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Endlich
gibt es mal wieder Ausschnitte aus dem Buch, die ich gerne festhalten und
herausschreiben möchte, auch wenn es seit den letzten zwanzig Seiten immer
wieder um Prousts chronische asthmatische Atemerkrankung geht, die seine Lebensqualität
richtig einschränkt, sodass auch sein gesellschaftliches Leben in Mitleidenschaft
gerät. Mich und Anne hat erstaunt, dass seine schwere Erkrankung selbst bei seinen
Freunden nicht für voll genommen wird. Wenn schon die Eltern die Erkrankung
nicht ernstnehmen, wie sollen das Fremde tun? Neben seiner Erkrankung leidet
Proust seelisch massiv an der Reaktionen seiner Mitmenschen, wenn er krankheitsbedingt
Lesungen oder andere intellektuelle Veranstaltungen absagen muss, und stattdessen das Bett hüten muss.
An
Robert de Montesquiou
April
1905, hier ist Proust 33 Jahre alt
Der Schriftsteller Montesquiou ist mit Proust sehr
nah. Wir vermuten, dass zwischen ihnen beiden auch ein sexuelles Verhältnis
besteht, siehe Textstelle weiter unten. Proust ist erbost, dass Montesquiou
kein Verständnis für seine eingeschränkte Lebensform hat erübrigen können. Mancher
Federzug stimmte uns schon sehr betroffen, wie folgende Zeilen, in der Proust
die katholische Kirche anprangert, die Krankheit als Folge einer schweren Sünde
begriffen hatte:
Sie sind, Monsieur, grausamer als die grausamsten katholischen Theologen, die uns erklärten, dass wir unsere Krankheiten als Strafe für unsere Verfehlungen anzusehen hätten. Sie verlangen, dass wir die Krankheit selbst schon als eine Verfehlung betrachten und dass wir nicht nur physisch unter unseren Beschwerden leiden, sondern ihretwegen auch ein schlechtes Gewissen haben sollen, und dass diese Leiden, wiewohl unvermeidlich und schon schmerzlich genug, auch noch schuldhaft seien. Ich gestehe, dass in Ihrem Brief auch etwas steht, an das ich mich zwinge, nicht zu denken (…). Ich weiß sehr wohl, dass es einer Reihe von Leuten rechtens vorkäme, wenn man mich das ganze Jahr nicht zu Gesicht bekäme, nur weil ich an diesem oder jenem Tag krank und zu nichts in der Lage bin, und die andernfalls sagen: >Sieh einer an, wenn´s darum geht, sich zu amüsieren, sind Sie ganz gut beieinander. < Aber, dass Sie mir fast dasselbe sagen und dabei nicht bedenken, dass ich, wenn ich denn für die Dinge, die mir die größte Freude bereiten, gesundwerden könnte, das schmerzt mich sehr.
Der
Schriftsteller hatte Lesungen gehalten, an denen Proust nicht teilnehmen
konnte, was den Freund narzisstisch gekränkt haben muss. Die Traurigkeit
Prousts:
Wann werde ich dem Menschen begegnen, der für mein wirkliches Leben, für meine innersten Empfindungen ein wahrhaftes Verständnis aufbringt und der, nachdem er mir angesehen hat, wie ich, da ich leidend war, das größte Vergnügen versäumte, mich eine Stunde danach (…) in den banalsten aller Gesellschaften erblickt, auf mich zutritt und in aller Aufrichtigkeit sagt: >Was für ein Glück, dass Ihr Anfall vorüber ist!< (413)
Proust
vermisst die seelische Fürsorge besonders bei seinem Freund.
Sie können sich nicht vorstellen, welch nervliche Erschöpfung den Kranken befällt, der sich von jemandem, den er liebt, falsch beurteilt fühlt und der spürt, wie seine harmlosesten Ablenkungen gegen ihn ausgelegt werden. (414)
An
Geneviève Straus
Ende
April 1905
Proust
spricht sich bei der Freundin Genevière Straus über seine Enttäuschung mit
Montesqiuou aus.
Ich bin vollkommen erschlagen von Montesquoius Briefen. Jedes Mal, wenn er einen Vortrag hält, ein Fest gibt (…), will er nicht einsehen, dass ich krank bin, und vorher gibt es Mahnungen, Drohungen, Besuche von Yturri, der mich wecken lässt, und nachher Vorwürfe, weil ich nicht gekommen bin.
Die
Eitelkeit der Künstler, die keine Ausnahmen, nicht mal durch eine ernste
Erkrankung, zulassen kann. Mangelndes Verständnis, mangelnde Empathie, weil die
eigenen Interessen ganz oben stehen. Was hat Proust denn nur für Freunde?, so
fragen wir uns.
Ich glaube, man könnte noch genesen, wenn nur >die anderen< nicht wären. Aber die Erschöpfung, zu der sie uns treiben, die Ohnmacht, ihnen die Leiden begreiflich zu machen, die manchmal einen Monat lang die Folge der Unvorsichtigkeiten sind, die man begeht, um das zu tun, was sie für ein Vergnügen halten, all das ist der Tod.
Ich persönlich finde das Lesen dieser Zeilen psychisch betrachtet recht anstrengend, denn ich
stelle mir diesen kranken Proust vor, der permanent herausgefordert wird, sich
bzw. seine Erkrankung zu erklären. Schwierig, gesund zu werden, wenn einem das
Umfeld in einer destruktiven Form permanent herausfordert.
Auf
der Seite 417 bringt Proust ein kritisches Liebes-Dichtvers von Sainte-Beuve
und überträgt ihn auf die Situation mit seinem Partner Montesquiou:
Das Erschreckende ist, dass man hieran ersieht, wie egoistisch die Liebe ist. Sobald der Liebhaber tot ist, ist alles vorbei, da man ja nichts mehr von ihm zu erwarten hat (was im Übrigen nicht für alle gilt.)
Hier
habe ich mit Proust mitgetrauert. Die Enttäuschung, sich von liebenden Menschen
verstoßen zu fühlen, weil diese nicht bereit sind, die ernste Lage des anderen
zu begreifen. Hierbei scheint Montesquious Selbstliebe größer zu sein als die
Liebe zu seinem Partner.
Telefongespräch mit Anne
Anne
hat sich dieselben Zitate angestrichen, die ich mir herausgeschrieben habe.
Auch, weil sie so eindeutig sind. Sie war ebenso wie ich von der
Verständnislosigkeit von Prousts Mitmenschen erstaunt, die man aber auch auf
die heutige Zeit übertragen könne. Auch bei uns werden bestimmte chronische
Erkrankungen wie z. B. Adipositas oder psychische Behinderungen nicht für voll
genommen. Bezogen auf Proust dachten wir, dass er sich ein neues Umfeld suchen
müsse, was wohl nicht so einfach zu bewerkstelligen sei. Freunde finden, die beides in sich
tragen; Intellektualismus und Empathie.
Weiter geht es nächstes Wochenende mit den Seiten von 423 - 434
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Wie schön
ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei
der Moral endet.
(Marcel Proust)
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