Sonntag, 15. März 2020

Der kranke Marcel Proust und die Enttäuschung zu seinen Mitmenschen

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit den Seiten von 412 bis 422 

Endlich gibt es mal wieder Ausschnitte aus dem Buch, die ich gerne festhalten und herausschreiben möchte, auch wenn es seit den letzten zwanzig Seiten immer wieder um Prousts chronische asthmatische Atemerkrankung geht, die seine Lebensqualität richtig einschränkt, sodass auch sein gesellschaftliches Leben in Mitleidenschaft gerät. Mich und Anne hat erstaunt, dass seine schwere Erkrankung selbst bei seinen Freunden nicht für voll genommen wird. Wenn schon die Eltern die Erkrankung nicht ernstnehmen, wie sollen das Fremde tun? Neben seiner Erkrankung leidet Proust seelisch massiv an der Reaktionen seiner Mitmenschen, wenn er krankheitsbedingt Lesungen oder andere intellektuelle Veranstaltungen absagen muss, und stattdessen das Bett hüten muss.

An Robert de Montesquiou
April 1905, hier ist Proust 33 Jahre alt

Der Schriftsteller Montesquiou ist mit Proust sehr nah. Wir vermuten, dass zwischen ihnen beiden auch ein sexuelles Verhältnis besteht, siehe Textstelle weiter unten. Proust ist erbost, dass Montesquiou kein Verständnis für seine eingeschränkte Lebensform hat erübrigen können. Mancher Federzug stimmte uns schon sehr betroffen, wie folgende Zeilen, in der Proust die katholische Kirche anprangert, die Krankheit als Folge einer schweren Sünde begriffen hatte:
Sie sind, Monsieur, grausamer als die grausamsten katholischen Theologen, die uns erklärten, dass wir unsere Krankheiten als Strafe für unsere Verfehlungen anzusehen hätten. Sie verlangen, dass wir die Krankheit selbst schon als eine Verfehlung betrachten und dass wir nicht nur physisch unter unseren Beschwerden leiden, sondern ihretwegen auch ein schlechtes Gewissen haben sollen, und dass diese Leiden, wiewohl unvermeidlich und schon schmerzlich genug, auch noch schuldhaft seien. Ich gestehe, dass in Ihrem Brief auch etwas steht, an das ich mich zwinge, nicht zu denken (…). Ich weiß sehr wohl, dass es einer Reihe von Leuten rechtens vorkäme, wenn man mich das ganze Jahr nicht zu Gesicht bekäme, nur weil ich an diesem oder jenem Tag krank und zu nichts in der Lage bin, und die andernfalls sagen: >Sieh einer an, wenn´s darum geht, sich zu amüsieren, sind Sie ganz gut beieinander. < Aber, dass Sie mir fast dasselbe sagen und dabei nicht bedenken, dass ich, wenn ich denn für die Dinge, die mir die größte Freude bereiten, gesundwerden könnte, das schmerzt mich sehr.
Der Schriftsteller hatte Lesungen gehalten, an denen Proust nicht teilnehmen konnte, was den Freund narzisstisch gekränkt haben muss. Die Traurigkeit Prousts:
Wann werde ich dem Menschen begegnen, der für mein wirkliches Leben, für meine innersten Empfindungen ein wahrhaftes Verständnis aufbringt und der, nachdem er mir angesehen hat, wie ich, da ich leidend war, das größte Vergnügen versäumte, mich eine Stunde danach (…) in den banalsten aller Gesellschaften erblickt, auf mich zutritt und in aller Aufrichtigkeit sagt: >Was für ein Glück, dass Ihr Anfall vorüber ist!< (413)
Proust vermisst die seelische Fürsorge besonders bei seinem Freund.
Sie können sich nicht vorstellen, welch nervliche Erschöpfung den Kranken befällt, der sich von jemandem, den er liebt, falsch beurteilt fühlt und der spürt, wie seine harmlosesten Ablenkungen gegen ihn ausgelegt werden. (414)

An Geneviève Straus
Ende April 1905

Proust spricht sich bei der Freundin Genevière Straus über seine Enttäuschung mit Montesqiuou aus.
Ich bin vollkommen erschlagen von Montesquoius Briefen. Jedes Mal, wenn er einen Vortrag hält, ein Fest gibt (…), will er nicht einsehen, dass ich krank bin, und vorher gibt es Mahnungen, Drohungen, Besuche von Yturri, der mich wecken lässt, und nachher Vorwürfe, weil ich nicht gekommen bin.
Die Eitelkeit der Künstler, die keine Ausnahmen, nicht mal durch eine ernste Erkrankung, zulassen kann. Mangelndes Verständnis, mangelnde Empathie, weil die eigenen Interessen ganz oben stehen. Was hat Proust denn nur für Freunde?, so fragen wir uns.
Ich glaube, man könnte noch genesen, wenn nur >die anderen< nicht wären. Aber die Erschöpfung, zu der sie uns treiben, die Ohnmacht, ihnen die Leiden begreiflich zu machen, die manchmal einen Monat lang die Folge der Unvorsichtigkeiten sind, die man begeht, um das zu tun, was sie für ein Vergnügen halten, all das ist der Tod.
Ich persönlich finde das Lesen dieser Zeilen psychisch betrachtet recht anstrengend, denn ich stelle mir diesen kranken Proust vor, der permanent herausgefordert wird, sich bzw. seine Erkrankung zu erklären. Schwierig, gesund zu werden, wenn einem das Umfeld in einer destruktiven Form permanent herausfordert.

Auf der Seite 417 bringt Proust ein kritisches Liebes-Dichtvers von Sainte-Beuve und überträgt ihn auf die Situation mit seinem Partner Montesquiou:
Das Erschreckende ist, dass man hieran ersieht, wie egoistisch die Liebe ist. Sobald der Liebhaber tot ist, ist alles vorbei, da man ja nichts mehr von ihm zu erwarten hat (was im Übrigen nicht für alle gilt.)
Hier habe ich mit Proust mitgetrauert. Die Enttäuschung, sich von liebenden Menschen verstoßen zu fühlen, weil diese nicht bereit sind, die ernste Lage des anderen zu begreifen. Hierbei scheint Montesquious Selbstliebe größer zu sein als die Liebe zu seinem Partner. 

Telefongespräch mit Anne
Anne hat sich dieselben Zitate angestrichen, die ich mir herausgeschrieben habe. Auch, weil sie so eindeutig sind. Sie war ebenso wie ich von der Verständnislosigkeit von Prousts Mitmenschen erstaunt, die man aber auch auf die heutige Zeit übertragen könne. Auch bei uns werden bestimmte chronische Erkrankungen wie z. B. Adipositas oder psychische Behinderungen nicht für voll genommen. Bezogen auf Proust dachten wir, dass er sich ein neues Umfeld suchen müsse, was wohl nicht so einfach zu bewerkstelligen sei. Freunde finden, die beides in sich tragen; Intellektualismus und Empathie.

Weiter geht es nächstes Wochenende mit den Seiten von 423 - 434
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Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)


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