Bildquelle: Pixabay |
Obwohl Anne und ich das Buch schon vor ein paar Tagen beendet haben,
überlege ich immer noch, welche Meinung ich mir darüber schlussendlich bilden
möchte. Ich halte die Autorin für sehr menschlich, weil sie sich mit den
gesellschaftlichen Nöten authentisch auseinanderzusetzen scheint. Ich habe sie
auf der fbm14 erlebt, auf der sie so ein tolles Interview gegeben hat, woraus
ich gerne einen kleinen Passus zitieren möchte.
Ingrid Noll bringt in der Regel nur Menschen um, die sie partout nicht leiden kann. Sie hetzt die Figuren gegeneinander auf, bis es zum Knall kommt. I. N. beklagt allerdings, dass die Figuren nicht immer das machen, was sie gerne möchte ... Und das deprimiert sie manchmal ;).
Es gibt kein reines Happy End, aber sie bestraft ihre Täter schon, allerdings nicht mit Zuchthaus, sondern in Form von Krankheit oder anderes.
Ja, das kann ich bestätigen, genau dies hat sich auch in ihrem hiesigen
Buch zugetragen. Nun weiß ich natürlich, weshalb manche Protagonist*innen am Ende ein besonderes Schicksalsereignis erfahren haben.
Diese Sichtweise hat in meinen Augen als Nichtkrimileserin mir sympathisch
werden lassen.
Viele interessante Themen hat sie in ihren Erzählstoff hineingelegt, aber
leider einige davon nur als Schlagwörter gebraucht, was mir, Anne geht es
ähnlich, nicht ganz ausgereicht hat, um mich / uns völlig zu befriedigen. Nun
fehlen uns die Vergleiche zu den anderen Werken, da für uns beiden dieser Band
der erste von Noll gewesen ist.
Hier geht es zum Klappentext, zum
Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.
Die Handlung
Trixi, die
Icherzählerin, zieht in das alte Bauernhaus ihrer verstorbenen Großtante
namens Emma, das ihre Mutter geerbt hat, und gründet darin eine Studenten-WG.
Es ziehen ein: Saskia, Martina und die beiden Pazifisten Oliver und Henry.
Das Haus müsste eigentlich komplett saniert werden, aber da Trixi das Geld
hierzu nicht hat, wird zusammen mit ihren Mitbewohner*innen selbst Hand
angelegt. Dafür dürfen sie mietfrei wohnen, müssen sich nur an den Auslagen
beteiligen.
Diese jungen Leute bezeichnen sich als ein Gegenwind einer Wegwerfgesellschaft,
wollen dadurch etwas Besonderes sein. Weniger angepasst und nicht so
abgedroschen wie andere ihres Alters.
Wenn ihr so angepasst und oberflächlich werden wollt wie unsere Altersgenossen - bitteschön. Die haben ja nur die Karriere im Kopf, die neueste Mode, das schnellste Auto, den exotischen Urlaub. Wahrscheinlich haben sie niemals Tomaten gepflanzt oder einen Schrank abgeschliffen. (107)
Sie haben viel vor. Neue Fenster einsetzen, Heizkörper müssen eingebaut
werden, da das Haus nur in einzelnen Räumen alte Öfen besitzt.
Auch sanitäre Anlagen müssen komplett ausgewechselt und zusätzlich neue
WC-Räume angelegt werden.
Es ist September, und sie müssen zügig ran, bevor die kalte Jahreszeit
anrückt, damit sie ihr Leben nicht in unbeheizten Räumen mit den undichten
Fenstern fristen müssen.
Alles allerdings können sie nicht selber machen, und benötigen für die neue
Ausstattung zur Anschaffung nicht nur das nötige Kleingeld, sondern auch die
Handwerker müssen ausbezahlt werden. Woher das Geld nehmen?
Doch die jungen Leute sind idealistisch, jeder packt an, selbst wenn ihr
Tun wie ein Tropfen auf dem heißen Stein zu wirken scheint.
Der alkoholsüchtige Nachbar Gerhard Gläser, ein alter Mann, der gut mit der Emma befreundet war, drängt sich den jungen Leuten auf, verhält sich außerdem noch recht seltsam. Ohne anzuklopfen steht er plötzlich im Haus, denn er besitzt einen Ersatzschlüssel der verstorbenen Großtante und ist auch nicht bereit, den Schlüssel wieder abzugeben. Gerhard Gläser besitzt allerdings nicht nur diesen Schlüssel, sondern auch jede Menge Geheimnisse. Dazu gehören bestimmte Goldmünzen aus dem Deutschen Reich von 1873, auf denen der Deutsche Kaiser Wilhelm der I abgebildet ist, die vor allem Trixi, Saskia und auch die von Sozialneid geplagte Martina vor schweren Herausforderungen stellt, die die gesamte WG umfasst.
Im Keller der Großtante finden erst Saskia und Trixi ein Säckchen mit 49
Goldmünzen, die zu diesem ominösen Nachbarn Gerhard Gläser führen.
Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Es waren mehrere. Die Szene mit dem Meerschweinchen, wobei dieses kleine
Tierchen aus einer Reflexreaktion heraus ums Leben kam, durch die theatralische Saskia, die
keine echte Berührung zur Natur hat. Sehr authentisch wurde diese Szene beschrieben.
Tragisch fand ich zudem den Ausgang mit Martina, die völlig wahnhaft in anderen Schränken schnüffelt, die Schatzkarte entdeckt, nach den Goldmünzen im
Nachbarsgarten gräbt und völlig in ihrem Rausch abdreht. Und jede
Menge andere Szenen …
Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Mir hat gefallen, dass
das Buch mit einer Weisheit bzw. mit einer wichtigen Erkenntnis geendet hat.
Das Zusammenleben kann nur wie in einem demokratischen Staat funktionieren. Man muss Verantwortung übernehmen, teilen lernen und andere Meinungen respektieren. (357)
Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Keine.
Welche Figur war mir antipathisch?
Trixis Vater.
Aber
weshalb Trixis Vater und nicht jemand von den Leuten aus der WG? Die jungen
Leute besitzen aufgrund ihres Alters noch jede Menge Entwicklungspotential, das
sie hoffentlich im Laufe ihres Lebens noch nutzen werden, während der blasierte Vater als
ein reifer Mensch eigentlich es nicht mehr nötig haben sollte, sich in den
Vordergrund zu stellen, und vor der eigenen Tochter über sich selbst zu
prahlen, um sein Selbstbewusstsein auf Kosten der Tochter künstlich noch weiter aufzublasen. Dazu habe ich weiter unten noch Weiteres geschrieben und mich hierbei an ein Zitat angelehnt.
Gerhard Gläser? War ein alter Mann, der schon von der Autorin gestraft
wurde.
Meine Identifikationsfigur
Keine.
Fand ich beides sehr passend. Saskia scheint in dieser Geschichte den Hauptgewinn gezogen zu haben. Zum Buchtitel gibt zu dessen Bedeutung drei Alternativen. Eine davon steht zwischen den Zeilen. Schön fand ich, dass die mitteleuropäische Figur auf dem Cover nicht klassisch blond abgebildet ist.
Zum Schreibkonzept
Das Buch beginnt mit
einem Inhaltsverzeichnis, das mit 24 Kapiteln betitelt ist. Der ganze Krimi
endet nach 357 Seiten.
Meine Meinung
Nolls Botschaft wurde
auch uns deutlich gemacht. Junge Leute, die sich nach einem unangepassten,
selbständigen Leben sehnen, die es allerdings auch nicht besser hinbekommen,
als ihre Altersgenossen. Auch sie schleudern Geld aus dem Fenster heraus,
sobald sie es in die Finger bekommen ...
Trixi, die ständig mit faustischen Zitaten um sich wirft, habe ich
ebenfalls als recht oberflächlich und völlig unpassend empfunden. Tiefe
Gespräche waren unter diesen Leuten nicht zu finden. Ständig haben sie über
andere gewitzelt und auch sich gegenseitig immerzu auf den Arm genommen, (vor allem zwischen der Zicklein und dem Hirten) was
mich schließlich, als ich mich an Nolls Humor zu gewöhnen begann, angefangen
hatte, mich zu nerven und zu langweilen. Ich bin sicher, dass das Verhalten dieser
Leute nichts mit dem Alter zu tun hat. Es gibt viele junge Menschen, die sehr
wohl zu tiefen Gedanken fähig sind. Der Faust hat hier partout nicht
reingepasst, völlig deplatziert. Schade um diese so schönen Zitate, die für den
trivialen Alltagsrausch missbraucht wurden.
Dass Oliver und Henry als Pazifisten bezeichnet wurden, fand ich auch nicht ausreichend gefüllt, da sie beide potenzielle Fleischkonsumenten sind. Das hat für mich überhaupt nicht zusammengepasst. Der Begriff Pazifist ist in dem gesamten Kontext nur einmal aufgetaucht, und man leicht dazu geneigt ist, diesen zu überlesen, wie auch Anne mir dies bestätigen konnte, da auch sie zugab, sich nicht mehr an diese Wortwahl erinnern zu können. Außerdem ist die Fleischlast innerhalb dieser WG so gravierend, dass ich hier keinen Unterschied sehe zur Lebensweise anderer gewöhnlicher Haushalten. Sollte dies tatsächlich als Kritik dargestellt worden sein, dann fehlen mir dazu konkrete Hinweise. Blind ein Statement hinein zu interpretieren liegt mir nicht, da ich Beweise benötige, an denen sich diese Interpretationen am Text festmachen lassen.
Wieso hat sich denn von den Mitbewohnerinnen niemand gefragt, weshalb Oliver und Henry sich neben dem Fleischkonsum als Pazifisten bezeichnen, wo in jeder Sekunde Milliarden von Tieren weltweit getötet werden? Solche Fragen stellen sich intelligente Menschen automatisch, das ist ein reiner Automatismus. Hier, in der WG, wurde der Pazifismus aber nicht in Frage gestellt, also interpretiere ich auch keine Deutung rein, dass Noll den Pazifismus nur kritisch gemeint haben soll.
Trixi scheint zwischendrin eine Ahnung zu bekommen, was die Gründe ihrer
Oberflächlichkeit sein könnten, da sie sich immer mal wieder kurz selbst reflektiert:
Bei uns zu Hause kreisten die Tischgespräche meistens um Bilanzen, geschäftliche Gewinne oder Verluste und fast nie um gesellschaftliche Probleme, alternative Lebensformen oder Politik, ganz zu schweigen von Kinofilmen, Ausstellung oder Theateraufführungen. (277)
Eine kritische Aufarbeitung damit kam auch nicht deutlich rüber, diese
fand nur in diesem einen Zitat statt. Ich vermisste diesbezüglich eine differenzierte Auseinandersetzung dazu mit den Mitbewohner*innen.
Dass es den jungen Menschen an echten Vorbilder*innen gefehlt hat, um ihre
Ideale ausleben zu können, ist von der anderen Seite auch sehr gut nachzuvollziehen. Ich denke,
dass es in vielen Elternhäusern nicht um innere Werte geht, die man bestmöglich in
die Gesellschaft bereichernd hineintragen könnte, sondern meist, wie man am
besten vorwärtskommt, ohne negativ aufzufallen. Denn auch Trixis Vater
scheint aus meiner Sicht ein echter Spießer zu sein, der die Empathie an
falscher Stelle walten lässt, als Trixi am Weihnachten verzweifelt zurück ins
Elternhaus flüchtet, um sich über die WG-Zustände auszuweinen. Der Vater setzt
alle Hebel in Bewegung, Trixi über die Weihnachtsfeiertage aus der WG zu
befreien und ohne ihr Einverständnis meldet er sie für eine geplante Seereise
an, die eigentlich für sich und für Trixis Mutter angedacht war. Mit einem Zitat von
Albert Einstein wendet er sich an die Tochter:
Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. (352)
Ich fand dieses Einstein-Zitat überhaupt nicht passend in Trixis Lage. Aber
das zeigt die Empathielosigkeit des Vaters, der die Situation der jungen Leute
völlig falsch einschätzt, ohne sich mal die Zeit zu nehmen, Lösungen zu finden,
die den jungen Menschen hätten helfen und wieder zusammenbringen können …
Das solltest du dir auch mal hinter die Ohren schreiben, denn ohne meine Initiative wärst du jetzt in deiner Bruchbude versauert. (Ebd)
Hier muss der Vater seine angeblich gute Tat noch besonders herauskehren, ist auch typisch, passt gut als Abbild bzw. als Prototyp zu dem belehrenden Umgangston unserer arroganten Gesellschaft.
Diese kritischen Szenen haben mir sehr gefallen, zeugen an Tiefe, aber leider waren sie nur kurz
angerissen.
Weiteres Schlagwort: Hakenkreuz
Anne und ich dachten,
dass der Krimi uns in die Hitlerzeit führen würde, da wir es auf der Seite 158
durch den alten Gerhard Gläser mit einem Hakenkreuz auf Trixis Heckscheibe zu
tun bekamen. Aber auch hier ist nichts weiter an Informationen und an weiteren Taten
erfolgt. Das Hakenkreuz entpuppte sich nur als ein Schlagwort, und wir glauben,
dass die Autorin ihre Leser*innen mit Absicht ein wenig auf eine falsche Spur navigieren wollte, um die
Spannung zu heben. Leider ist dies nur auf einer künstlichen Art erfolgt, die
nach unserem Geschmack nicht wirklich gepasst hat, und sich diese ganz schnell wie eine Seifenblase wieder aufgelöst hat.
Welches Menschenbild trägt Ingrid Noll noch zusätzlich in ihre Geschichte?
Vorurteile Türk*innen
gegenüber. Erst dachten wir, dass diese in den Köpfen von Henry und Trixi
spuken würden, als dann aber auf dem Flohmarkt eine türkische Großfamilie mit
ihrem Plunder auftaucht, waren wir nicht mehr sicher, ob das
nur die Vorurteile der Protagonist*innen sein sollten. Viele überlesen diese
Szenen, unbewusst aber werden diese stereotypen Bilder innerlich nur bestätigt
und weiter forciert. Vielen sind diese Vorurteile nicht einmal bewusst, was ich
besonders für gefährlich halte.
Mir sind jede Menge türkische Menschen bekannt, die aus Kleinfamilien kommen und
nicht jede tummelt sich auf Flohmärkten, nur um billig einzukaufen, und um
ihren türkischen Firlefanz loszuwerden. Ich kenne viele mit und ohne Kopftuch,
und die meisten mit einem modernen Weltbild behaftet.
Anne sagt mir, ich würde sehr bewusst lesen, und nun nutze ich diese
Bewusstheit, und mache sie hier zum Thema, um auf diese Vorurteile aufmerksam
zu machen.
Anne hatte selbst hierbei Orhan Pamuks Buch, Diese Fremdheit in
mir, erwähnt. Wer Pamuks Bücher kennt, der weiß, wie sehr der Autor
unter den vielen westlichen Vorurteilen leidet.
Hierbei möchte ich den niederländischen Autor Rutger Bregman aus dem Hörbuch Im Grunde gut zitieren, der von einem negativen Welt- und Menschenbild spricht, das uns durch die Medien herangetragen werden.
Geschichten sind nur selten Geschichten, denn sie wirken nicht selten wie ein Nocebo.
Klischeehafte Zuschreibungen waren aber auch in anderen Facetten zu finden,
gehe aber darauf nicht weiter ein.
Ich setze hier allerdings einen Cut. Ich könnte noch mehr schreiben, eine richtige
Analyse entwerfen, aber das würde mein Zeitfenster und den Rahmen hier noch weiter sprengen.
Mein Fazit
Ein Krimi, der sich
nicht wirklich zu einem Krimi entpuppen konnte. Eine Schuldfrage zum Tatort hat sich nicht mehr gestellt. Ein Gesellschaftsroman? Dafür
hat es auch nicht gereicht. Es wurden, wie gesagt, viele gute Themen aufgegriffen, die aber
in der Oberflächlichkeit leider untergegangen sind. Anne und ich vermissten beide hierzu
den roten Faden.
Aber ich kann versichern, dass es zu dem Buch wunderbare Interpretationen gibt, die mir besser gefallen haben als das Buch selbst. Hierbei ein großes Dankeschön an Conny Ruoff, die allgemein plausibel ihre Eindrücke zu Ingrid Nolls Schreibart geschildert hat, die mich noch lange beschäftigt haben. Diese und unsere nur recht kleine Konversation hierzu sind auf der Facebook - Seite von Diogenes backlistenlesen nachzusehen.
Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Durch meine
Lesepartnerin Anne, die mir folgendes Zitat per WhatsApp zugeschickt hat:
Echte Spießer sind nach meiner Meinung nur solche Menschen, in deren Köpfen weder Toleranz noch Empathie einen Platz gefunden hat. (7)
Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck, einfach-dennoch gewählt
1 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur vorhanden
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.
9 von 12 Punkten
Hier geht es zu Annes Buchbesprechung.
________________
Gelesene Bücher 2021: 04
Gelesene Bücher 2020: 24
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86
Ich
lese mit Herz und Verstand!
Um die Welt, Menschen und Tiere
besser zu verstehen.