Sonntag, 18. August 2019

Proust und die Dreyfusaffäre

Seite 240 - 249  

Wieder jede Menge literarische Gespräche, auch über Bücher, die in Serien in Zeitungen gedruckt werden. Proust zeigt sich seinen Schriftstellerkollegen wieder von der besten Seite. Er verhält sich ihnen gegenüber sehr wohlwollend und wertschätzend.

Mit Anne hatte ich schon gestern Abend telefoniert, und so erzählte sie mir, dass sie zwei Textpassagen aus den Briefen herausgeschrieben hat, die ich nun hier im Folgenden zusammen mit ihren Gedanken in der Besprechung hineinkopieren werde.

Annes Eindrücke, die ihr besonders wichtig sind in der brieflichen Auseinandersetzung zwischen Proust und seinen Schriftstellerkollegen Henri de Regnier und Constantin de Brancovan

"An Henri de Regnier
Samstag, 5. August 1899
… Nun, das ist nur ein Vorwand, der mir erlaubt, Ihnen zu sagen, dass die, La Double Maitresse' die wunderbare und köstliche Gefährtin meiner Tage ist. Tage, an denen eine ,dringende Aktualität' die Veröffentlichung hinausschiebt, sind verlorene Tage. Ich glaube, wegen meines so lebhaften konstanten Vergnügens an allem, was Sie schreiben, wegen der andauernden Lust, Sie zu lesen, die mit jeder Seite Befriedigung erfährt und gemehrt wird (,O Sehnsucht, alter Baum, dem die Lust als Rinde dient'), gehöre ich zu denen, welchen die Veröffentlichung den größten Genuss bereitet.

>>Es war so schön zu lesen, wie neidlos Proust die Arbeit des Kollegen würdigt. <<

>>Ja, da stimme ich dir voll zu, liebe Anne. Proust ist wirklich ein sehr, sehr netter Zeitgenosse gegenüber seinen Mitmenschen gewesen.<<

"An Constantin de Brancovan
Samstagabend, 19. August 1899
Mon cher Prince,
soeben habe ich diesen bezaubernden und unleserlichen Brief erhalten. Sie wissen, dass das, was Sie schreiben, die Mühe lohnt, gelesen zu werden, und Ihnen liegt daran, dass man sich diese Mühe macht. Sie sind der Mallarmé der Schrift. Im Grunde handelt es sich dabei um eine zusätzliche Nettigkeit, denn so sorgen Sie dafür, dass ich mehr Zeit mit Ihrem Brief verbringe, als wenn er leicht zu lesen wäre. Da ein Brief wie ein Besuch ist, ist ein schwer entzifferbarer Brief wie ein langer Besuch. Die Ihren sagen: Ich komme nicht nur auf einen Augenblick, ich bleibe den ganzen Tag. Ich habe ihn damit verbracht, Ihren Brief zu lesen, und er ist mir teuer geworden aufgrund der Mühe, die er mir gemacht hat. Aber dessen bedurfte es gar nicht, um ihn zu lieben, und das hätte ich Ihnen gleich sagen sollen, statt dieser albernen Witzeleien..."

>>Ich liebe es, über das Lesen oder Schreiben zu lesen. Als ich diesen Brief gelesen habe, sah ich mich in einer Kemenate sitzen, an einem Holztisch, nur mit einer Kerze als Lichtquelle.<<

Ja, Anne, das kann ich mir sehr gut bei dir vorstellen. Eine weitere schöne Textstelle hast du herausgesucht, auf die ich auch eingegangen wäre. Nun bin ich aber froh, dass du mir das Abschreiben des Textes abgenommen hast. Einen Brief zu lesen und ihn mit einem Besuch gleichzusetzen finde ich einfach genial, wie tief sich Proust trotz Witzeleien mit seinen Mitmenschen befasst hat und welche Gleichnisse er immer wieder in seinem Ausdruck findet. Und noch dazu einen unleserlichen Brief. Andere würden solche Briefe in den Müll werfen.

Proust und die Dreyfusaffäre
Mich hat noch die Dreyfusaffäre beschäftigt, die außerdem nicht abgeschlossen ist und Proust sich mittlerweile deutlich zu Dreyfus bekennt. Dreyfus wurde, nachdem er erst freigesprochen war, ein zweites Mal verurteilt, zu zehn Jahren Haft. Neue Lügen machten sich politisch breit, die ihm zum Verhängnis wurden. Das Urteil wurde in einem Casino angeschlagen. In einem Gartenpavillion hört er die kleine Noallies, eine Dichterin, schluchzen, als sie die Verurteilung von Dreyfus vernimmt. Proust schreibt im September an seine Mutter.

An Jeanne Proust
September 1899, Proust ist hier 28 Jahre alt.
Als ich Constantins Gartenpavillon betrat, um dort vor dem Essen zu rauchen, hörte ich Wehklagen. Es war die kleine Noailles, (…) die von Schluchzern geschüttelt und mit erstickter Stimme hervorstieß: >Wie konnten sie das nur tun? Wie konnten sie es wagen, ihm das zu sagen, und das gegenüber dem Ausland, gegenüber der ganzen Welt, wie konnten sie nur?< Sie weinte so heftig, dass es einfach rührend war, und das hat sie in meinen Augen rehabilitiert.

In seinen Augen war die Dichterin rehabilitiert, was für ein schöner Vergleich. Scheinbar hatte er von ihr zuvor kein gutes Bild gehabt, und ihr Schluchzen um Dreyfus zeigt, dass sie ein mitfühlendes Wesen ist, ohne dass ich weiß, in welcher Verbindung sie zu dem Verurteilten stand.

An die Mutter schreibt Proust zu dem:
Sei nicht allzu traurig über das Urteil. Es ist traurig für die Armee, für Frankreich, für die Richter, die so grausam waren, einem erschöpften Dreyfus die neuerliche Anstrengung abzuverlangen, abermals Mut zu fassen. Aber diese physische Tortur, an die moralische Kraft zu appellieren, wenn jemand bereits gebrochen ist, wird die einzige sein, die er noch auszuhalten hat, und dann ist es auch schon vorbei.

Und er hatte recht. Tatsächlich wurde Dreyfus vom französischen Staatspräsident Emile Loubet begnadigt, wie aus der Fußnote hervorgeht. Emilie Loubet, * Dezember 1838, gest. Dez. 1929. Er war von 1899 bis 1906 Staatspräsident. Ein Staatspräsident, der Gutes vollbracht hat. Solche Menschen, vor allem Politiker, möchte ich hier gerne festhalten, siehe obere Abbildung.

Weiter schreibt er:
Für ihn kann alles nur noch gut ausgehen, in moralischer Hinsicht durch die Wertschätzung der Welt, in physischer Hinsicht durch die Freiheit, die man ihm zur Stunde, wie ich vermute, zurückgegeben hat. Was das Urteil selbst angeht, so wird es auf gerichtlichem Wege kassiert werden. Moralisch gesehen ist es schon passiert.  

Wie recht er hatte. Prousts Mutter hatte tiefes Mitgefühl für Dreyfus, die so wie er auch Jüdin war.

Ich habe mir eine DVD zu der Dreyfusaffäre gekauft, die ich mir aber noch nicht angeschaut habe. Vielleicht nehme ich mir das für morgen vor.

So, dies waren nun auch meine Eindrücke. Viele waren es diesmal nicht, dafür hat Anne für ein wenig Ausgleich gesorgt.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 250 bis 259.
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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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