Samstag, 7. März 2020

John Okada / No - No Boy (1)

Foto: Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Der Autor schreibt aus eigener Betroffenheit, das heißt, er kennt sich aus mit seinem Stoff, in dem es um multiple Identitäten gibt, aber hauptsächlich um die der Japaner*innen und die der Amerikaner*innen in vielfältiger Art. Für mich immer  eine spannende und brisante Thematik, da ich mich auch schon ähnlich wie die Protagonist*innen dieses Buches in meiner Kindheit angefangen habe, damit zu beschäftigen, und ich niemals ausgehört habe, mir weiter Gedanken zu machen, auch aus meiner eigenen Betroffenheit heraus. Erst an der Universität konnte ich in meinen Fächern vieles an eigener Theorie verglichen mit den wissenschaftlichen Studien bestätigt bekommen. Ich habe die Bücher damals geradezu verschlungen. Ein Wissen, das mir bis heute erhalten geblieben ist, und das ich auch heute noch erweitere ... Viele Menschen bekommen ihre Identität in die Wiege gelegt, viele andere dagegen müssen sie sich erarbeiten, da ihr heterogenes Leben, aus dem sie kommen, viel zu differenziert und viel zu facettenreich ist, und sie sich dadurch nicht so schnell auf eine Identität festlegen können. Doch was wir Menschen alle gemeinsam haben, ist, dass die Identitätsentwicklung bei keinem Menschen wirklich abgeschlossen ist. Bis zu dem Tod kann sie wandelbar sein. Nur, wissen das nicht sehr viele Menschen, vor allem die, die glauben, ihre Identität sei durch die Geburt in Stein gemeißelt und hinterfragen sie sie nur in den seltensten Fällen. Der Autor dieses Buches hat diese Thematik wunderbar in Worte fassen können.

Wir sind alles Individuen. Den Körper erben wir von unseren Eltern, der bei allen Menschen unterschiedlich ist. Alle Menschen sehen anders aus. Das haben wir schon damals in der Schulzeit in der Biologie gelernt. Nicht einmal Zwillinge sind hundertprozentig identisch. Aber alle sind wir Menschen. Doch was den Menschen ausmacht, um als Mensch in einer Gesellschaft auch leben zu können, ist die Aneignung von Kulturgütern durch eigene Anstrengung. Diesen Lernprozess nehmen uns die Gene nicht ab ... 
Wie viel Farbe man daher in einem Menschenleben einbringen möchte, kann nur jeder selber für sich bestimmen und zulassen. 

Warum also darf ein Kind mit japanischen Eltern, das in einem anderen Land aufwächst als das der Eltern, nicht die Identität eines Landes aufnehmen, in dem es geprägt und sozialisiert wird? Man kann diesen Gedanken beliebig mit Kindern anderer Ethnien weiterspinnen. Auch bei uns in Deutschland kann man beobachten, dass Kinder, die sich für die Identität ihrer Eltern entschieden haben, weil sie sich hier nicht anerkannt fühlen, und so wirft man ihnen mangelnde Bereitschaft an Integration vor. Andere dagegen, die die Identität eines Deutschen entwickelt haben, werden trotzdem nicht als Deutsche anerkannt, da sie eine dunkle Hautfarbe haben, einen ausländischen Namen tragen oder aus einer anderen Religion kommen. Diese sind in der Gesellschaft hineingewachsen, haben ihren Weg gemacht, gehören als Deutsche trotzdem nicht dazu. Nun kann man hier nicht mehr die Schuld bei den angeblich bösen lernunwilligen Migrant*innen suchen. Was es mit einem Menschen macht, der von der Gesellschaft verstoßen wird, zeigt der Autor John Okada sehr gekonnt in seinem Roman.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Eigentlich ist die Handlung recht schnell erzählt. Die Hauptfigur namens Ishiro Yamada
ist 25 Jahre alt. Zusammen mit seinem jüngeren Bruder ist er Amerikaner, da sie beide hier geboren wurden. Seine Eltern sind vor 35 Jahren von Japan nach Amerika ausgewandert, um in Amerika Geld zu machen, um später, als reiche stolze Japaner*nnen wieder zurück in die Heimat zu kehren. Die vierköpfige Familie lebt in Seattle. Ishiros Mutter führt zu Hause einen kleinen Lebensmittelladen, mit dem sie gerade so über die Runden kommt. Die häusliche Umgebung ist sehr einfach und ärmlich. In Ishiros Familie schwelen Konflikte. Hier hat die Mutter die Hosen an, während der verweichlichte Vater sich ihr fügt, da er die Probleme nicht verträgt, und so spült er sie mit Alkohol hinunter. Ishiros jüngerer Bruder Taro ist 16 Jahre alt und besucht die Highschool.

Während in Europa der Zweite Weltkrieg tobte, befand sich Amerika mit Japan im Pazifikkrieg. Ishiro, der für Amerika in den Krieg einziehen sollte, verweigerte, da er unter einem Loyalitätskonflikt geriet, und er dadurch nicht gegen die Landsleute seiner Eltern kämpfen wollte. Wie so viele andere Japanese Americans wurde er dadurch in ein Internierungslager gesteckt und verbüßte zwei Jahre seines Lebens in Haft. Sein Bruder Taro will es anders machen als er. Er will nach der Schule unbedingt in den Krieg und für Amerika kämpfen. Ishiro entwickelt starke Identitätskonflikte. Fühlt sich zwar Amerika näher, aber da ist seine Mutter, die vehement an Japan festhält. Als Japan den Krieg gegen Amerika verliert, verleugnet die Mutter die Realität und redet sich ein, dass ihr Land den Krieg gewonnen habe. Identitätskonflikte hat Ishiro aber nicht nur wegen seiner japanischen Mutter, sondern auch durch die Amerikaner*innen, die ihm sein asiatisches Aussehen übel nehmen, und sie ihn niemals als einen Amerikaner akzeptieren können. Und so sind diese Menschen vor den Weißen, wie sich die Amerikaner*innen selber bezeichnen, massiven rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Ich fand die Szenen sehr traurig, als Amerikaner*innen mit japanischem Hintergrund gut genug waren, um in den Wehrdienst und anschließend in den Krieg entsendet zu werden, aber als Bürger erster Klasse mit Amerikaner*innen ohne Migrationshintergrund sind sie noch weit entfernt gewesen. Rassistische Probleme gab es aber auch nicht in jedem aber in manch anderem japanischen Elternhaus. Während Ishiro seinen Kriegsdienst verweigert hat, weil er auf der Seite der Amerikaner keinen Japaner töten wollte, ist ihn sein Freund Kenji angetreten, um als Amerikaner für Amerika zu dienen und kam nach dem Krieg wieder als Kriegsinvalide zurück. In den Augen von Ishiros Mutter galt Kenji als Verräter und als Versager. Sie erwidert, als Ishiro ihr von ihm spricht:
>>Ah<<, sagte sie mit schriller Abscheu, >>der, der ein Bein verloren hat. Wie kannst du mit so jemand befreundet sein? Der taugt nichts.<< (…)>>Warum?<<, krächzte er. Sein Unbehagen schien ihr merkwürdigerweise Freude zu machen. Sie reckte das Kinn hoch und sagte: >>Er ist kein Japaner. Er hat gegen uns gekämpft. Er hat Schande gegen seinen Vater gebracht und Leid über sich selbst. Es wäre besser, er wäre getötet worden.<<>>Was ist am Japanischsein so gut?<< Sie schien ihn nicht zu hören. Ganz ruhig fuhr sie in mütterlichem Ton fort: >>Sei ein guter Junge, ein guter Sohn. Um meinet- und auch deinetwillen – triff dich nicht mehr mit ihm. Es ist besser so.<< (2018, 123f)

Diese Szene hat mich sehr betroffen gestimmt. Welche Vorstellung Menschen von anderen Menschen nur haben. Das ist nicht typisch Japanisch. In allen Ländern findet man Leute, die in ihrem Land an solchen kruden Vorstellungen zu anderen Ethnien oder zu anderen Lebensformen festhalten.

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Ishiro hat seinen Freund Kenji verloren und die Art, wie er um seinen Freund getrauert hat, hat mir imponiert.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Das war für mich hauptsächlich Kenji, der es geschafft hat, für seine amerikanische Identität gerade zu stehen. Aber er hatte auch anders als Ishiro Eltern, die gelernt haben, Amerika als ihre neue Heimat zu begreifen. Obwohl Ishiro als Kriegsinvalide zurückgekehrt ist, trug er sein Schicksal gekonnt und meisterhaft, obwohl er durch seine Beinamputation eine tödliche Erkrankung mit sich trug.

Welche Figur war mir antipathisch?
Mir war keine Figur wirklich antipathisch. Ishiros Mutter war so gefangen in ihrer Welt, die total veraltet war, und sie Probleme hatte, die Realität anzuerkennen, hat mir eigentlich leidgetan. Vielleicht konnte sie nicht anders. Psychisch ist sie selbst an ihrem verlogenen Weltbild desillusionierend zerbrochen.

Meine Identifikationsfiguren
Ishiro und Kenji.

Cover und Buchtitel
Erst wusste ich das Cover und den Buchtitel überhaupt nicht einzuordnen. Aber mit dem Lesen des Romanstoffes erschloss sich mir der Sinn immer mehr. Die japanische Flagge und die amerikanische Kultfigur von Walt Disney sind zwei Kulturträger, die zu diesen Helden wie Ishiro, Kenji und viele andere ihrer Lage gehören. Der Buchtitel ist mir nach dem Lesen auch deutlich geworden. Ishiro war ein No - No Boy, da er den Kriegsdienst verweigert hatte, um nicht gegen das Land seiner Eltern zu kämpfen, und dadurch im Gefängnis gesessen hat. Er ist dadurch eigentlich ein Niemand. Weder ein Japaner, noch ein Amerikaner. 

Zum Schreibkonzept
Auf den 292 Seiten ist das Buch in elf Kapiteln gegliedert. Es beginnt mit einem Vorwort und endet mit einem Anhang, der ein paar Seiten zur Entstehung der japanisch-amerikanischen Literatur beschreibt. Auch historisch gibt es hier ein paar Fakten zu entnehmen, dass z. B. der amerikanische Präsident Reagen sich bei den zu Unrecht internierten Japanese Americans entschuldigt hatte. Leider kam diese Entschuldigung für viele zu spät. Ab 1990 wurde eine Wiedergutmachungsgebühr an jeden Überlebenden entrichtet.

Das Buch ist flüssig geschrieben. Den Schluss hätte ich gerne noch etwas in die Länge gezogen.

Meine Meinung
Das Buch hat mich nachdenklich gestimmt, da es mir zeigt, dass diese Probleme in jedem Land existieren. Überall auf der Welt gibt es Kinder, die mit mehreren Kulturen aufwachsen, und diese aber häufig auf die Herkunftskultur der Eltern herabgesetzt werden. Obwohl es eine Bereicherung ist, Expert*innen von Kulturgütern mehrerer Länder zu werden, dringt diese Bereicherung nicht wirklich in das Bewusstsein jener Menschen, die nur auf ihre und nur auf eine einzige Kultur beharren. Aber die Vielfalt bringt weltliche Vorzüge und man sollte diese stärker hervorheben, statt immer nur die Nachteile zu bestimmen, damit betroffene Kinder schon früh lernen, dass sie große Vorteile gegenüber ihren Kameraden haben, die aus einer Monokultur kommen. Wenn ihnen diese Wertschätzung nicht von der Gesellschaft entgegengebracht werden kann, müssen sie es selber lernen, sich diese zu geben. Aber im beruflichen Zweig sind Menschen, die z. B. mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind, in der Wirtschaft erwünscht, da sie mit vielen Ländern kooperieren und verhandeln können.

Mein Fazit
Mein Fazit möchte ich gerne an einem Zitat von Okada festhalten, weil es mir so gut gefallen hat und es auch Hoffnung macht, Bücher wie dieses zu lesen, in der Absicht, damit doch im geschriebenen Wort etwas bewegen zu können, um der Problematik entgegen wirken zu können, denn ... 
 ... Okada (hielt) selbst einmal fest, dass >einzig in der Literatur die Hoffnungen und Ängste, die Freuden und das Leid der Menschen angemessen Ausdruck finden.< (292)

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Im Mai letzten Jahres habe ich mich mit meinen beiden Lesepartnerinnen Tina und Sabine in Heidelberg getroffen und sind zufälligerweise an einem Buchladen der Büchergilde geraten, den wir auch betreten hatten. Mir fiel John Okadas Buch sofort auf. Ohne, dass ich von dem Inhalt etwas wusste, griff ich danach. Wahrscheinlich war es die Comicfigur, die mich inspirierte, da sie meine Kindheit mitgeprägt hatte.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Zwölf von zwölf Punkten.

_______________
Ich spreche zwei Sprachen.
In die eine flüchte ich,
wenn die andere unmenschlich wird.
(Autor unbekannt)

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Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)