Sonntag, 1. Dezember 2019

Simone Lappert / Der Sprung (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Mir hat das Buch im Ganzen recht gut gefallen, wenn mich auch nicht alle Szenen überzeugen konnten, weil sie mir etwas zu dick aufgetragen waren. Mir hat die Sprache sehr gut gefallen und auch der tiefe Blick in die Thematik hat mich sehr angesprochen. An manchen Stellen erwies sich mir die Geschichte etwas zu langatmig, man hätte deutlich abkürzen können. Einige Figuren haben mitunter nicht dazu gepasst.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Gleich zu Beginn der Handlung bekommt man mit, wie an einem heißen Sommertag eine junge Biologin mit dem Kurznamen Manu auf dem Dach eines Mietshauses steht, um einen Suizid zu begehen. Die Handlung spielt in einem kleinen Dorf namens Thalbach. Warum will Manu springen? Was ist passiert? Welche Verzweiflungstat führt sie in diese Handlung? Fragen, die mich gleich zu Beginn beschäftigt haben. Lange bekommt man keine Antwort. Ich musste geduldig abwarten, durch viele Charaktere anderer Figuren wandeln, bis ich erfahren konnte, was mit Manus Psyche tatsächlich los war. Manu ist eigentlich eine recht interessante Persönlichkeit, die verwaiste oder schlecht geführte Pflanzen anderer Leute stiehlt, um ihnen bei sich ein besseres, artgerechteres Zuhause zu schenken. Viele Menschen halten allerdings Manu für verrückt, glotzen sich die Augen aus ihren Köpfen raus, und können den Sprung nicht abwarten, bis er endlich vollzogen wird, denn Manu lässt sich damit viel Zeit. Polizei und Feuerwehr schreiten ein, und je mehr Profis zum Einsatz kommen, desto mehr sollte sich der Sprung in die Länge ziehen. Die Menschen unten schreien ihr böse Worte zu, dass sie z. B. eine Memme sei.
>>Spring doch endlich, du Pussy! (…) Na los, spring runter!<< (154)

Manu wurde immer unsicherer, und fing an, Dachziegel auf die Menschen zu werfen. Selbst die Polizei hat es nicht geschafft, die ganze Sache unter den neugierigen Menschen zu entschärfen, sodass sich der Platz trotz Absperrung immer mehr zu füllen begann ...

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Darunter befanden sich einige Szenen. Aber vor allem hat mir nicht gefallen, dass die Polizei die neugierigen Menschen nicht zu unterbinden wusste. Einige Leute hatten sich auf Klappstühlen gesetzt, um nichts von dem Spektakel zu verpassen. Sie zückten Kameras, drehten Videos … Ist das tatsächlich so passiert?

Mir hat auch nicht gefallen, dass die Polizei so ausgerüstet war, als hätte sie es nicht mit einer verzweifelten Person zu tun, sondern mit einer Schwerverbrecherin.
>>Kein Wunder, dass sie Angst hat, runterzukommen. (…) Die sehen ja zum Fürchten aus mit ihren Schildern und Helmen. (229)

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Es waren zwei Szenen. Finn, ein junger Mann, der Manu kannte und sie mochte, zeigte Zivilcourage und stellte sich gegen die Lästerer, die Manu für eine Verrückte hielten.
>>Die Verrückten sind immer die anderen, nicht wahr? (…) Findet ihr das geil, da draußen zu hocken und Sandwiches zu essen und Eis und Kekse und euch überlegen zu fühlen und die Ärmel hochzukrempeln, damit ihr beim Gaffen schön braun werdet, he? Findet ihr das geil? Gibt euch das ein gutes Gefühl? Erbärmlich seid ihr, einfach erbärmlich! << (164)

In einer weiteren Szene hat mir die Teenie Winnie gefallen, die einer Gleichaltrigen geholfen hat, ihren Freund auszutricksen, der sie unter Druck setzen wollte. Wenn sie nicht bald mit ihm schlafen würde, würde er ein Foto von ihr, auf dem sie oben ohne abgebildet war, öffentlich ins Netz stellen.  

Welche Figuren war für mich Sympathieträger*innen?
Das waren für mich Finn und Winnie.

Welche Figuren waren mir antipathisch?
Edna und der Polizeibeamte Blaser.
Aber die beiden italienischen Figuren, die haben gar nicht dazu gepasst. Rennen von Mailand nach Deutschland als Modedesigner einem Hut hinterher, und ich habe nicht herausfinden können, was damit ausgedrückt werden sollte.

Cover und Buchtitel
Seit ich das Buch habe, habe ich mich gefragt, wer die Figur auf dem Cover sein könnte? Auf jeden Fall nicht Manu, was ich gut finde, sonst würde die Person sich für mich wie ein Stigma anfühlen. Vor ein paar Tagen, auf dem Weg zur Arbeit, kam mir der Gedanke. Für mich hat sich die Figur Achtung Spoiler, als Finn herauskristallisiert.

Zum Schreibkonzept
Auf den 334 Seiten ist die Geschichte folgendermaßen gegliedert:
Das Buch trägt am Anfang eine Widmung. Anschließend gibt es auf der folgenden Seite ein Gedicht von Newton, das sich mit der Schwerkraft beschäftigt. Was tut ein Körper, der fällt?

Das zweite Gedicht von Gnarls Barkley ist auf Englisch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass alle Menschen verrückt sind, nicht unwahrscheinlich ist.

Dann geht es mit einem Vorspann weiter, das, was die noch Unbekannte vor dem Sprung auf dem Dach fühlt. Sie spielt den Sprung gedanklich minutiös durch.

Auf der nächsten Seite beginnt das Kapitel mit Der Tag davor. Danach lernen wir die erste Figur namens Felix kennen, der in anderen Abschnitten von vielen anderen Figuren im Wechsel abgelöst wird, aber immer wieder in weiteren Kapiteln in Erscheinung tritt.

Der erste Tag beginnt auf der Seite 65. Auf der Seite 287 setzt sich das Buch mit Zweiter Tag fort. Das Buch endet technisch, wie es begonnen hat. Aber anstelle eines Vorspanns endet es mit einem abschließenden Bericht über den Sprung. Ganz am Schluss gibt es eine Danksagung.

Meine Meinung
Ein wirklich sehr interessantes Buch, wenn mich auch die Handlung nicht ganz überzeugen konnte. Dass dieser Akt des Sprunges sich über viele Stunden in die Länge zog, ohne dass die Polizei etwas zur Verhinderung beitragen konnte, hat mich ein wenig stutzig werden lassen. Mit etwas geschulter Psychologie schafft man es in der Regel schon, einen Menschen von einem Suizidversuch dieser Art abzuhalten, denn auch die Polizei wird regelmäßig psychologisch gebildet. Schwierig wird es bei Menschen, die ihre Verzweiflungstat ohne großes Nachdenken in die Tat umsetzen. Hierbei würde tatsächlich jede Hilfe zu spät kommen. Aber mit Manu hätte die Polizei fertig werden können. Wie Profis kamen sie mir nicht vor. Unglaublich war für mich auch, dass sich die Gaffer, nachdem sie sahen, dass die Frau sich mit dem Sprung viel Zeit lassen würde, sie sich auf Klappstühlen gemütlich gemacht haben. Das ist eigentlich strafbar. In der Regel unterbindet die Polizei solch ein Verhalten. Zumindest hier in Deutschland. Hat die Autorin das wirklich so erlebt?
Manche hatten sich auf dem Platz gemütlich eingerichtet, die Liegestühle von den Balkonen heruntergetragen, Badetücher und Picknickdecken ausgebreitet. (155)

Warum tun Menschen das?
Leute, die sich durchs Zuschauen, überlegen fühlen, ihre Kraft aus der Schwäche anderer entwickeln. (Ebd)

Könnte eine Antwort auf die Frage sein, wobei Lappert nicht nur eine mögliche Antwort dazu geliefert hat. Es bleibt aber noch viel Spielraum für eigene Gedanken.

Ich denke hierbei an das Mittelalter, in dem z. B. kriminelle Straftäter öffentlich am Galgen hingerichtet wurden, und eine Masse an sensationshungrigen Menschen es nicht abwarten konnte, bis der Kopf endlich zum Rollen gebracht wurde. Wir Menschen haben uns technisch weiterentwickelt, aber unsere Gefühle sind trotz besserer Schulbildung noch genauso primitiv geblieben wie einst.

Mein Fazit
Auf jeden Fall ist dies ein wichtiges Buch, das sich für mehr Mitmenschlichkeit und für mehr Empathie ausspricht. Tolle Sprache und viele schöne Sätze, die mit vielen weisen Bildern und Gedanken verziert waren. Man merkt ganz deutlich, dass Simone Lappert sich viele Gedanken über diese brisante Thematik gemacht hat. Hierbei fällt mir ein, dass sie auf der diesjährigen Buchmesse gesagt hat, dass sie, um eine Manu wirklich verstehen zu können, selbst auf ein Dach gestiegen ist, und sie sich einen Sprung nach unten versucht hat in allen Details vorzustellen.

Dies in sich hineinfühlen einer anderen Person ist ihr gelungen. Sie weiß absolut, wovon sie schreibt.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen,Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Elf von zwölf Punkten.

 Vielen herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars. 
________________
Vertraue auf dein Herz.
Denn dann gehst du niemals allein.
(Temple Grandin)

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Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)


3 Kommentare:

Anne hat gesagt…

Tja, unsere Polizei - ich bin zwiegespalten. Einerseits lese ich in unserer Tagespresse, was sie alles Gutes tut, gerade gemeinsam mit Kindern. Und dann lese ich überregional ganz andere Sachen.
Mutig von der Autorin, sich da oben selbst hinzustellen, ich könnte das Nicht. Wirst Du an ihr dran bleiben, Mira?

Liebe Grüße, Anne-Marit

Mirella Pagnozzi hat gesagt…

Ja, ich würde gerne dran bleiben. Ich mag feinfühlige Autor*innendazu noch mit so einem tiefen Blick in die menschliche Seele. Ich weiß noch, als Benedict Wells unter den Schriftstellern bei Diogenes geboren wurde, bin ich auch dran geblieben und habe bisher alle seine Werke gelesen. Simone Lappert ist eine junge Autorin, die noch viel Zeit hat, weitere Bücher zu schreiben.

Mirella Pagnozzi hat gesagt…

Liebe Anne,
ich habe nochmals über Deinen Kommentar nachgedacht. Solche Typen wie dieser Polizist Blaser, die gibt es schon auch bei der Polizei. Den stelle ich nicht in Frage. Aber er war nicht alleine. Der Kollege Felix hätte es schaffen können, wenn er nur gedurft hätte, Manu vom Dach zu holen. Es waren noch so viele andere professionelle Helfer*innen anwesend. Das hätte so nicht ausgehen dürfen. Blaser war in meinen Augen total inkompetent. Er sollte besser mit Maschinen arbeiten als mit Menschen. Wie gut, dass dies nur ein fiktiver Roman ist, aber sicher auch in manchen Ideen eine Abbildung von von der Wirklichkeit.
GlG, MIra