Sonntag, 25. August 2019

Proust und seine Abhängigkeit zur Mutter

Weiter geht es mit den Proust - Briefen 
Seite 250 bis 259.

Auf den folgenden Seiten ist Anne und mir aufgefallen, wie sehr der erwachsene Proust, mittlerweile Ende zwanzig, von der Mutter seelisch und aber auch in finanzieller Hinsicht abhängig ist. Außerdem ist er nicht in der Lage, banale Alltagsentscheidungen selber zu treffen. In Prousts Alter sind viele Menschen mit der Familiengründung beschäftigt, viele besitzen sogar schon eine Familie und die ohne Familie leben außerhalb des Elternhauses ein autonomes Leben. Marcel hängt symbolisch betrachtet noch am Rockzipfel seiner Mutter, so wirkt er auf mich.

Ja, und dann ist da noch der Vater, der Prousts Atemwegserkrankung für reine Einbildung hält ... Der Vater scheint nicht so viel Verständnis zu haben, wie die Mutter es hat. Prousts schwere Erkrankung als eine Einbildung abzutun, das wäre verglichen mit der Fürsorge seiner Mutter das andere Extrem. Dem Vater, der von Beruf Arzt ist, scheint die Erkrankung mittlerweile kalt zu lassen... 

Zu gut die Mutter, zu streng der Vater? Aber ist es denn falsch, ein Kind, das aus der Kinderstube entwachsen ist, noch zu lieben so wie es ist? Schön fand ich den Vergleich, den Proust mit der Wärme von Sonnenstrahlen macht. Er bezeichnet diese Art von Wärme nämlich als mütterlich, siehe Zitat unten. Und neben der Atemwegserkrankung leidet Proust auch unter Gelenkschmerzen an der Hand.

An Jeanne Proust
September 1899, Proust ist hier 28 Jahre alt

Proust befindet sich in einem Hotel, macht einen Erholungsurlaub in Evian-les-Bains, am Genfer See. Da die Mutter sehr krank war, verbrachte auch sie hier ihren Urlaub, um sich zu regenerieren. Sie reist aber früher ab als der Sohn.

Proust schreibt seiner Mutter einen sehr langen Brief. Er schien wieder recht nahe an einem Asthmaanfall gelegen zu haben und meldet der Mutter den Krankenbericht. Proust wollte erst zusammen mit seinen beiden Freunden nach einer Abendgesellschaft mit einem Automobil wieder zurück ins Hotel fahren. Die ersten Autos waren damals nicht abgedichtet, sie waren ohne Überdachung. Demzufolge waren es offene Autos, und alles andere als windgeschützt und so konnte Proust nicht mitfahren, sonst würde er einen neuen Anfall riskieren. Proust weiß, dass die Fahrt mit einem Automobil für ihn lebensbedrohlich ist, weshalb er schließlich sich für die Zugfahrt entschieden hatte. Nur seine beiden Freunde nehmen ihm das nicht ab.
Da es bei unserer Ankunft in Genf kühler wurde und Wind aufkam, habe ich gedacht, dass eine Fahrt im Automobil von Genf nach Evian einen Anfall heraufbeschwören könnte, und mich von beiden in Genf verabschiedete, wo ich zu Abend gegessen habe und dann den Zug nahm. Und bei dieser Gelegenheit: Da sie mich mit dem Automobil zurückbringen wollten, sagte Constantin, ich würde mir nur einbilden, dass mir die frische Luft nicht bekäme, denn Papa sage jedermann, es fehle mir nichts und mein Asthma beruhe auf reine Einbildung. (…) Ich schreibe dir sehr unleserlich, weil ich, ganz entzückt und getröstet ob des wunderbaren Sonnenscheins, auf einer Bank sitze und auf den Knien schreibe, ganz umhüllt und strahlend von dieser wohltuenden Wärme, die ich fast schon mütterlich nennen würde, wenn die Abwesenheit meiner Mama mich den Unterschied und die Unangemessenheit des Ausdrucks nicht so stark empfinden ließ.

Zudem schreibt er, dass er aus dem Brief seiner Mutter erfahren habe, dass Dreyfus begnadigt wurde. Darüber habe ich schon in der letzten Besprechung geschrieben.

Proust bittet seine Mutter um Hilfe, denn er weiß nicht, wie viel Trinkgeld er dem Zimmerservice zukommen lassen soll. Diese Haltung hat mich und Anne sehr verwundert.
Wenn du mir sagen möchtest, was ich dem Zimmermädchen geben soll, reicht es nicht mehr, mir zu schreiben, Du musst es mir umgehend telegraphieren. Ich werde schon verstehen, dass es um sie handelt. Ich habe nicht mehr den Anflug von Schmerzen im Handgelenk. Aber sag es nicht weiter. Ich will die Schmerzen für unangenehme Briefe noch ausnutzen.

Was mag er wohl damit gemeint haben, er wolle die Schmerzen am Handgelenk für unangenehme Briefe noch ausnutzen? Hat er doch etwas Manipulatives seinen Mitmenschen gegenüber?

Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Schmerzen am Handgelenk vom vielen Schreiben herrühren.

Weiter erfährt man, dass Proust auch ein Wohltäter gewesen sein muss, da er einem mittellosen Sohn eines Dachdeckers namens Poupetiere finanziell unterstützt hatte, und er seine Freude darüber der Mutter indirekt bekundet hatte, und bezeichnet diese Tat als das größte Glück.
Was Poupetiere angeht, so habe ich nicht mehr die Zeit, Dir meine Freude auszudrücken. >Das größte Glück bleibt stumm.< (253)

Das größte Glück bleibt stumm. Finde ich wieder ein sehr weiser Gedanke. Vielleicht muss man ja auch nicht immer über alles sprechen, obwohl es Proust schwerfällt, nicht zu sprechen. Er schreibt selbst an seine Mutter, dass er das Herz auf der Zunge tragen würde.

An Jeanne Proust
Ende September 1899

Auf der nächsten Seite schreibt Proust erneut seiner Mutter. Noch immer befindet er sich im Kurort. Proust hat von der Mutter 300 France zugeschickt bekommen. Er zieht Bilanz, rechnet minutiös der Mutter vor, was er davon ausgegeben hatte. Für was er das Geld eingesetzt hat, ist in Details den Briefen zu entnehmen.

Weiter schreibt er:
Als ich dir gesagt habe, dass ich jeden Tag auf diese Weise abrechnen wolle, glaubte ich, das Hotel schließe erst am 15., sodass es einfach nur darum ging, Dir zu zeigen, was ich ausgebe und Deine Zustimmung oder Kritik zu erhalten.

Proust bittet die Mutter weiterhin um Geld, diesmal in Form eines Schecks. Hier kann ich durchaus verstehen, dass er der Mutter vorrechnet, was er mit dem Geld von 300 Francs angestellt hat. Aber auch an dieser Stelle wirkt er im Umgang mit dem Scheck recht hilflos. Außerdem schuldet Proust seinem Freund Reynaldo 200 Francs, sowie noch anderen Leuten.
Schicke mir mit Deinem Brief einen Scheck, damit ich ihn unterzeichnen (nenn mir noch die Formulierung) und an Reynaldo schicken kann (ich kümmere mich darum) (Ich werde ihn von hier aus abschicken), damit er die 200 Francs einlösen kann, die ich ihm schulde, und ich werde ihn beauftragen, von dem Rest meine anderen Gläubiger zu bezahlen. Da ich ihn um eine Frist bis zum 1. Oktober gebeten habe, wäre ich froh, wenn ich den Termin genau einhalten könnte, um nicht wie ein Dauerschuldner dazustehen; und wenn ich nicht so in Bedrängnis geraten wäre, bevor ich Dir schrieb, hätte ich das schon früher getan. Wenn meine Unterschrift nicht nötig ist, kannst du den Scheck selbst einlösen, ich schreibe Dir dann, wie das Geld aufgeteilt werden muss. (257)

Es zeigt auch Prousts finanzielle Lage, dass er mit Ende zwanzig noch immer von seinen Eltern abhängig ist, wobei ich gar nicht weiß, wie sich der Vater dazu äußert. Wie denkt er darüber, dass sein Sohn Geld benötigt, um von seinen Schulden runterkommen? Ich könnte mir vorstellen, dass er ein Problem damit hat. Denn Marcel hat seine Mutter um Geld gebeten und nicht den Vater. Ich habe schon lange keinen Brief mehr an den Vater gelesen ... Aber es zeigt, dass Proust alleine mit seinem schriftstellerischen Talent seinen Lebensunterhalt nicht zu bestreiten imstande ist.

So, das waren für uns die wichtigsten Ereignisse aus den Briefen an die Mutter.

Ich bin wie jedes Wochenende auch auf die nächsten Briefe gespannt. Es geht weiter von 260-271.

Telefongespräch mit Anne
Wir haben uns über Prousts Atemwegserkrankung ausgetauscht, da der Vater die Erkrankung als Einbildung abgetan haben soll, und das noch vor Prousts Freunden, was ich sehr anmaßend fand. Anne ist der Meinung, dass die Erkrankung zu Prousts Zeiten noch unerforscht gewesen sein muss. Ja, das stimmt wohl, aber jeder, der einen Asthmatiker in seinem Anfall erlebt hat, der weiß, wie lebensbedrohlich das sein kann, wenn einem die Luft wegbleibt. Wo war der Vater, als der Sohn immer wieder einen Anfall erlitten hat? Man konnte sicher damals nicht verstehen, dass jemand von der Luft, die jedes Lebewesen eigentlich zum Atmen benötigt, ersticken kann. Aber der Vater kann nicht immer abwesend gewesen sein. Er muss gesehen haben, wie sehr sein Sohn um Luft ringen musste. Das sind schreckliche, dramatische Szenen. 

Dass Proust ein Wohltäter gewesen sein soll, passt nicht ganz so, da er den Menschen nicht mit seinem Geld beschenkt hat, sondern mit dem Geld der Mutter, so Anne. Und wir fragten uns, ob das Geld nicht dem Vater gehört, da zu der damaligen Zeit alles dem Mann gehört hat, auch die Mitgift seiner Frau. Deshalb können wir noch gar nicht sagen, wie der Vater darauf reagiert, wenn dem Sohn ständig Geld zugesteckt wird. Ist die Mutter diejenige, die sich ihrem Mann gegenüber zu widersetzen weiß, oder aber sie beschenkt den Sohn ohne ihren Mann davon in Kenntnis gesetzt zu haben. Wir wissen es nicht. Wir können uns nur auf das berufen, was uns an Informationen durch die Briefe vorgelegt wird.

Aber wir sind beide gespannt. Wie wird es Marcel denn erst ergehen, wenn die Mutter einmal sterben wird? Soviel ich weiß, ist die Mutter relativ früh verstorben, da war Marcel erst Anfang dreißig.

Anne und ich sind gespannt, wie es dann zukünftig mit Marcel Proust in der Familie weitergehen wird. 
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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