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Gleich vorneweg
gesagt; das Buch ist dermaßen interessant geschrieben, dass ich Mühe hatte, es
für eine Lesepause mal wegzulegen. Jede Figur war faszinierend, so viel
Facette, so viele Geschichten in einer einzigartigen Familie, die sich in keine
Schublade pressen lässt.
Hier geht es zum
Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.
Die Handlung
Die 16-jährige drogenabhängige Miriam bringt in
einem Armenkrankenhaus ein Kind zur Welt. Gleich nach der Geburt befreit sich Miriam
von ihrer Infusion, verlässt die Klinik und lässt aber ihr Kind zurück. Der
gleichaltrige Billy Beal, der in der Klinik Sozialstunden ableistet, nimmt das
Kind zu sich, um es nach Hause zu den Eltern zu bringen. Billys Mutter versorgt
das Kind, bis eine neue Elternschaft gefunden werden konnte. Es ist das Jahr
1962, im August.
Die Uhr um ein paar Jahre zurückgedreht, Ende der
1959er Jahre, lernen wir die Italienerin Carlotta D´Ameri kennen, Kurzform
Cici, die in Varese ausgewachsen ist. Auf einer Mailänder Messe lernt sie ihren
zukünftigen 32- jährigen jüdischen Mann Solomon Matzner kennen, der von Beruf Doktor
der Medizin ist. Es scheint Liebe auf den ersten Blick zu sein, beide fühlen
sich wie magisch zueinander hingezogen. Cici ist erst 18 Jahre alt, als sie
sich bereit erklärt, nach großen familiären Konflikten durch den Stiefvater
ihre Familie und ihr Land zu verlassen, um mit Solomon nach Amerika auszuwandern,
damit sie dort mit ihm ein neues und glücklicheres Leben beginnen kann. Innerlich
klagt Cici ihre Mutter an, die nach dem Tod ihres geliebten Vaters mit einem
anderen Mann eine Zweckehe eingegangen ist.
1962 wird die junge Cici schwanger und freut sich
auf ihr Kind. Doch leider stellen sich ihr im August 1962 schwere Komplikationen
ein und musste notoperiert werden. Das Kind wurde chirurgisch geholt, aber es starb
wenige Stunden danach im Brutkasten. Dazu kommt, dass Cici die gesamte
Gebärmutter entfernt bekommen hat, und sie keine eigenen Kinder mehr bekommen
kann. Sie erleidet einen schweren psychischen Zusammenbruch, als ihr die
schlechten Nachrichten übermittelt wurden.
Zuhause igelt sich Cici ein, und verweigert
jeglichen Kontakt zur Außenwelt und zu ihrem Mann. Durch ihren tiefen
seelischen Schmerz neigt sie zu Autoaggressionen. Solomon erträgt es nicht, und
versucht seiner Frau zu helfen, indem er ihr ein Kind kauft.
Es ist das Kind von Miriam, an das er durch einen
guten Anwalt kommt. Die Familie Beal erhält Geld für das Baby, und das nicht zu
knapp. Solomon tut alles, um seine geliebte Frau wieder zurückzubekommen. Und
tatsächlich, das Kind bringt eine Wende in Cicis Leben, doch aber nicht für Solomon.
Durch den Verlust ihres eigenen Kindes erdrückt Cici das Adoptivkind mit all
ihrer Liebe. Sie lebt nur noch für das Kind und vernachlässigt dabei ihren
Ehemann. Neue Konflikte sind dadurch vorprogrammiert.
Du bist nicht nur Mutter, du bist auch Ehefrau. Ich war zuerst da, und ich sollte an erster Stelle stehen. (231)
Das Mädchen bekommt den Namen Cheri, und es spürt
recht früh, dass in ihrer Familie etwas nicht stimmt. Solomon baut eine recht
kühle Beziehung zu Cheri auf. Unbewusst macht er sie für den Liebesverlust
seiner Frau verantwortlich. Und von der Mutterliebe fühlt sich Cheri erdrückt
... Auf einem Italienausflug zu Cicis Familie erfährt Cheri im Alter von acht
Jahren, dass sie ein Adoptivkind ist.
Im Laufe ihrer Jugend begibt sich Cheri durch die
Konflikte ihrer Eltern immer wieder in die Rebellion. Sie lehnt das spießige Leben ihrer Eltern ab und
flieht immer mehr in ihre eigene Welt. Sie fängt an, sich für Menschen zu
interessieren, die keinen geraden Weg gehen, wie z. B. Junkies, Prostituierte, Kriminelle,
etc., da Cheri dieses überpriviligierte Leben ihrer Eltern einfach nur satthat.
Später ergreift sie den Beruf als Polizistin und glaubt, dies gegenüber ihren
Eltern aus einer Protestreaktion heraus tun zu müssen. Später studiert sie
Religionswissenschaften und altorientalische Philologien und bringt es mit Ende
dreißig zu einer Professorenstelle, in der sie sich als Frau allerdings schwer durchschlagen
muss …
Cheri führt eine Ehe mit Michael, der auch seine
eigenen Wege zu gehen scheint. Kinder konnten sie trotz medizinischer Hilfen
nicht bekommen, und so blieb der Kinderwunsch unerfüllt, wobei Cheri gar nicht
weiß, ob sie wirklich Kinder haben wollte. Cheri führt einen lebenslangen Kampf
mit ihrem Leben und begibt sich auf eine lange Suche nach einem Platz in dieser
Welt. Sie glaubt, dass die Weichen dieses Kämpferlebens schon in der Kindheit
durch ihre Adoptiveltern gelegt wurden.
In ihrer Kindheit, als sie erfuhr, dass sie ein
Adoptivkind ist, fing sie an, ihre leiblichen Eltern zu idealisieren. Die Suche
nach diesen fand aber erst sehr viel später statt …
Welche Szenen haben mir nicht gefallen?
Der Rassismus wurde in allen Breiten deutlich, mal
eher latent und mal ganz offensichtlich. Cici, die als junges Mädchen sich im
Nebensatz abfällig über Sizilianer*innen geäußert hat, erinnert nochmals an den
Rassismus, den Italien mit seinen eigenen Landsleuten zwischen Nord und Süd begeht,
der von der italienischen Regierung bis heute noch weiter forciert wird. Und
dann sind in Amerika Solomos Eltern, die ihn aus der Familie verstoßen hatte,
da er zum Katholizismus konvertiert ist und eine Schickse geheiratet hat. Nicht zu vergessen Cookie, eine schwarze
Bedienstete der Matzners, die für wenig Geld in den Dienst dieser Familie
getreten ist, wobei Cookie noch Glück hatte, da Solomon ihr im Alter eine Rente
zugesichert hatte. Und auch der Rassismus gegen Juden musste Cheri in der
Arbeit bei der Polizei immer wieder über sich ergehen lassen.
Cheri war es gewohnt, für eine Jüdin gehalten zu werden. In ihrem früheren Leben als Polizistin (…) hatte man sie als >Bagel-Schlampe< und Schlimmeres verhöhnt, doch sie hatte darauf verzichtet, sich damit zu wehren, dass sie keine Jüdin sei. Dies hätte impliziert, dass der Antisemitismus ihrer Kollegen nur deshalb verwerflich war, weil er auf falschen Annahmen über ihre Person beruhte. (125)
Des Weiteren fand ich die Szene mit Cicis Stiefvater
dermaßen brutal, dass sie mich noch lange beschäftigt hat. Der Stiefvater, der mittlerweile
ein alter Mann geworden ist, betritt ohne Begrüßung den Raum, in dem sich die
achtjährige Cheri ohne ihre Mutter befand. Er ging auf das Kind zu, packt es an
der Schulter, und ohne sich ihr vorzustellen, weist er ihr gestikulierend, mit
ihm mitzukommen. Er händigt Cheri eine Kinderpistole aus. Er nahm Cheri mit auf
die Jagd. Sie musste mit ihm ohne Pause einen langen Waldweg zurücklegen. Der
Großvater schoss auf Vögeln und zeigte dem Kind die Technik, bis es die
Anweisung erhielt, nun auch auf einen Vogel zu schießen.
Als Cici erfuhr, dass ihr verhasster Stiefvater das
Kind mit auf die Jagd nahm, beschimpfte sie ihn, bis sie schließlich mit Cheri verärgert
wieder abgereist ist.
Weil Cici wie ein Junge gewirkt hatte, und nicht so
adrett wie ein Mädchen gekleidet war, behandelte der alte Mann das Kind auch
wie einen Jungen. Er wirkte wortkarg, kalt und hartherzig, so wie damals, als
ihre Mutter diesen Mann geheiratet hatte. Aber Cheri fand das ganz toll und war
stolz, dass sie einen Vogel erlegen durfte und sie die harte Tortur hat über
sich ergehen lassen können, ohne schlapp gemacht zu haben.
Aber Vorsicht, nun bitte nicht mit dem Zeigefinger
auf Italien zeigen, das angeblich auf ihre traditionellen Rollenmuster bestehen
würde. Wir befinden uns hier Anfang der 1970er Jahre. Ich selbst war auch in
diesem Alter wie ein Junge gekleidet, und ich wurde deshalb an meiner deutschen
Schule diskriminiert. Als wir in den Sommerferien für sechs Wochen nach Italien
gereist sind, hat mich niemand meines Aussehens wegen beschimpft.
Welche Szenen haben mir besonders gut gefallen?
Darüber musste ich lange nachdenken. Beeindruckt
haben mich Szenen der Selbsterkenntnis, die auch bei Cici erfolgt sind.
Sie hatte einen so großen Teil ihrer Liebe und Energie in die Mutterschaft investiert, weil sie es besser machen wollte als ihre Mama. Sie hatte nur ein Kind und glaubte, es sei genügend Platz in ihrem Herzen. Aber es war nicht genug für Sol übrig geblieben, das ist ihr inzwischen klargeworden. Wie jung sie damals noch war! Und wie ahnungslos. (407)
So wie Cheri innerlich gegen ihre Eltern rebelliert
hat, so hatte auch Cici Groll gegen ihre Mutter gehegt.
Cicis Papa war gestorben, als sie noch klein war, aber sie erinnerte sich an den Gesichtsausdruck ihrer Mutter an dem Tag, als es geschah, ein Ausdruck, der sagte, dass die Welt niemals wieder dieselbe sein und sich nie wieder sicher anfühlen würde. Sol hatte Cicis Welt sicher gemacht. (410)
Cheri war wütend auf ihre Mutter, da sie sich
wirtschaftlich von ihrem Vater abhängig gemacht hat. In diese Fußstapfen wollte
Cheri niemals treten und so tut sie alles, um ihr Leben als eine emanzipierte
Frau souverän zu meistern und sich niemals von dem Gehalt eines Mannes abhängig
machen zu wollen. Sogar in ihrer Ehe gibt es einen Rollentausch, da ihr Mann
Michael durch seinen Künstlerberuf sehr wenig verdient hatte.
Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Cookie. Ohne große Bildung ist sie eine so weise
Persönlichkeit, die mir wirklich sehr imponiert hat. Sie half Cici und auch Cheri
immer mal wieder aus ihren Krisen heraus. Als Cheri psychisch zusammenbricht
und in ein tiefes Loch fällt, weil ihr Mann Michael an einem schweren
Krebsleiden verstorben ist, konnte Cici, die weit weg von der Tochter wohnte,
am Telefon keinen Zugang zu ihr finden, und so beschließt sie, zu ihr zu reisen.
Cookie gibt Cici daraufhin folgenden Rat, weil sie Angst hatte, ihre Tochter
seelisch nicht erreichen zu können:
Wenn
sie nicht reden will, setzt du dich einfach zu ihr und bist still. Dein Kind
bleibt immer dein Kind, egal, wie alt es ist. Du sollst da nicht hinfahren, um
von dir zu reden, mit den Händen zu fuchteln und rumzujammern. Fahr einfach hin
und sei ihre Mutter. (2019, 388)
Welche Figur war mir antipathisch?
Cicis Stiefvater.
Meine Identifikationsfigur
Ich habe mich episodenhaft fast in jede Figur
widerspiegeln können. Das macht das Menschsein aus, so denke ich mir. Es ist
schon möglich, sich in jedem Menschen zu finden, wenn man nur will.
Wer ist die Person auf dem Cover? Eigentlich müsste
das Cheri Matzner sein, aber nach meinem Gefühl ist das eher Cici. Den
Buchtitel finde ich nicht wirklich passend. Ein wildes Leben hat Cheri keineswegs
gehabt. Zusammen mit ihren Eltern eher ein sehr, sehr trauriges Leben.
Zum Schreibkonzept
Auf den fünfhundert Seiten befindet sich zu Beginn
eine Widmung, auf der darauffolgenden Seite folgt ein Zitat von Leo Tolstoi aus
der Anna Karerina. Danach gibt es einen recht kurzen Vorspann im Telegrafenstil
zum Geburtstag von Cheri, was sich alles in der Welt an diesem Tag, 5.08.1962, ereignet
hat.
Der Roman besteht insgesamt aus vier Teilen. Jeder
Teil ist spannend konstruiert, und man wird immer wieder in verschiedene Welten
geführt. Am Schluss wird man wieder im Telefegrafenstil daran erinnert, was
sich neben Cheris Geburt an diesem Tag in der Welt ereignet hat. Es gibt einen
kurzen Abschlussbericht, was sich für mich wie ein Epilog gelesen hat.
Meine Meinung
Als ich das Buch ausgelesen hatte, gab es sehr viele
Eindrücke und Gedanken, die dieses Buch in mir ausgelöst hat, über die ich
schreiben wollte. Und viele schöne Zitate wollte ich einbringen, und habe mich
schließlich dagegen entschieden, um anderen Leser*innen nicht zu viel
vorwegzunehmen. Einerseits finde ich es schade, weil ich sehr gerne über meine
Eindrücke schreibe, weil es schön ist, später, nach ein paar Jahren, daran
erinnert zu werden. Ich schreibe nicht gerne, was andere Rezensent*innen schreiben
und ich mag auch nicht von anderen beeinflusst werden. Aus diesem Grund liebe
ich persönliche Buchbesprechungen.
Mein Fazit
Mit diesem Buch wird man erinnert, dass jede Familie anders ist. Jede
Familie hat ihre Facetten, ihre eigenen Tabus und Geheimnisse. Sie zu
kategorisieren oder sie in eine Schublade pressen zu wollen, das hat auch Cheri
irgendwann begriffen, dass man damit nicht weiterkommt, wenn man versuchen
will, sie zu verstehen.
Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe
Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere 2 Punkte: Authentizität der Geschichte 2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt 2 Punkte: Frei von Stereotypen,Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
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Elf von zwölf Punkten.
Eine ganz klare Leseempfehlung.
Vielen herzlichen Dank an den Diogenes-Verlag für das Leseexemplar.
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Es geht nicht um den Verstand,
es kommt alles aus dem Herzen.
(Tracy Barone)
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86
Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, und dies nur,
weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen
tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden
und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.
Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)