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Dienstag, 26. März 2019

Fatima Farheen Mirza / Worauf wir hoffen (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre   

Mir hat diese Lektüre ausgesprochen gut gefallen. Die Thematik, kulturelle und religiöse Unterschiede einer indischen Familie, die in Amerika lebt, hat mich sehr nachdenklich und auch betroffen gestimmt. Ein wichtiges Buch, das in die westliche und in die islamische Gesellschaft gehört. Die Auseinandersetzung damit hilft, die Welt ein bisschen besser zu machen für Menschen, die offen und bereit sind, von ihrem Tellerrand weg zu schauen.

Ich möchte nicht zu viel verraten, aber ich muss Zitate einfügen, weil sie so treffend die Problematik unterstreichen. Wen das stört, die oder der möchte bitte mit dem Cursor diese Textstellen runterscrollen.

Am Ende werde ich einen kleinen Diskurs über diese Thematik halten.

Hier geht es zum Klappentext, zum Autor*inporträt, zu meinen ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.


Die Handlung
Obwohl die Thematik facettenreich beschrieben ist, ist die Handlung schnell erzählt.

Der Familienvater Rafik Jaan wanderte von Indien nach Amerika aus, da er auch schon sehr früh in seiner Jugend seine Eltern verloren hatte. Seine spätere Ehe mit Leila wurde von Indien aus arrangiert. Leila lebte noch in Indien, und folgte dem Wunsch ihrer Eltern, Rafik nachzureisen, um dort mit ihm einen Lebensbund einzugehen. Aus dieser Ehe gehen drei Kinder hervor …

Das älteste Kind, ein Mädchen, ist Hadia, ein Jahr später folgt die Schwester Huda und nach weiteren drei Jahren kommt endlich der langersehnte Sohn namens Amar auf die Welt. Alle drei Kinder wachsen kulturell und religiös streng traditionell auf. Mit neun Jahren ist die Kindheit der Mädchen abgeschlossen. Sie dürfen zwar frei entscheiden, ob sie ihre Haare bedecken, aber sie stehen unter einem ganz strengen mütterlichen Einfluss, dass sie gar nicht anders können, als ihre Haare unter eine Haube zu legen ... 
Hadia hat es besonders schwer, denn sie wird als die ältere Schwester mit zur Verantwortung herangezogen, wenn vor allem der Bruder Amar Sorgen macht.

Denn Amar ist das Sorgenkind, das schwarze Schaf in der Familie. Schon früh lehnt er sich gegen die Konventionen der Eltern und der islamischen Gemeinde auf. Er weigert sich, Muslim zu werden. Er fühlt sich eher der amerikanischen Kultur zugehörig. Da die Kinder in Amerika geboren wurden, haben sie alle drei die amerikanische Staatsbürgerschaft …

Die beiden Schwestern sind eher dazu geneigt, sich den Erwartungen der Eltern anzupassen. Sie haben keine Schulprobleme, sie halten die muslimische Kleiderordnung ein, und versuchen für sich einen Weg zu finden, der auch mit dem amerikanischen Kulturverständnis konform geht, was ganz schwer ist, da die Eltern nicht einmal amerikanische Freunde im Haus dulden. Auch amerikanisch darf innerhalb der vier Wände nicht gesprochen werden, sie sprechen zu Hause nur Urdu. Leila hat den Anspruch, die Kinder, vor allem die Mädchen, immer im Auge zu behalten, um sie besser formen und lenken zu können. Da auch ihr Leben, ihre Ehe mit Rafik, von ihren Eltern arrangiert wurde, verlangt sie nun dasselbe auch von ihren Mädchen. Sie beeinflusst das Gewissen der Kinder z. B. in der Form, dass jede Sünde im Herzen einen schwarzen Fleck hinterlassen würde. Mehrere Sünden würden das Herz vollkommen schwärzen. Doch was der Mensch als Sünde begreift, kann weltweit unterschiedlich ausgelegt werden.
Ein Fleck, der nicht mehr weggeht. So fett und schwarz, dass das Herz nicht mehr imstande ist, Gut und Böse zu unterscheiden. (2019, 237)

Hadia, die überzeugte Kopftuchträgerin, wünscht sich dennoch hin und wieder mal eine ganz normale Jugendliche zu sein, um auf Partys gehen zu dürfen, um sich mit Gleichaltrigen Jungen und Mädchen auszutauschen. Sie hegt den Wunsch, sich die Haare blau zu färben, wie es ihre beste Freundin Danielle macht. Huda dagegen kann es kaum abwarten, endlich neun Jahre alt zu werden, damit sie ihren Kopf verkleiden kann …

Die Auseinandersetzung mit beiden Kulturen ist bei allen drei Kindern unterschiedlich, doch alle drei stellen sich dieselbe Frage, wieweit sie eigene Wege ausprobieren dürfen, um von den Eltern noch geliebt und nicht verstoßen zu werden …
Hadia kennt ihren Vater. Seinen Stolz, seine Werte, sein striktes Befolgen der religiösen Vorschriften. All dies ist ihm wichtiger als die Liebe zu seinen Kindern. Hadia hat immer gespürt, dass die Liebe ihrer Eltern an Bedingungen geknüpft ist. Für Amar ist das eine Herausforderung, er möchte herausfinden, wie weit er gehen kann, bis sie ihn aufgeben. (230)

Amar kommt mit dem Vater nicht zurecht, da er hohe Maßstäbe setzt, die er nicht erfüllen kann. In der Schule hat er Probleme mit dem Lernstoff, ganz anders die Schwestern, die Musterschülerinnen sind. In der Pubertät weigert er sich, Muslim zu werden, schreit es dem Vater regelrecht ins Gesicht, dass er kein Muslim sei. Amar zweifelt die Religion seiner Eltern vehement an …

Der Junge hat sich allerdings in das Mädchen Amira Ali aus der islamischen Gemeinde verliebt. Sie kennen sich von Kindesbeinen an ...

Amar wird mit den Problemen zu Hause nicht fertig, greift zu Drogen und zu Alkohol. Die ständige Konfrontation mit seinem Vater zermürbt ihn. Auch die islamische Gemeinde lehnt ihn ab. Es folgt ein Zitat, das richtig gut dazu passt.
Nimm dich in Acht mit Schuldzuweisungen. (…) Denk immer daran, dass jedes Mal, wenn du mit dem Finger auf jemand anderen zeigst, drei Finger auf dich selbst zurückweisen.

Probleme hat Amar auch mit der amerikanischen Gesellschaft, die ihn nicht als amerikanischen Staatsbürger aufgrund seines Namens anerkennt. Durch den terroristischen Anschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center geraten alle Menschen unter einem Generalverdacht, die irgendetwas mit dem Arabischen zu tun haben.

Amar gerät in der Schule in eine Prügelei mit rassistischem Hintergrund. Seine Schulkameraden bezichtigen seinen Vater als Terrorist, weil er Muslim ist und einen Bart trägt. Und auch vor den Anschlägen hatte es Amar schwer, als Amerikaner anerkannt zu werden. Ständig wird er auf die Herkunft seiner Eltern reduziert.
Seit Kurzem hat Amar das Gefühl, in eine fremde Welt hineingeboren zu sein. Welche Rolle spielt es schon, dass seine Geburtsurkunde aus einem Krankenhaus in dieser Stadt stammt und dass das einzige Haus, in dem er je gelebt hat, hier steht. Wo kommst du denn her?, lautet die freundliche Version einer oft gestellten Frage. Als könnte er gar nicht von hier stammen. Als habe er etwas missverstanden, nicht die anderen. Er hat den Versuch aufgegeben, es zu erklären. Indien, murmelt er dann als Antwort. Obwohl er insgesamt höchstens zwei Wochen dort gelebt hat und seine Eltern inzwischen hier ihr halbes Leben verbracht haben. Manchmal stellt diese Antwort die Fragenden zufrieden, manchmal wirken sie verwirrt und haken nach: Aber haben Menschen aus Indien nicht dunklere Haut? (179)

Später, nach mehreren Jahren, setzt sich Rafik, der mittlerweile Großvater zweier Enkel geworden ist, mit sich und seinem Sohn mental auseinander und erkennt seine Fehler, die er bereut. Gedanklich spricht er mit Amar:
Weißt du - darum geht´s doch-, kein Mensch ist nur gut. Jeder versucht, gut zu sein. Und jeder hat manchmal das Gefühl, dass er nicht gut ist, und sogar bei dem Versuch scheitert, gut zu sein. (352)

Warum Rafik nicht persönlich mit dem Sohn spricht, um mit ihm diese Dinge zu klären, möchte ich nicht verraten. Daher sind weitere Details dem Buch zu entnehmen.

Welche Szene hat mir gar nicht gefallen?
Der Grundschüler Amar wünscht sich von den Eltern dieselben roten Schuhe, wie sein Schulfreund sie hat. Die roten Schuhe stehen für ein kindliches amerikanisches Statussymbol. Amar möchte dazu gehören. Der Vater lehnt die Schuhe ab. Das Kind kann sich damit nicht abfinden, und schreibt seinem Daddy eine Petition. Dieser macht daraufhin mit dem Sohn einen Deal. Er bekommt die Schuhe, wenn er im nächsten Diktat null Fehler hat. Der Junge geht auf den Deal ein und paukt die Rechtschreibung. Seine Schwester hilft ihm, gibt ihm Tipps … Er kommt tatsächlich mit der Höchstnote nach Hause, und weil er den Test nicht ehrlich bestanden hat, wie sich dies erst später herausstellt, bekommt er die roten Schuhe nicht. Das fand ich ganz furchtbar für das Kind, denn wieder fühlt es sich als Versager, niemals schafft er es, die hohe Messlatte seines Vaters zu erreichen.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Rafiks Selbstreflexion vor allem seinem Sohn gegenüber auf den letzten Seiten. Und seine Weisheit hat mir gefallen. Eine Wiedergutmachung mithilfe seiner Enkelkinder, die er abgöttisch zu lieben gelernt hat.
Ich habe ihnen gegenüber keine andere Pflicht, als sie zu lieben, und werde deshalb auch von ihnen vorbehaltlos wieder geliebt. 382

Welche Figur war für mich ein Sympathieträger?
Alle drei Kinder. Und die Krankenschwester der Schule.

Welche Figur war mir antipathisch?
Keine. Jeder Erwachsene war irgendwie in seiner Welt gefangen.

Meine Identifikationsfigur
Amar.

Cover und Buchtitel
Finde ich farblich sehr ansprechend. Über den Buchtitel muss ich noch weiter nachdenken.

Zum Schreibkonzept
Das Buch ist auf 478 Seiten in vier Teilen gegliedert. Und in jedem Teil wird die Anzahl der Kapitel neu nummeriert. Der Schreibstil ist flüssig, aber nicht chronologisch aufgebaut. Es finden jede Menge retro- und prospektivische Zeitsprünge statt. Man kann sich die Details zwar gut behalten, aber am Ende habe ich gemerkt, dass ich nicht mehr wusste, welche Szenen wann zugeordnet waren.
Der dritte Teil hat sich stark gezogen. Vieles wiederholt sich, wo ich nah dran war, Seiten zu überspringen. Man hätte hier den Stoff ein wenig raffen können.
Doch am Ende, als Rafik sein und das Lebens seines Sohnes reflektiert, wird man erneut daran erinnert, wann gewisse Szenen aufgetaucht sind, und so war ich durch diesen Part wieder ausgesöhnt. Leider hat am Ende ein Glossar gefellt, in dem die fremden Begriffe hätten näher erläutert werden können. Dafür viele Seiten zur Danksagung. 

Meine Meinung / Ein kleiner Diskurs
Ich konnte mich gut in Amar hineinversetzen. Auch hier in Deutschland gibt es viele Kinder, die mit mehreren Sprachen und Kulturen aber nicht in dem Land ihrer Eltern aufwachsen oder aufgewachsen sind. Auch sie werden trotz der deutschen Staatsbürgerschaft immer wieder als die nationalen Stellvertreter ihrer Eltern betrachtet und auf deren kulturellen Herkunft reduziert, statt dass man sie wertschätzt mit ihrem Wissen, das sie mitbringen, das ein Kind aus einer Monokultur nicht besitzt. Mittlerweile wächst hier die vierte Migrantengeneration auf, und es hat sich in der Aufnahmegesellschaft vom Bewusstsein her nur sehr wenig verändert. Menschen mit dunkler Hautfarbe und/oder mit einem ausländischen Namen haben es besonders schwer, hier als vollwertige Deutsche anerkannt zu werden. Viele Deutsche sind der Meinung, dass Integration schwierig sei. Meine Frage: Was genau ist daran schwierig? Und wer sind die Schwierigen? Viele sind integriert und werden trotzdem in die Ausländerschublade gesteckt, mit allen Klischees und Vorurteilen beladen. Andere sind sogar assimiliert, und auch das reicht nicht, um zu den Deutschen zu gehören ... Soll tatsächlich das Blut die Zugehörigkeit eines Landes bestimmen, wo es weltweit nur vier Blutgruppen gibt?

Vielleicht wäre es hilfreich, die Fehler nicht immer im Anderen zu suchen und anzufangen, das eigene Weltbild zu hinterfragen, warum man denn Probleme hat, diese Kinder als vollwertige Deutsche anzuerkennen?

Ich bin dankbar für dieses Buch, das exakt die Missstände nicht nur bei dem vertrauten ewigen Fremden sucht, sondern in der Lage ist, diese auch bei der Aufnahmegesellschaft zu finden. Letztendlich sind die meisten Kinder, die hier aufwachsen, nicht integriert, sondern in diese Kultur hineingewachsen, wie dies auch bei deutschen Kindern der Fall ist. Man sagt ja auch nicht, dass deutsche Kinder in Deutschland integriert sind. 

Massive, psychische Probleme entstehen nämlich auch, wenn Menschen besonders in den Medien erfolgreich aus einer Gesellschaft ausgeschlossen werden, obwohl sie das Recht hätten, sich als zugehörige deutsche Menschen zu bezeichnen. Und viele Deutsche lassen sich stark von den Medien leiten und beeiflussen.

Und Kinder, die nicht dazugehören dürfen, flüchten häufig in die Herkunftsidentität der Eltern. Andere stehen drüber, und verteidigen ihre sog. deutsche Identität. 

Und diese Wurzeltheorie macht Hiergeborene, ganz gleich, aus welcher Generation sie kommen, zu ewigen Ausländern. 

Bei anderen, von draußen kommenden Menschen, die später nach Deutschland eingewandert sind, werden hier einem Integrationsprozess ausgesetzt, der leider noch zu sehr einseitig verläuft, der aber beidseitig, zwischen dem Deutschen und dem Migranten, sich abspielen sollte, denn Integration ist immer ein beidseitiger Prozess, wenn er gelingen soll. Aber das ist leider noch nicht in das Bewusstsein vieler Menschen, die deutsche Eltern haben, ganz gleich, aus welchem Bildungsniveau sie kommen, eingedrungen. Hierbei muss noch viel nachgearbeitet und nachgeholt werden. Die deutschen Medien machen über diese Menschen hauptsächlich negative Schlagzeilen, sprechen immer über Ausländer, die kriminell geworden sind, oder von denen, die nicht integriert sind und sie diese als die Integrationsversager bezeichnen. Von anderen, die sich hier zu Hause fühlen, sprechen sie nicht, weil sie nicht zu den Deutschen zählen dürfen.

Ein Prozess zum Verständnis der Integration wäre für mich, nicht über die Migranten zu sprechen, sondern mit ihnen. Nur so kann man erfahren, wie differenziert die Lebensweise dieser Menschen ist. Zu erleben, was sie innerlich fühlen und was sie denken, was sie können und was sie durch den Umgang mit mehreren Sprachen und Kulturen an Ressourcen mitbringen, wäre mal spannend als Außenstehende daran teilhaben zu können …

Mein Ideal wäre, nationale Identitäten abzuschaffen und die Identität als Mensch einzuführen. Das klingt utopisch, aber das geeinte Europa war ein Ideal, von dem der verehrte Friedrich Schiller einmal geträumt hat. Und heute leben wir in einem geeinten Europa, auch wenn wir alle im Prozess stecken, mit den vorhandenen politischen Problemen EU-weit fertig zu werden.

Der Mensch ist das, was er innerlich fühlt und denkt, und nicht das, was der Mensch zu fühlen und zu denken hat.

Mein Fazit
Eine sehr differenzierte, lesenswerte fiktive Familienbiografie, die Mut macht und die ich jedem Menschen ans Herz legen möchte, der bereit ist, sein eigenes Welt- und Menschenbild zu hinterfragen, und der aufhören möchte, integrative Fehler immer im Anderen zu suchen.

Zwölf von zwölf Punkten.
  
Weitere Information zu dem Buch

Hier geht es zur Leserunde von Whatchareadin.

Auch meine Freundin Monerl hat das Buch gelesen, das sie tief berührt hat. Wir hatten uns am letzten Montag im Cafė Extrablatt getroffen und uns rege über diese Lektüre ausgetauscht.

 Hier geht es zu ihrer Buchbesprechung, die auch interessant zu lesen ist. 

Vielen Dank an den dtv Verlag für das Bereitstellen des Leseexemplars.

Vielen Dank auch an die Moderator*Innen von Whatchareadin für ihr Engagement mit den Verlagen.

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Ich spreche zwei Sprachen.
In die eine flüchte ich,
wenn die andere unmenschlich wird.
(Autor unbekannt)

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