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geht es mit den Seiten von 359 bis 369
Auf
den folgenden zehn Seiten nimmt man wieder an verschiedenen geistreichen
Konversationen in Briefform teil. Auch ist die Ruskin – Übersetzung noch lange
nicht abgeschlossen, und man merkt, wie sehr er sich damit quält. Wiederholt
gibt es Beschwerden zu seiner Übersetzung, auf die ich aber nicht näher eingehen
möchte.
An
Robert de Montesquiou
März
1904? (Proust ist hier 32 Jahre alt)
Der
erste Brief geht an Robert de Montesquiou. Proust antwortet hier auf den Brief
seines Freundes, den er als einen Diamanten betrachtet hat. Entnommen hat
Proust den Vergleich aus der Korrespondenz von Victor Hugo an Paul-Saint Victor.
Im nächsten Satz zitiert Proust Schopenhauer.
Haben Sie tausend Dank für den wundervollen Brief. >Das ist kein kleiner Diamant nur zum Spaß, das ist ein faustdicker Diamant.< Und niemals war der Satz >man schriebe ein ganzes Buch, damit Sie auch nur eine Seite schreiben< wohl zutreffender. Welch Jammer nur, dass diese großartige Seite, dieses tiefsinnigere Gegenstück nur mir allein vorbehalten ist. (359)
Mir
gefällt die Wertschätzung, die Proust seinem Freund entgegenbringt.
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im Brief ärgert sich Proust über namhafte ausländische Schriftsteller, die
wenig Verständigkeit für die französische Kultur haben aufbringen können.
Unsere Urteile über Personen sind so sehr dem Wandel der Zeiten und der Verschiedenheit der Länder unterworfen, dass wir etwas bei Goethe lesen können, die französische Literatur, was auch nur entfernt heranreiche an die Lieder von Béranger, bei Stendhal, dass die gotischen Kathedralen die Schande Frankreichs seien, bei Nietche [sic], dass ein Jahrhundert, dass Schriftsteller wie (es sind darunter auch einige unserer Freunde, deren Namen ich nicht zu nennen wage) hervorgebracht habe, das größte aller Jahrhunderte sei, bei Tolstoi, dass Wagners Erfindungen lächerlich seien, und tausenderlei andere absurde Urteile über unsere Zeitgenossen. (360)
Aus
der Fußnote ist allerdings zu entnehmen, dass Nietzsche eigentlich derjenige
war, der in Ecce Homo 1888 Frankreich als das reiche Jahrhundert mit seinen
vielen Psychologen bezeichnet hat.
Aber wahrscheinlich war Proust eher auf die Wertschätzung von Literaten,
Architekturen und andere aus, während Goethe 1828 die Lieder von Béranger sehr
hochgelobt hatte.
An
Auguste Marguillier
März
1904
Von
diesem Freund bekommt Proust einen Bildband zu Albrecht Dürers Meisterwerken geschenkt. Dürer hat von 1471 bis 1528 gelebt und ist ein deutscher Künstler und Naturwissenschaftler gewesen. Proust ist ganz angetan davon und bedankt sich in einer überschwänglichen Form.
Das fand ich so schön, bin neidisch, dass Proust aus einer Zeit kommt, in der
man Büchergeschenke so hoch zu würdigen weiß und er seine Freude darüber so
offen zu zeigen weiß.
Ich werde mit diesem Buch angenehme Stunden verbringen, denn Dürer gehört zu den Genies, die die größte Anziehungskraft auf mich ausüben und die ich am schlechtesten kenne. Ich kann fast schon sagen, dass ich nichts von ihm weiß und alles über ihn wissen möchte. Ihr Buch ist mir der beste Weg, auf bezauberte und gesicherte Weise, etwas über ihn zu erfahren. Und so will ich Ihnen aufrichtig danken und Sie beglückwünschen. (362)
Prousts
Übersetzungsarbeit sind noch lange nicht abgeschlossen. In dem Brief an Maurice
Barrés ist in den letzten Zeilen zu entnehmen, dass er noch zwei Ruskins vor
sich habe. Hätte er sie nur schon hinter sich. Mitleid habe ich mit diesem
Proust, wie sehr er sich damit quälen muss.
Vor mir liegen noch zwei Ruskins, und danach werde ich versuchen, meine eigene arme Seele zu übersetzen, wenn sie bis dahin nicht gestorben ist. (364)
Das
klingt sehr traurig, finde ich. Zur Erinnerung; Proust benötigt ganze fünf Jahre
für diese Übersetzungsarbeit.
An
Marie Nordlinger
Ende
Mai 1904
In
dem Brief an Marie Nordlinger geht es auch wieder um Kunst, allerdings in einer
anderen Form. Proust schreibt, dass seine Mutter eine Büste über seinen Vater
anfertigen lassen möchte, die sie auf sein Grab setzen möchte. Proust fragt
seine Briefpartnerin, ob sie diese Büste anfertigen würde?
Mama wünscht, so schmerzlich die Gegenüberstellung eines notwendig unähnlichen Kunstwerks mit dem so genauen und so geliebten Bild, das sie von meinem Vater bewahrt hat, auch sein mag, Mama wünscht also, dass für die, die nach uns kommen und sich fragen werden, wie mein Vater gewesen sein mag, eine Büste auf dem Friedhof so einfach und so exakt wie möglich Zeugnis ablegt. Und sie hat die Absicht, sich an irgendeinen jungen, begabten und willigen Bildhauer zu wenden, der sich auf den Versuch einlassen möchte, anhand von Photographien, die Züge meines Vaters in Gips, Bronze oder Marmor mit jenem Maximum an Genauigkeit nachzubilden, das zwar immer noch weit hinter unseren Erinnerungen zurückbliebe und vielleicht schmerzlich für uns sein wird, aber denjenigen, die ihn nicht gekannt haben, doch, über den einfachen, in Stein gemeißelten Namen hinaus, eine ungefähre Vorstellung von ihm geben kann.- (368)
Madame
Proust hegt das dringende Bedürfnis, ihren Mann unsterblich zu machen. Aber der
Sohn möchte auch unsterblich sein, weswegen wir und zahlreiche andere
Proustianer*innen gegenwärtig seine Briefe lesen.
Da
ich nächstes Jahr im Frühjahr für ein paar Tage nach Paris reisen möchte, um
auf Prousts Spuren zu wandeln, bin ich sehr neugierig, das Grabstein der
Familie Proust zu besichtigen. Ich war in jungen Jahren schon mehrmals auf dem
Père Lachaise gewesen, auf dem viele andere Schriftsteller begraben liegen, wie
z. B. auch Oscar Wilde. Marcel Proust kannte ich damals noch gar nicht.
Mein Fazit
Ich
finde es dennoch bewundernswert, dass Proust so viele Briefpartner*innen hat,
mit denen er sich auszutauschen weiß. In jedem Brief schwingen Gedanken der
Freude und Gedanken der Trauer mit, je nach dem, was ihn beglückt oder was ihn
verstimmt hat. Er ist einfach authentisch, selbst mit über dreißig Jahren noch.
Und am wohlsten fühlt er sich in geistigen Gesprächen. Er lässt seine
Mitmenschen in sein Innenleben ein, er lässt sie wissen, wie sehr er geistige
Geschenke zu würdigen weiß, wofür wir heute größtenteils kaum Zeit haben, diese
Freude und diese Würdigung anderen zu offenbaren. Oftmals frage ich mich, wie
Büchergeschenke oder Ähnliches bei meiner Gegenüberin angekommen sind, und ob sie
damit in ihrem geistigen Leben etwas umsetzen konnten.
Anne vermisste bei Proust die Benennung von weiblichen Künstlerinnen. Würdigt er sie zu wenig? Wie steht er zu Frauen? Hierbei müssen wir uns noch etwas gedulden, aber ich bin sicher, dass sich Proust hierzu noch outen wird. In diesen Briefen hat er immerhin Kontakt mit Marie Nordlinger, die Bildhauerin ist.
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geht es nächstes Wochenende von Seite 370 bis 379.
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Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)
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