
droht, reist Charlotte auf den Druck ihres Vaters und ihrer Stiefmutter hin
ihren Großeltern nach Frankreich nach und lebt dort im Exil. Charlottes Vater
wurde einmal von der Gestapo abgeholt und ins Arbeitslager gebracht. Dank
Paula, die es schaffte, ihn da wieder rauszuholen, doch er war nicht mehr
derselbe. Zuviel hatte er im Arbeitslager gesehen, weshalb er nun darauf
bestand, dass Charlotte Deutschland so schnell wie möglich verlassen sollte.
Charlotte lässt nicht nur ihre Eltern
zurück, sondern auch ihre erste große Liebe.
Was danach kommt, ist dem Buch zu
entnehmen.
Mein Fazit?
Der Autor David Foenkinos hat supergut
über das Leben der Charlotte Salomon recherchiert und gekonnt über ihr
Schicksal und das ihrer Angehörigen geschrieben. Sehr ausdrucksstark und
empathisch habe ich das Buch erlebt. Er konnte sich wirklich gut in diese
Menschenschicksale hineinversetzen.
Der Schluss hatte mich auch recht
nachdenklich gestimmt. Die Eltern flohen in die Niederlande und hatten Glück,
dass sie dort den Nationalsozialismus überleben konnten.
Dass Charlotte in Frankreich nicht dasselbe Glück ereilte, erfüllte
sie mit tiefer Trauer und mit lebenslangen Schuldgefühlen.
Für
mich sehr gewöhnungsbedürftig war allerdings der Schreibstil. Der Autor wählte
die Prosa in Versen, sodass das flüssige Lesen nicht möglich war. Absicht?
Wahrscheinlich, damit man nicht rasend zu den nächsten Seiten eilt. Mir kam das Lesen ein wenig stockend vor, hat aber
nichts an der Qualität des Inhalts eingebüßt. Das Stocken habe ich als angenehm
empfunden; kurz aufhören zu lesen, um das Gelesene innerlich wirken zu lassen.
Das Buch erhält von mir zehn von zehn
Punkten.
Und hier geht es zu Annes Buchbesprechung
Nachtrag: Telefonat zwischen Anne und mir:
Wir haben beide dasselbe empfunden, ein sehr trauriges
Buch, das einen emotional aufwühlt. Auch Anne stimmte die Biografie sehr
nachdenklich. Ein Plädoyer an die Nachwelt, die Welt menschlicher zu machen,
indem man aus der Geschichte lernt. Nicht weggucken, nicht vergessen, sondern das
Schicksal dieser Opfer mittragen und emotional aushalten. Das ist man
ihnen schuldig.
Und hier geht es zu Annes Buchbesprechung
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Wer sich im Vertrauten verirrt
oder in der Fremde verloren geht,
braucht nur eine fürsprechende Seele,
um sich gerettet zu fühlen.
(Petra Oelker)
Gelesene Bücher 2016: 06
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