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Samstag, 7. März 2020

John Okada / No - No Boy (1)

Foto: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Der Autor schreibt aus eigener Betroffenheit, das heißt, er kennt sich aus mit seinem Stoff, in dem es um multiple Identitäten gibt, aber hauptsächlich um die der Japaner*innen und die der Amerikaner*innen in vielfältiger Art. Für mich immer  eine spannende und brisante Thematik, da ich mich auch schon ähnlich wie die Protagonist*innen dieses Buches in meiner Kindheit angefangen habe, damit zu beschäftigen, und ich niemals ausgehört habe, mir weiter Gedanken zu machen, auch aus meiner eigenen Betroffenheit heraus. Erst an der Universität konnte ich in meinen Fächern vieles an eigener Theorie verglichen mit den wissenschaftlichen Studien bestätigt bekommen. Ich habe die Bücher damals geradezu verschlungen. Ein Wissen, das mir bis heute erhalten geblieben ist, und das ich auch heute noch erweitere ... Viele Menschen bekommen ihre Identität in die Wiege gelegt, viele andere dagegen müssen sie sich erarbeiten, da ihr heterogenes Leben, aus dem sie kommen, viel zu differenziert und viel zu facettenreich ist, und sie sich dadurch nicht so schnell auf eine Identität festlegen können. Doch was wir Menschen alle gemeinsam haben, ist, dass die Identitätsentwicklung bei keinem Menschen wirklich abgeschlossen ist. Bis zu dem Tod kann sie wandelbar sein. Nur, wissen das nicht sehr viele Menschen, vor allem die, die glauben, ihre Identität sei durch die Geburt in Stein gemeißelt und hinterfragen sie sie nur in den seltensten Fällen. Der Autor dieses Buches hat diese Thematik wunderbar in Worte fassen können.

Wir sind alles Individuen. Den Körper erben wir von unseren Eltern, der bei allen Menschen unterschiedlich ist. Alle Menschen sehen anders aus. Das haben wir schon damals in der Schulzeit in der Biologie gelernt. Nicht einmal Zwillinge sind hundertprozentig identisch. Aber alle sind wir Menschen. Doch was den Menschen ausmacht, um als Mensch in einer Gesellschaft auch leben zu können, ist die Aneignung von Kulturgütern durch eigene Anstrengung. Diesen Lernprozess nehmen uns die Gene nicht ab ... 
Wie viel Farbe man daher in einem Menschenleben einbringen möchte, kann nur jeder selber für sich bestimmen und zulassen. 

Warum also darf ein Kind mit japanischen Eltern, das in einem anderen Land aufwächst als das der Eltern, nicht die Identität eines Landes aufnehmen, in dem es geprägt und sozialisiert wird? Man kann diesen Gedanken beliebig mit Kindern anderer Ethnien weiterspinnen. Auch bei uns in Deutschland kann man beobachten, dass Kinder, die sich für die Identität ihrer Eltern entschieden haben, weil sie sich hier nicht anerkannt fühlen, und so wirft man ihnen mangelnde Bereitschaft an Integration vor. Andere dagegen, die die Identität eines Deutschen entwickelt haben, werden trotzdem nicht als Deutsche anerkannt, da sie eine dunkle Hautfarbe haben, einen ausländischen Namen tragen oder aus einer anderen Religion kommen. Diese sind in der Gesellschaft hineingewachsen, haben ihren Weg gemacht, gehören als Deutsche trotzdem nicht dazu. Nun kann man hier nicht mehr die Schuld bei den angeblich bösen lernunwilligen Migrant*innen suchen. Was es mit einem Menschen macht, der von der Gesellschaft verstoßen wird, zeigt der Autor John Okada sehr gekonnt in seinem Roman.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Eigentlich ist die Handlung recht schnell erzählt. Die Hauptfigur namens Ishiro Yamada
ist 25 Jahre alt. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder ist er Amerikaner, da sie beide hier geboren wurden. Seine Eltern sind vor 35 Jahren von Japan nach Amerika ausgewandert, um in Amerika Geld zu machen, um später, als reiche stolze Japaner*nnen wieder zurück in die Heimat zu kehren. Die vierköpfige Familie lebt in Seattle. Ishiros Mutter führt zu Hause einen kleinen Lebensmittelladen, mit dem sie gerade so über die Runden kommt. Die häusliche Umgebung ist sehr einfach und ärmlich. In Ishiros Familie schwelen Konflikte. Hier hat die Mutter die Hosen an, während der verweichlichte Vater sich ihr fügt, da er die Probleme nicht verträgt, und so spült er sie mit Alkohol hinunter. Ishiros jüngerer Bruder Taro ist 16 Jahre alt und besucht die Highschool.

Während in Europa der Zweite Weltkrieg tobte, befand sich Amerika mit Japan im Pazifikkrieg. Ishiro, der für Amerika in den Krieg einziehen sollte, verweigerte, da er unter einem Loyalitätskonflikt geriet, und er dadurch nicht gegen die Landsleute seiner Eltern kämpfen wollte. Wie so viele andere Japanese Americans wurde er dadurch in ein Internierungslager gesteckt und verbüßte zwei Jahre seines Lebens in Haft. Sein Bruder Taro will es anders machen als er. Er will nach der Schule unbedingt in den Krieg und für Amerika kämpfen. Ishiro entwickelt starke Identitätskonflikte. Fühlt sich zwar Amerika näher, aber da ist seine Mutter, die vehement an Japan festhält. Als Japan den Krieg gegen Amerika verliert, verleugnet die Mutter die Realität und redet sich ein, dass ihr Land den Krieg gewonnen habe. Identitätskonflikte hat Ishiro aber nicht nur wegen seiner japanischen Mutter, sondern auch durch die Amerikaner*innen, die ihm sein asiatisches Aussehen übel nehmen, und sie ihn niemals als einen Amerikaner akzeptieren können. Und so sind diese Menschen vor den Weißen, wie sich die Amerikaner*innen selber bezeichnen, massiven rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Ich fand die Szenen sehr traurig, als Amerikaner*innen mit japanischem Hintergrund gut genug waren, um in den Wehrdienst und anschließend in den Krieg entsendet zu werden, aber als Bürger erster Klasse mit Amerikaner*innen ohne Migrationshintergrund sind sie noch weit entfernt gewesen. Rassistische Probleme gab es aber auch nicht in jedem aber in manch anderem japanischen Elternhaus. Während Ishiro seinen Kriegsdienst verweigert hat, weil er auf der Seite der Amerikaner keinen Japaner töten wollte, ist ihn sein Freund Kenji angetreten, um als Amerikaner für Amerika zu dienen und kam nach dem Krieg wieder als Kriegsinvalide zurück. In den Augen von Ishiros Mutter galt Kenji als Verräter und als Versager. Sie erwidert, als Ishiro ihr von ihm spricht:
>>Ah<<, sagte sie mit schriller Abscheu, >>der, der ein Bein verloren hat. Wie kannst du mit so jemand befreundet sein? Der taugt nichts.<< (…)>>Warum?<<, krächzte er. Sein Unbehagen schien ihr merkwürdigerweise Freude zu machen. Sie reckte das Kinn hoch und sagte: >>Er ist kein Japaner. Er hat gegen uns gekämpft. Er hat Schande gegen seinen Vater gebracht und Leid über sich selbst. Es wäre besser, er wäre getötet worden.<<>>Was ist am Japanischsein so gut?<< Sie schien ihn nicht zu hören. Ganz ruhig fuhr sie in mütterlichem Ton fort: >>Sei ein guter Junge, ein guter Sohn. Um meinet- und auch deinetwillen – triff dich nicht mehr mit ihm. Es ist besser so.<< (2018, 123f)

Diese Szene hat mich sehr betroffen gestimmt. Welche Vorstellung Menschen von anderen Menschen nur haben. Das ist nicht typisch Japanisch. In allen Ländern findet man Leute, die in ihrem Land an solchen kruden Vorstellungen zu anderen Ethnien oder zu anderen Lebensformen festhalten.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Ishiro hat seinen Freund Kenji verloren und die Art, wie er um seinen Freund getrauert hat, hat mir imponiert.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Das war für mich hauptsächlich Kenji, der es geschafft hat, für seine amerikanische Identität gerade zu stehen. Aber er hatte auch anders als Ishiro Eltern, die gelernt haben, Amerika als ihre neue Heimat zu begreifen. Obwohl Ishiro als Kriegsinvalide zurückgekehrt ist, trug er sein Schicksal gekonnt und meisterhaft, obwohl er durch seine Beinamputation eine tödliche Erkrankung mit sich trug.

Welche Figur war mir antipathisch?
Mir war keine Figur wirklich antipathisch. Ishiros Mutter war so gefangen in ihrer Welt, die total veraltet war, und sie Probleme hatte, die Realität anzuerkennen, hat mir eigentlich leidgetan. Vielleicht konnte sie nicht anders. Psychisch ist sie selbst an ihrem verlogenen Weltbild desillusionierend zerbrochen.

Meine Identifikationsfiguren
Ishiro und Kenji.

Cover und Buchtitel
Erst wusste ich das Cover und den Buchtitel überhaupt nicht einzuordnen. Aber mit dem Lesen des Romanstoffes erschloss sich mir der Sinn immer mehr. Die japanische Flagge und die amerikanische Kultfigur von Walt Disney sind zwei Kulturträger, die zu diesen Helden wie Ishiro, Kenji und viele andere ihrer Lage gehören. Der Buchtitel ist mir nach dem Lesen auch deutlich geworden. Ishiro war ein No - No Boy, da er den Kriegsdienst verweigert hatte, um nicht gegen das Land seiner Eltern zu kämpfen, und dadurch im Gefängnis gesessen hat. Er ist dadurch eigentlich ein Niemand. Weder ein Japaner, noch ein Amerikaner. 

Zum Schreibkonzept
Auf den 292 Seiten ist das Buch in elf Kapiteln gegliedert. Es beginnt mit einem Vorwort und endet mit einem Anhang, der ein paar Seiten zur Entstehung der japanisch-amerikanischen Literatur beschreibt. Auch historisch gibt es hier ein paar Fakten zu entnehmen, dass z. B. der amerikanische Präsident Reagen sich bei den zu Unrecht internierten Japanese Americans entschuldigt hatte. Leider kam diese Entschuldigung für viele zu spät. Ab 1990 wurde eine Wiedergutmachungsgebühr an jeden Überlebenden entrichtet.

Das Buch ist flüssig geschrieben. Den Schluss hätte ich gerne noch etwas in die Länge gezogen.

Meine Meinung
Das Buch hat mich nachdenklich gestimmt, da es mir zeigt, dass diese Probleme in jedem Land existieren. Überall auf der Welt gibt es Kinder, die mit mehreren Kulturen aufwachsen, und diese aber häufig auf die Herkunftskultur der Eltern herabgesetzt werden. Obwohl es eine Bereicherung ist, Expert*innen von Kulturgütern mehrerer Länder zu werden, dringt diese Bereicherung nicht wirklich in das Bewusstsein jener Menschen, die nur auf ihre und nur auf eine einzige Kultur beharren. Aber die Vielfalt bringt weltliche Vorzüge und man sollte diese stärker hervorheben, statt immer nur die Nachteile zu bestimmen, damit betroffene Kinder schon früh lernen, dass sie große Vorteile gegenüber ihren Kameraden haben, die aus einer Monokultur kommen. Wenn ihnen diese Wertschätzung nicht von der Gesellschaft entgegengebracht werden kann, müssen sie es selber lernen, sich diese zu geben. Aber im beruflichen Zweig sind Menschen, die z. B. mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind, in der Wirtschaft erwünscht, da sie mit vielen Ländern kooperieren und verhandeln können.

Mein Fazit
Mein Fazit möchte ich gerne an einem Zitat von Okada festhalten, weil es mir so gut gefallen hat und es auch Hoffnung macht, Bücher wie dieses zu lesen, in der Absicht, damit doch im geschriebenen Wort etwas bewegen zu können, um der Problematik entgegen wirken zu können, denn ... 
 ... Okada (hielt) selbst einmal fest, dass >einzig in der Literatur die Hoffnungen und Ängste, die Freuden und das Leid der Menschen angemessen Ausdruck finden.< (292)

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Im Mai letzten Jahres habe ich mich mit meinen beiden Lesepartnerinnen Tina und Sabine in Heidelberg getroffen und sind zufälligerweise an einem Buchladen der Büchergilde geraten, den wir auch betreten hatten. Mir fiel John Okadas Buch sofort auf. Ohne, dass ich von dem Inhalt etwas wusste, griff ich danach. Wahrscheinlich war es die Comicfigur, die mich inspirierte, da sie meine Kindheit mitgeprägt hatte.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.

_______________
Ich spreche zwei Sprachen.
In die eine flüchte ich,
wenn die andere unmenschlich wird.
(Autor unbekannt)

Gelesene Bücher 2020: 05
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)


Sonntag, 28. April 2019

Lukas Hartmann / Der Sänger (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Eine gelungene aber eine sehr traurige Biografie zu dem 38-jährigen jüdischen Tenorsänger Joseph Schmidt, der als deutscher Caruso gefeiert wird, hat uns der Autor Lukas Hartmann hinterlegt. Bis zum Schluss hat mich die Thematik gepackt. Sehr gut geschrieben. Diese Lektüre sollte den Buchpreis bekommen.

Es ist eine so ernste Thematik, die gegenwärtig in unsere politische Zeit passt, dass ich das Bedürfnis verspüre, meine Buchbesprechung ein wenig zu intensivieren. So viele wichtige Zitate möchte ich gerne hier reinstellen, damit ich sie immer wieder nachlesen kann, wenn mich das Thema immer wieder neu beschäftigen wird. Wer die Absicht hat, das Buch selbst zu lesen, sollte meine Buchbesprechung vorher lieber überspringen und sich auf die Buchvorstellung, siehe Link unten, beschränken.

Hier geht es zur Buchvorstellung; zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die Hauptfigur dieser Geschichte ist Joseph Schmidt, der gerademal 1,54 Meter groß ist. Obwohl Schmidt nur auf dem Papier Jude ist, wird er 1942 trotzdem von den Nazis verfolgt. Einmal Jude immer Jude, das behaupten selbst die gläubigen Juden unter sich. Auch Künstler*innen sind vor den Nazis nicht geschützt.

Schmidt begibt sich auf die Flucht in die Schweiz. Er hatte sich schon in Frankreich in der Villa Phoebus für mehrere Wochen versteckt. Doch auch dort ist Schmidt nicht mehr sicher und flüchtet mit seiner Begleiterin Selma Wolkenheim in die Schweiz, da die Schweiz im Zweiten Weltkrieg politisch neutral war.

Schmidt war ein gefeierter Sänger, überall beliebt, auch bei Frauen, aber eine feste Bindung war er nicht in der Lage zu schließen, obwohl er mit einer Frau einen siebenjährigen Sohn besitzt und er selbst sich nur als den Erzeuger betrachtet aber nicht als Vater des Kindes. Sein Herz gehörte allein der Musik und er war nicht bereit, es mit jemand anderem zu teilen. Aber ob dies der alleinige Grund ist? Schmidt hatte einen autoritären Vater namens Wolf Schmidt, der streng seine religiösen Praktiken nachging, an die sich die Kinder anzupassen hatten. Wolf prügelte auch auf die Kinder ein, wenn sie seine Erwartungen nicht erfüllen konnten …
Die Wünsche dieses Manns, der wollte, dass Joseph fehlerlos den Talmud zitierte, konnte er nicht erfüllen. Nein, (den) Vater, der die ganze Familie in autoritärem Bann hielt, hatte (Joseph) nicht geliebt, sich vergeblich nach Zuwendung, nach Lob gesehnt. (2019, 36) 

Die Schweiz ist dicht, die Grenzen werden geschlossen, da sie mit der Masse an Flüchtlingen nicht fertig wird und so gerät dieses Land in eine schwere Prüfung der Mitmenschlichkeit.
Dabei bemühen wir uns intensiv, das Wohl der Einzelnen, zunächst der Einheimischen, der hier Aufgewachsenen, im Auge zu behalten, und ebenso das Gesamtwohl des Vaterlandes. Und dennoch dürfen wir gegenüber dem wachsenden Flüchtlingselend, das uns aus den Akten entgegenschreit, nicht unempfindlich werden. Je mehr bei uns (…) über die Greueltaten (sic) in Konzentrationslagern bekannt wird, zu desto harscheren Reaktionen führen unsere Rückweisungen in einem Teil der Bevölkerung, zu immer deutlicheren Protesten in der linken Presse und bei den jüdischen Organisationen, während die andere Seite unsere Entscheidungen, die an die Gesetze und an die Beschlüsse des Bundesrats gebunden sind, durchaus billigt. (…) Gegenwärtig halten sich mindestens neuntausend Flüchtlinge in der Schweiz auf, und eine Weiterreise des europäischen Kontinents   (…) ist angesichts der Kriegslage und der fortdauernden Dominanz, nicht mehr möglich. Sie werden bei uns bleiben und die Bundeskasse mit Millionenkosten belasten, so lange, bis der Krieg irgendwann zu Ende ist. (64)

Schmidt wurde mithilfe eines Schleppers über die Schweizer Grenzen geschleust und wurde in Girenbad in ein Internierungslager zugewiesen und begegnet hier jede Menge Schicksalsgenossen. Hier sind die Flüchtlinge einem repressiven Machtapparat ausgesetzt. Dadurch werden die Menschen hier wie Sträflinge behandelt. Liegen gab es hier im Lager nicht, die Flüchtlinge wurden auf Stroh gebettet. Zu essen gab es nur Brühe und altes Brot. Schmidt erkrankt an einer schweren Infektion im Rachen und im Kehlkopfbereich und wurde erst nach langem Hin- und Her ins Kantonsspital gefahren. Auch in dem Hospital wird er mit den billigsten Mitteln behandelt, obwohl seine Erkrankung mittlerweile auch auf sein Herz überschlägt. Schmidt wird von dem Chefarzt der Klinik schlecht behandelt, der ihm vorwirft, sich seine Beschwerden am Herzen einzubilden, auch, um nicht zurück ins Lager zu müssen. Er stellt dem Kranken viele kritische Fragen, nimmt seine Beschwerden nicht ernst ...
Schmidt schaute den Professor bestürzt an. >>Sie glauben mir nicht? Sie meinen, dass ich Schmerzen erfinde?<<
>> Simulanten gibt es viele. Aber ich sage nichts dergleichen. Es ist einfach meine Pflicht, solche unangenehmen Fragen zu stellen. Das sollten Sie, als vernünftiger Mann, bei der großen Zahl von Internierten in unserem Land, verstehen. Es gibt ja auch sehr viele Ihres Glaubens darunter, die in Anspruch nehmen, verfolgt zu werden, und annehmen, deshalb ein Recht auf Asyl zu haben. << (202)

Es waren viele herzensgute Schweizer zugange, aber viele waren, vor allem Autoritäten, sehr rassistisch eingestellt.
Dabei geht es uns abzuwägen zwischen den Erfordernissen des Landesschutzes und der Humanität; wir können und dürfen die schweizerische Bevölkerung (…) einer zunehmenden Überfremdung durch Heerscharen hauptsächlich jüdischer Flüchtlinge nur mit gebührender Vorsicht aussetzen. (64f)

In Anbetracht unserer eigenen politischen Lage, dass sich die europäischen Länder so schwertun, Flüchtlinge in ihr Land aufzunehmen, möchte ich zum Abschluss ein letztes Zitat einbringen.
Die Flüchtlinge tun uns die Ehre an, in unserem Land einen letzten Ort des Rechts und des Erbarmens zu sehen … Wir sehen an den Flüchtlingen, was uns bis jetzt wie durch ein Wunder erspart geblieben ist. (194)

Weitere Details sind dem Buch zu entnehmen.

Welche Szenen haben mir gar nicht gefallen?
Die Szene im Krankenhaus. Der Professor hat Schmidt nicht gut behandelt, und man hätte ihn bei anderen Umständen wegen unterlassener Hilfeleistung anzeigen können.
Die Szenen im Internierungslager fand ich grausam, dass ich mit dem Lesen für eine Weile aussetzen musste.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Dass es auch gute Menschen gab, die sich für Schmidt eingesetzt haben, vor allem die Wirtin eines Gasthauses.

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Die Wirtin und das Pflegepersonal des Hospitals. Auch Selma Wolkenheim war mir sympathisch.

Welche Figur war mir antipathisch?
Professor Brunner, Chefarzt der Klinik.

Meine Identifikationsfigur
Keine.
 
Cover und Buchtitel
Joseph Schmidt sieht hier zu ausgelassen aus, zu freundlich, obwohl er Angst hatte, im Zug von der Gestapo aufgegriffen zu werden. Deshalb meine Frage; darf Traurigkeit auf einem Titelblatt nicht sein? Muss sie retuschiert werden?

Zum Schreibkonzept
In dem Buch gibt es mehrere Perspektiven, die sich über das Schicksal des Künstlers und über das Verhalten der Schweizer auslassen. Es gibt einen objektiven Erzähler, und im Wechsel wird die Perspektive verschiedener anderer Figuren in Kursivschrift dargestellt, die sich zum Sachverhalt beziehen, was ich spannend fand. Der Schreibstil ist flüssig und sehr gut verständlich. Auf den letzten Seiten gibt es einen Hinweis und eine Danksagung.

Meine Meinung
Vielerorts unter der Leserschaft liest man, dass der Sänger Joseph Schmidt kein Sympathieträger sei, da er Frauen benutzt und sein Kind im Stich gelassen hätte. Ich sehe es ein wenig anders, da viele Künstler*innen Probleme haben, sich eine beständige partnerschaftliche Beziehung aufzubauen. Andere dagegen, die in einer Beziehung lebten, ließen sich von ihr wieder lösen, weil sie darin ihren Lebenssinn nicht fanden. Man hat schon viel gelesen über Künstler*innen, die, weil sie mit dem Leben nicht klarkamen, sich das Leben genommen haben, andere waren dem Alkoholkonsum ausgesetzt, um ihre Probleme zu betäuben, etc. Viele Künstler*innen, die in der Öffentlichkeit stehen, sind einem permanenten seelischen Druck ausgesetzt, da ihr Auftritt mehr als gut sein musste. Außerdem haben viele gar keine Zeit, sich dem viel zu trivialen Alltag hinzugeben. Viel zu hoch sind deren Lebensideale. Sogar viele Schriftsteller*innen haben es schwer und denke dabei auch an Hermann Hesse, der Probleme mit Frauen hatte und war dadurch mehrfach verheiratet und mehrfach geschieden …

Eine persönliche Erfahrung, die ich mit dem Künstler teilen kann
Meine Heimat ist die Musik. Hier spricht mir Joseph Schmidt aus der Seele. Auch für mich ist die Musik Heimat. Sowohl wenn ich selbst musiziere, als auch wenn ich Musik nur höre. Für mich ist die Musik so wichtig wie Lesen, so wichtig wie Essen und Trinken. Musik versetzt mich in andere Welten, in andere Spähren, die man kaum in Worten fassen kann. Außerdem löst Musik in mir Spannung auf. Wenn ich mit anderen Menschen verstimmt bin, dann befreit mich die Musik und so löse ich mich von dem inneren Konflikt, bin nicht mehr nachtragend und kann vergeben, wenn ich Unrecht erfahren habe, oder wenn ich Unrecht tue, vergebe ich mir selber ... Musik löst in mir ein Gefühl des Weltfriedens aus. Ich sehe mich mit allen Menschen der Welt verbunden und nicht nur mit Menschen meiner Heimatländer. Sie löst meine nationale, deutsche Identität auf, und weitet meine Identität, löst sämtliche Grenzen auf, sehe mich als einen Menschen dieser Erde, und begreife, dass wir alle in einem Boot sitzen. Ich bin dankbar, dass mir Joseph Schmidt zu diesem Bewusstsein verholfen hat, wo ich doch noch vor Tagen mit zwei Freundinnen über die nationale Identität mich ausgetauscht habe, und ich mich hinterher gefragt habe, ob ich mich von ihnen überhaupt verstanden gefühlt habe??? Mit dieser Einsicht fühle ich mich in der Identität eines Weltmenschen mehr als bereichert und verzichte gerne auf die nationale Identität, die, wie wir auch hier gesehen haben, ausgrenzend sein kann. 

Mein Fazit
Insgesamt eine sehr nachdenklich stimmende, eine sehr differenzierte und authentisch geschriebene Biografie, deren Thematik, wie ich oben schon geschrieben habe, politisch in unsere Zeit passt. Auch hier hört man in der Bevölkerung immer wieder, dass Deutschland zu viele Flüchtlinge aufnehmen würde. Viele darunter wählen dadurch sogar die AfD. Mir stellt sich die Frage, ob der Mensch nicht fähig ist, aus der Geschichte zu lernen? Ich finde keine Antwort darauf ... Ich selbst kannte Joseph Schmidt nicht, auch nicht seine Arie Ein Lied geht um die Welt. Hier ein Filmausschnitt auf YouTube zu Joseph Schmidts Leben und zu seinem Lied. Er hat tatsächlich die Stimme eines Enrico Caruso.

Das Lied kann man in diesem Video hier besser verstehen. Ich kenne es doch. Wie schön. Es ist wirklich wunderschön. 

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Literaturwissenschaftlich gut recherchiert
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.

Weitere Information zu dem Buch

Hier geht es zur Leserunde auf Whatchareadin. Ich werde mich morgen Abend bestmöglich daran beteiligen. Mir fehlt es an Zeit, neben dem zu lesenden Buch, und neben meiner eigenen Rezension auch noch die vielen Posts in der Leserunde zu lesen, noch dazu eigene Texte verfassen. Ich habe häufig die Ruhe dafür nicht, werde mich deshalb in der zweiten Jahreshälfte stark zurücknehmen. Habe meine eigenen Leseprojekte jetzt auch noch stark vernachlässigt. Irgendwie die goldene Mitte finden, das müsste ich besser hinbekommen.

Hier geht es zur Rezension von Anne Strandborg.

Vielen herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars. 

________________
Meine Heimat ist die Musik
(Joseph Schmidt)

Gelesene Bücher 2019: 17
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Dienstag, 26. März 2019

Fatima Farheen Mirza / Worauf wir hoffen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre   

Mir hat diese Lektüre ausgesprochen gut gefallen. Die Thematik, kulturelle und religiöse Unterschiede einer indischen Familie, die in Amerika lebt, hat mich sehr nachdenklich und auch betroffen gestimmt. Ein wichtiges Buch, das in die westliche und in die islamische Gesellschaft gehört. Die Auseinandersetzung damit hilft, die Welt ein bisschen besser zu machen für Menschen, die offen und bereit sind, von ihrem Tellerrand weg zu schauen.

Ich möchte nicht zu viel verraten, aber ich muss Zitate einfügen, weil sie so treffend die Problematik unterstreichen. Wen das stört, die oder der möchte bitte mit dem Cursor diese Textstellen runterscrollen.

Am Ende werde ich einen kleinen Diskurs über diese Thematik halten.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autor*inporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.


Die Handlung
Obwohl die Thematik facettenreich beschrieben ist, ist die Handlung schnell erzählt.

Der Familienvater Rafik Jaan wanderte von Indien nach Amerika aus, da er auch schon sehr früh in seiner Jugend seine Eltern verloren hatte. Seine spätere Ehe mit Leila wurde von Indien aus arrangiert. Leila lebte noch in Indien, und folgte dem Wunsch ihrer Eltern, Rafik nachzureisen, um dort mit ihm einen Lebensbund einzugehen. Aus dieser Ehe gehen drei Kinder hervor …

Das älteste Kind, ein Mädchen, ist Hadia, ein Jahr später folgt die Schwester Huda und nach weiteren drei Jahren kommt endlich der langersehnte Sohn namens Amar auf die Welt. Alle drei Kinder wachsen kulturell und religiös streng traditionell auf. Mit neun Jahren ist die Kindheit der Mädchen abgeschlossen. Sie dürfen zwar frei entscheiden, ob sie ihre Haare bedecken, aber sie stehen unter einem ganz strengen mütterlichen Einfluss, dass sie gar nicht anders können, als ihre Haare unter eine Haube zu legen ... 
Hadia hat es besonders schwer, denn sie wird als die ältere Schwester mit zur Verantwortung herangezogen, wenn vor allem der Bruder Amar Sorgen macht.

Denn Amar ist das Sorgenkind, das schwarze Schaf in der Familie. Schon früh lehnt er sich gegen die Konventionen der Eltern und der islamischen Gemeinde auf. Er weigert sich, Muslim zu werden. Er fühlt sich eher der amerikanischen Kultur zugehörig. Da die Kinder in Amerika geboren wurden, haben sie alle drei die amerikanische Staatsbürgerschaft …

Die beiden Schwestern sind eher dazu geneigt, sich den Erwartungen der Eltern anzupassen. Sie haben keine Schulprobleme, sie halten die muslimische Kleiderordnung ein, und versuchen für sich einen Weg zu finden, der auch mit dem amerikanischen Kulturverständnis konform geht, was ganz schwer ist, da die Eltern nicht einmal amerikanische Freunde im Haus dulden. Auch amerikanisch darf innerhalb der vier Wände nicht gesprochen werden, sie sprechen zu Hause nur Urdu. Leila hat den Anspruch, die Kinder, vor allem die Mädchen, immer im Auge zu behalten, um sie besser formen und lenken zu können. Da auch ihr Leben, ihre Ehe mit Rafik, von ihren Eltern arrangiert wurde, verlangt sie nun dasselbe auch von ihren Mädchen. Sie beeinflusst das Gewissen der Kinder z. B. in der Form, dass jede Sünde im Herzen einen schwarzen Fleck hinterlassen würde. Mehrere Sünden würden das Herz vollkommen schwärzen. Doch was der Mensch als Sünde begreift, kann weltweit unterschiedlich ausgelegt werden.
Ein Fleck, der nicht mehr weggeht. So fett und schwarz, dass das Herz nicht mehr imstande ist, Gut und Böse zu unterscheiden. (2019, 237)

Hadia, die überzeugte Kopftuchträgerin, wünscht sich dennoch hin und wieder mal eine ganz normale Jugendliche zu sein, um auf Partys gehen zu dürfen, um sich mit Gleichaltrigen Jungen und Mädchen auszutauschen. Sie hegt den Wunsch, sich die Haare blau zu färben, wie es ihre beste Freundin Danielle macht. Huda dagegen kann es kaum abwarten, endlich neun Jahre alt zu werden, damit sie ihren Kopf verkleiden kann …

Die Auseinandersetzung mit beiden Kulturen ist bei allen drei Kindern unterschiedlich, doch alle drei stellen sich dieselbe Frage, wieweit sie eigene Wege ausprobieren dürfen, um von den Eltern noch geliebt und nicht verstoßen zu werden …
Hadia kennt ihren Vater. Seinen Stolz, seine Werte, sein striktes Befolgen der religiösen Vorschriften. All dies ist ihm wichtiger als die Liebe zu seinen Kindern. Hadia hat immer gespürt, dass die Liebe ihrer Eltern an Bedingungen geknüpft ist. Für Amar ist das eine Herausforderung, er möchte herausfinden, wie weit er gehen kann, bis sie ihn aufgeben. (230)

Amar kommt mit dem Vater nicht zurecht, da er hohe Maßstäbe setzt, die er nicht erfüllen kann. In der Schule hat er Probleme mit dem Lernstoff, ganz anders die Schwestern, die Musterschülerinnen sind. In der Pubertät weigert er sich, Muslim zu werden, schreit es dem Vater regelrecht ins Gesicht, dass er kein Muslim sei. Amar zweifelt die Religion seiner Eltern vehement an …

Der Junge hat sich allerdings in das Mädchen Amira Ali aus der islamischen Gemeinde verliebt. Sie kennen sich von Kindesbeinen an ...

Amar wird mit den Problemen zu Hause nicht fertig, greift zu Drogen und zu Alkohol. Die ständige Konfrontation mit seinem Vater zermürbt ihn. Auch die islamische Gemeinde lehnt ihn ab. Es folgt ein Zitat, das richtig gut dazu passt.
Nimm dich in Acht mit Schuldzuweisungen. (…) Denk immer daran, dass jedes Mal, wenn du mit dem Finger auf jemand anderen zeigst, drei Finger auf dich selbst zurückweisen.

Probleme hat Amar auch mit der amerikanischen Gesellschaft, die ihn nicht als amerikanischen Staatsbürger aufgrund seines Namens anerkennt. Durch den terroristischen Anschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center geraten alle Menschen unter einem Generalverdacht, die irgendetwas mit dem Arabischen zu tun haben.

Amar gerät in der Schule in eine Prügelei mit rassistischem Hintergrund. Seine Schulkameraden bezichtigen seinen Vater als Terrorist, weil er Muslim ist und einen Bart trägt. Und auch vor den Anschlägen hatte es Amar schwer, als Amerikaner anerkannt zu werden. Ständig wird er auf die Herkunft seiner Eltern reduziert.
Seit Kurzem hat Amar das Gefühl, in eine fremde Welt hineingeboren zu sein. Welche Rolle spielt es schon, dass seine Geburtsurkunde aus einem Krankenhaus in dieser Stadt stammt und dass das einzige Haus, in dem er je gelebt hat, hier steht. Wo kommst du denn her?, lautet die freundliche Version einer oft gestellten Frage. Als könnte er gar nicht von hier stammen. Als habe er etwas missverstanden, nicht die anderen. Er hat den Versuch aufgegeben, es zu erklären. Indien, murmelt er dann als Antwort. Obwohl er insgesamt höchstens zwei Wochen dort gelebt hat und seine Eltern inzwischen hier ihr halbes Leben verbracht haben. Manchmal stellt diese Antwort die Fragenden zufrieden, manchmal wirken sie verwirrt und haken nach: Aber haben Menschen aus Indien nicht dunklere Haut? (179)

Später, nach mehreren Jahren, setzt sich Rafik, der mittlerweile Großvater zweier Enkel geworden ist, mit sich und seinem Sohn mental auseinander und erkennt seine Fehler, die er bereut. Gedanklich spricht er mit Amar:
Weißt du - darum geht´s doch-, kein Mensch ist nur gut. Jeder versucht, gut zu sein. Und jeder hat manchmal das Gefühl, dass er nicht gut ist, und sogar bei dem Versuch scheitert, gut zu sein. (352)

Warum Rafik nicht persönlich mit dem Sohn spricht, um mit ihm diese Dinge zu klären, möchte ich nicht verraten. Daher sind weitere Details dem Buch zu entnehmen.

Welche Szene hat mir gar nicht gefallen?
Der Grundschüler Amar wünscht sich von den Eltern dieselben roten Schuhe, wie sein Schulfreund sie hat. Die roten Schuhe stehen für ein kindliches amerikanisches Statussymbol. Amar möchte dazu gehören. Der Vater lehnt die Schuhe ab. Das Kind kann sich damit nicht abfinden, und schreibt seinem Daddy eine Petition. Dieser macht daraufhin mit dem Sohn einen Deal. Er bekommt die Schuhe, wenn er im nächsten Diktat null Fehler hat. Der Junge geht auf den Deal ein und paukt die Rechtschreibung. Seine Schwester hilft ihm, gibt ihm Tipps … Er kommt tatsächlich mit der Höchstnote nach Hause, und weil er den Test nicht ehrlich bestanden hat, wie sich dies erst später herausstellt, bekommt er die roten Schuhe nicht. Das fand ich ganz furchtbar für das Kind, denn wieder fühlt es sich als Versager, niemals schafft er es, die hohe Messlatte seines Vaters zu erreichen.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Rafiks Selbstreflexion vor allem seinem Sohn gegenüber auf den letzten Seiten. Und seine Weisheit hat mir gefallen. Eine Wiedergutmachung mithilfe seiner Enkelkinder, die er abgöttisch zu lieben gelernt hat.
Ich habe ihnen gegenüber keine andere Pflicht, als sie zu lieben, und werde deshalb auch von ihnen vorbehaltlos wieder geliebt. 382

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Alle drei Kinder. Und die Krankenschwester der Schule.

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine. Jeder Erwachsene war irgendwie in seiner Welt gefangen.

Meine Identifikationsfigur
Amar.

Cover und Buchtitel
Finde ich farblich sehr ansprechend. Über den Buchtitel muss ich noch weiter nachdenken.

Zum Schreibkonzept
Das Buch ist auf 478 Seiten in vier Teilen gegliedert. Und in jedem Teil wird die Anzahl der Kapitel neu nummeriert. Der Schreibstil ist flüssig, aber nicht chronologisch aufgebaut. Es finden jede Menge retro- und prospektivische Zeitsprünge statt. Man kann sich die Details zwar gut behalten, aber am Ende habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr wusste, welche Szenen wann zugeordnet waren.
Der dritte Teil hat sich stark gezogen. Vieles wiederholt sich, wo ich nah dran war, Seiten zu überspringen. Man hätte hier den Stoff ein wenig raffen können.
Doch am Ende, als Rafik sein und das Lebens seines Sohnes reflektiert, wird man erneut daran erinnert, wann gewisse Szenen aufgetaucht sind, und so war ich durch diesen Part wieder ausgesöhnt. Leider hat am Ende ein Glossar gefellt, in dem die fremden Begriffe hätten näher erläutert werden können. Dafür viele Seiten zur Danksagung. 

Meine Meinung / Ein kleiner Diskurs
Ich konnte mich gut in Amar hineinversetzen. Auch hier in Deutschland gibt es viele Kinder, die mit mehreren Sprachen und Kulturen aber nicht in dem Land ihrer Eltern aufwachsen oder aufgewachsen sind. Auch sie werden trotz der deutschen Staatsbürgerschaft immer wieder als die nationalen Stellvertreter ihrer Eltern betrachtet und auf deren kulturellen Herkunft reduziert, statt dass man sie wertschätzt mit ihrem Wissen, das sie mitbringen, das ein Kind aus einer Monokultur nicht besitzt. Mittlerweile wächst hier die vierte Migrantengeneration auf, und es hat sich in der Aufnahmegesellschaft vom Bewusstsein her nur sehr wenig verändert. Menschen mit dunkler Hautfarbe und/oder mit einem ausländischen Namen haben es besonders schwer, hier als vollwertige Deutsche anerkannt zu werden. Viele Deutsche sind der Meinung, dass Integration schwierig sei. Meine Frage: Was genau ist daran schwierig? Und wer sind die Schwierigen? Viele sind integriert und werden trotzdem in die Ausländerschublade gesteckt, mit allen Klischees und Vorurteilen beladen. Andere sind sogar assimiliert, und auch das reicht nicht, um zu den Deutschen zu gehören ... Soll tatsächlich das Blut die Zugehörigkeit eines Landes bestimmen, wo es weltweit nur vier Blutgruppen gibt?

Vielleicht wäre es hilfreich, die Fehler nicht immer im Anderen zu suchen und anzufangen, das eigene Weltbild zu hinterfragen, warum man denn Probleme hat, diese Kinder als vollwertige Deutsche anzuerkennen?

Ich bin dankbar für dieses Buch, das exakt die Missstände nicht nur bei dem vertrauten ewigen Fremden sucht, sondern in der Lage ist, diese auch bei der Aufnahmegesellschaft zu finden. Letztendlich sind die meisten Kinder, die hier aufwachsen, nicht integriert, sondern in diese Kultur hineingewachsen, wie dies auch bei deutschen Kindern der Fall ist. Man sagt ja auch nicht, dass deutsche Kinder in Deutschland integriert sind. 

Massive, psychische Probleme entstehen nämlich auch, wenn Menschen besonders in den Medien erfolgreich aus einer Gesellschaft ausgeschlossen werden, obwohl sie das Recht hätten, sich als zugehörige deutsche Menschen zu bezeichnen. Und viele Deutsche lassen sich stark von den Medien leiten und beeiflussen.

Und Kinder, die nicht dazugehören dürfen, flüchten häufig in die Herkunftsidentität der Eltern. Andere stehen drüber, und verteidigen ihre sog. deutsche Identität. 

Und diese Wurzeltheorie macht Hiergeborene, ganz gleich, aus welcher Generation sie kommen, zu ewigen Ausländern. 

Bei anderen, von draußen kommenden Menschen, die später nach Deutschland eingewandert sind, werden hier einem Integrationsprozess ausgesetzt, der leider noch zu sehr einseitig verläuft, der aber beidseitig, zwischen dem Deutschen und dem Migranten, sich abspielen sollte, denn Integration ist immer ein beidseitiger Prozess, wenn er gelingen soll. Aber das ist leider noch nicht in das Bewusstsein vieler Menschen, die deutsche Eltern haben, ganz gleich, aus welchem Bildungsniveau sie kommen, eingedrungen. Hierbei muss noch viel nachgearbeitet und nachgeholt werden. Die deutschen Medien machen über diese Menschen hauptsächlich negative Schlagzeilen, sprechen immer über Ausländer, die kriminell geworden sind, oder von denen, die nicht integriert sind und sie diese als die Integrationsversager bezeichnen. Von anderen, die sich hier zu Hause fühlen, sprechen sie nicht, weil sie nicht zu den Deutschen zählen dürfen.

Ein Prozess zum Verständnis der Integration wäre für mich, nicht über die Migranten zu sprechen, sondern mit ihnen. Nur so kann man erfahren, wie differenziert die Lebensweise dieser Menschen ist. Zu erleben, was sie innerlich fühlen und was sie denken, was sie können und was sie durch den Umgang mit mehreren Sprachen und Kulturen an Ressourcen mitbringen, wäre mal spannend als Außenstehende daran teilhaben zu können …

Mein Ideal wäre, nationale Identitäten abzuschaffen und die Identität als Mensch einzuführen. Das klingt utopisch, aber das geeinte Europa war ein Ideal, von dem der verehrte Friedrich Schiller einmal geträumt hat. Und heute leben wir in einem geeinten Europa, auch wenn wir alle im Prozess stecken, mit den vorhandenen politischen Problemen EU-weit fertig zu werden.

Der Mensch ist das, was er innerlich fühlt und denkt, und nicht das, was der Mensch zu fühlen und zu denken hat.

Mein Fazit
Eine sehr differenzierte, lesenswerte fiktive Familienbiografie, die Mut macht und die ich jedem Menschen ans Herz legen möchte, der bereit ist, sein eigenes Welt- und Menschenbild zu hinterfragen, und der aufhören möchte, integrative Fehler immer im Anderen zu suchen.

Zwölf von zwölf Punkten.
  
Weitere Information zu dem Buch

Hier geht es zur Leserunde von Whatchareadin.

Auch meine Freundin Monerl hat das Buch gelesen, das sie tief berührt hat. Wir hatten uns am letzten Montag im Cafė Extrablatt getroffen und uns rege über diese Lektüre ausgetauscht.

 Hier geht es zu ihrer Buchbesprechung, die auch interessant zu lesen ist. 

Vielen Dank an den dtv Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars.

Vielen Dank auch an die Moderator*Innen von Whatchareadin für ihr Engagement mit den Verlagen.

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Ich spreche zwei Sprachen.
In die eine flüchte ich,
wenn die andere unmenschlich wird.
(Autor unbekannt)

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