Sonntag, 5. April 2020

Marcel Proust und die Trauer um seine verstorbene Mutter

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit den Seiten von 434 bis 458  

Dieses Mal greife ich auf die letzten zwanzig Seiten zurück, da ich letztes Mal meine Stichpunkte einfach unter den Tisch habe fallen lassen, sodass ich total vergaß, was ich mir notiert hatte. Das passiert mir immer, wenn mein Kopf zu voll ist mit noch anderen Gedanken. Deshalb hole ich dies hier nun nach.
Als die Mutter von Proust gestorben ist, haben Anne und ich uns gefragt, wie es nun mit ihm weitergehen wird? Schafft er ohne seine Mutter ein selbständiges Leben zu führen?
Er schreibt an

Anna de Noailles
Ende Sept. 1905
Sie nimmt mein Leben mit sich hinweg, so wie Papa das ihre mit sich hinweggenommen hat. (Heute habe ich sie noch bei mir, tot zwar, aber noch kann ich sie mit meiner Zärtlichkeit bedenken. Und dann werde ich sie nie wieder haben. (434)

Die Zeitung Figaro machte Jeanne Prousts Tod mit einem Nachruf öffentlich. In der Fußnote ist zu entnehmen:
Der Figaro vermeldet am Mittwoch, dem 27. September 1905 (…) den Tod von >Madame Adrien Proust geb. Weil, Witwe des Professors an der Medizinischen Fakultät (…). Sie verstarb in Paris, rue de Courcelles, im Alter von 56 Jahren. Die Trauergemeinde versammelt sich im Hause der Verstorbenen. Die Beisetzung findet statt auf dem Friedhof Père-Lachaise. Die Dahingegangene war die Mutter des bekannten Schriftstellers Marcel Proust und des Doktors Robert Proust.< (435)
Diese Traueranzeige hat mich tief berührt, allerdings habe ich mich an dem Begriff Die Dahingegangene ein wenig gestört ... Der Friedhof Pére-Lachaise ist mir bekannt. Ich bin häufig schon dort gewesen, da ich hier in der Vergangenheit einige andere Künstler aufgesucht hatte. Damals kannte ich die Proust – Familie überhaupt noch nicht, weshalb ich einen weiteren Abstecher in diese Gefilde unternehmen werde. Ich hatte dieses Jahr eine Reise eine Woche nach Ostern gebucht, die ich allerdings wegen der Corona -Epidemie wieder stornieren musste.

Marcel Proust hat den Tod der Mutter nicht wirklich verwinden können und lässt sich dadurch im Dezember desselben Jahres in ein Sanatorium einweisen, wo er auch Schreibverbot verordnet bekommt, an das er sich nur sehr schwer halten kann.
Er schreibt

An Marie Nordlinger
6. Dezember 1905

Monsieur Marcel Proust befindet sich zur Behandlung in ein Sanatorium, wo es ihm untersagt ist, zu schreiben, aber Mademoiselle Mary soll wissen, dass er jederzeit voller Hochachtung, Dankbarkeit und Zärtlichkeit an sie denkt.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Nach einigem Zögern hatte Proust sich Anfang Dezember (…) in das private Sanatorium des Doktor Sollier in Boulogne-sur-Seine (Bolognas Billancourt) (…) begeben. Er blieb dort bis zur letzten Januarwoche 1906. Trotz des Schreibverbots schickte Proust aus dem Sanatorium kurze Briefe an Robert de Billy und Louisa de Monard (…). Das vorliegende Schreiben an Marie Nordlinger ist nicht unterzeichnet, die Handschrift konnte nicht identifiziert werden. (435)

Ich denke, dass Proust den Brief an Marie Nordlinger von einer anderen Person hat ausfertigen lassen. Das Schreiben ist in der dritten Person geschrieben. Da er schon durch seine eigenen multiplen Erkrankungen vom gesellschaftlichen Leben eingeschränkt ist, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass ein Schreibverbot für ihn wie eine schwere Strafe aufgefasst wird. Die Briefe waren für ihn damals das Tor zur Welt, das nun hier geschlossen wurde. Aber ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass das viele Briefeschreiben die Gesundheit noch weiter beeinträchtigen kann. Das kenne ich aus eigener Erfahrung, als ich in meinen jungen Jahren selbst viel geschrieben hatte, wühlte mich das Schreiben immens auf. Ich selbst trage vom vielen Schreiben sogar eine Narbe am linken Mittelfinger mit mir herum.

In einem späteren Brief an seinem Cousin, im Juni 1906, erfährt man, dass Proust nach dem Sanatorium sechs Monate lang sein Bett nicht habe verlassen können. Eine sehr lange Zeit, die ihn regelrecht gebeutelt hatte.
Aber Sie wissen vielleicht, dass ich nach Mamas Tod ein Sanatorium aufsuchen musste. Danach bin ich hierher zurückgekommen, habe aber mein Bett oder mein Schlafzimmer in den letzten sechs Monaten nicht verlassen können. (452)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:

Anspielung an seinen vorigen Brief an Robert Dreyfus, wo Proust über das Wort >glücklich< schreibt:
Seit Mamas Tod hat dieses Wort keinen Sinn mehr für mich (…). (458)  

Weiter geht es nächstes Wochenende von 459 - 469.
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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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4 Kommentare:

Anne hat gesagt…

Sechs Monate im Bett, ich kann mir das gar nicht vorstellen. Ein gutes Foto hast Du gefunden, liebe Mira, passt sehr gut zur momentanen Lage um Proust.
Liebe Grüße, Anne-Marit

Mirella Pagnozzi hat gesagt…

Ja, Anne, sechs Monate im Bett zu liegen kann ich mir auch nicht vorstellen. Für Marcel muss dies noch schmerzvoller erlebt worden sein, da er ein Gesellschaftsmensch war. Und was dieses Bild betrifft, konnte ich mich gestern Abend noch nicht entscheiden. Und heute Morgen nach dem Aufstehen wusste ich sofort, welches Motiv ich wählen wollte. Wahrscheinlich hat es in der Nacht in mir noch gearbeitet.
Dieses Mal habe ich in unsere Besprechung noch ein paar Erfahrungen von mir / uns eingebracht, auch auf die Gefahr hin, von den Literaturwissenschaftler*innen dafür geketzert zu werden. Aber wir schreiben ja nicht für die Profis. Sollen die Profis für die Profis schreiben.
LG, Mira

Mirella Pagnozzi hat gesagt…

Liebe Anne,
Ich habe von manchen ein Feedback bekommen, dass sie es lebendiger finden, wenn in den Buchbesprechungen durchaus auch eigene Erfahrungen mit eingebaut werden würden. Das hat mich sehr gefreut, das heißt, wir machen alles richtig, weil, wie alles andere auch,sowieso alles reine Geschmacksache ist.
GlG, Mira

Anne hat gesagt…

Absolut, liebe Mira, nur nicht in ein Schema pressen lassen.