Dienstag, 23. Oktober 2018

Min Jin Lee / Ein einfaches Leben (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre   

Was für ein tolles Buch. In einer einfachen literarischen Sprache hat die Autorin trotzdem Tiefgang in ihren Roman hineingebracht. Wenn nicht die Buchmesse dazwischengekommen wäre, dann wäre ich schon längst durch mit dem Buch, weil es mich gefesselt hat, weil die Neugier nicht abgenommen hat, weil es spannend war bis zur letzten Seite.

Hier geht es zum Klappentext, Autorenporträt und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Eine Familiensaga, die zwischen 1883 und 1989 aus vier Generationen besteht. Die Handlung spielt sich in Japan und Korea ab.

Der kleine koreanische Hoonie kommt mit zwei schweren Behinderungen auf die Welt. 1883 wurde er mit einem Klumpfuß und einer Gaumenspalte geboren. Trotzdem wurde er von seinen Eltern geliebt, auch wenn die Gesellschaft weltweit Kinder dieser Art verstößt. Hoonie war der Älteste von drei Brüdern, das schwächste Kind, und hat als Einziger von seinen Geschwistern überlebt. Er stammt aus einer Fischer- und Bauernfamilie. Von der Dorfgemeinschaft wurde er als der Dorfkrüppel bezeichnet. 1910 wurde Korea von Japan annektiert. Die Koreaner verloren ihr Land an Japan. Es begann in Japan die Kaiserzeit und die Koreaner*innen hatten sich ihm anzupassen ... Für die Koreaner*innen entpuppte sich der Kaiser als ein Diktator.

Hoonies Vater schickte seinen Sohn zu einem Privatlehrer, damit er die Sprachen Japanisch und Koreanisch, Lesen und Schreiben und den Umgang mit Zahlen erwerben konnte. Hoonie wuchs zu einem klugen und weisen Mann heran.

1911 wurde Yangjin durch eine Ehevermittlerin mit Hoonie verheiratet ... Auch sie hatte mehrere Fehlgeburten, bis schließlich Sunja geboren wird. Auch Sunja war ein geliebtes Kind ihrer Eltern, doch leider verlor sie mit 13 Jahren ihren Vater an Tuberkulose.

Sunjas Mutter betrieb ein Logierhaus. Sie vermietete in ihrer Wohnung abgetrennte Schlafplätze hauptsächlich an Fischersleute und versorgte sie. Yangjin und Sunja arbeiten hart, um ihren Unterhalt zu bestreiten.

Im Alter von 16 Jahren lernt Sunja einen Mann namens Koh Hansu kennen, der doppelt so alt ist wie sie. Von Beruf ist er Fischgroßhändler und dadurch ein wohlhabender Mann.
Als Sunja von japanischen Schuljungen rassistisch angemacht und diskriminiert wird, und sie sexuelle Übergriffe hat über sich ergehen lassen müssen, war es Hansu, der sie vor dem Schlimmsten bewahrt hatte, in dem er die Jungen unter Gewaltandrohung von dem Mädchen riss ... Es war 1920 als Sunja Hansu kennengelernt hat und von ihm schwanger wird. Erst durch die Schwangerschaft erfährt sie, dass Hansu schon verheiratet ist und drei große Töchter hat. Obwohl er Sunja für sie und für das Baby materielle Sicherheit versprochen hat, will Sunja nichts mehr von Hansu wissen und bricht den Kontakt zu ihm radikal ab. Wie geht nun Sunja damit um, schwanger zu sein und welche Perspektiven kann sie sich und dem unehelichen Kind bieten? Selbst die Kirche stellt die minderjährige Sunja mit ihrer Schwangerschaft als große Sünderin dar, ohne den Mann zur Rechenschaft zu ziehen …

Sunja wird mit Isak verheiratet. Isak ist protestantischer Priester und an Tuberkulose erkrankt, die in Schüben immer wieder ausbricht … Beide ziehen sie von Südkorea nach Osaka zu Isaks älteren Bruder Yosep und seiner Frau Kynghee. Osaka ist eine große japanische Hafenstadt auf der Insel Honshu. Yosep und Kynghee fragen nicht, von wem Sunja schwanger ist. Sie freuen sich auf das Baby, weil sie selbst keine Kinder haben können. Isak hat geschworen, dass er das Kind wie sein eigenes Kind lieben werde. 

Koreaner, die im Heimatland von den Japanern gettoisiert und zu Fremden im eigenen Land gemacht werden und Koreaner, die in Japan leben, haben sozial, gesellschaftlich und rechtlich so gut wie keine Rechte. Sie müssen sich heftigste rassistische Umgangsformen gefallen lassen. Sie können sich nicht wehren, und müssen sich den japanischen gesellschaftlichen Normen und Konventionen unterweisen. Sie müssen unauffällig leben und jede kleinste politische Aktion kann eine gesamte Familie existenziell gefährden. Koreaner kommen ins Gefängnis, ohne wirklich etwas getan zu haben und werden erst entlassen, wenn sie kurz vor dem Sterben stehen, das bedeutet nach einer langen Pein der Folter.

Selbst nach vier Generationen kommen Koreaner, die in Japan leben, nicht von ihrem Ausländerstatus los. Mit 14 Jahren müssen sich die Jugendlichen bei der Ausländerbehörde melden und sich mit einem Fingerabdruck als Ausländer registrieren lassen. Sie bekommen eine befristete Aufenthaltsgenehmigung. Alle drei Jahre müssen die Jugendlichen und auch die Erwachsenen den Aufenthaltstitel verlängern lassen. Kleinste Vergehen gefährden den Aufenthaltsstatus. Ich stelle mir einen Jugendlichen vor, für den es selbstverständlich ist, in Japan zu leben, was es mit seiner Identität macht, wenn er ab dem 14. Lebensjahr polizeilich geführt wird... Sunja bekommt zwei Söhne. Noa ist der Erstgeborene und sechs Jahre später kommt sein Halbbruder Mozasu auf die Welt. Noch weiß Noa nicht, dass Mozasu nur sein Halbbruder ist. Er weiß nicht, dass Hansu sein leiblicher Vater ist ... Hansu tritt wieder in Sunjas Leben und in das Leben seines/ihres Sohnes ein ...

Doch nicht nur als „Koreaner“ bekommen es die Menschen mit dem Sozialrassismus politisch und gesellschaftlich schwer gemacht. Wenn man zu dem Koreanischen auch noch eine Frau ist, so müssen sich die Frauen zusätzlich dem Gechlechterrassismus unterwerfen. Und was die äußeren Merkmale betreffen: Immer finden die Japaner ein Kriterium, einfacher gesagt, eine Schublade, in das/der die Menschen, die sie nicht als ihre Landsleute akzeptieren wollen, zu Koreanern macht, zu einer minderbelichteten Art von Menschen.

Besonders Noa macht es zu schaffen, dass er trotz guter Schulbildung keine Chance hat, Japaner zu werden ...

Die erste schwere Krise erleidet er mit seiner Freundin, die er an der Universität kennengelernt hat. Er bricht den Kontakt zu ihr ab, da sie ihn immerzu erinnert, dass er Koreaner ist. Obwohl sie sich als nichtrassistisch ausgibt, konfrontiert sie Noa permanent mit Klischees, Stereotypen und mit Vorurteilen …
Noa starrte sie an. Sie würde immer einen anderen in ihm sehen, nicht den, den er war, sondern eine fantasievolle Version eines Fremden; und sie würde sich immer für etwas Besonderes halten, weil sie sich mit jemandem einließ, der von den anderen verachtet wurde. Wenn Noa mit ihr zusammen war, dachte er nicht daran, dass er Koreaner war. Er wollte einfach er selbst sein, was immer das bedeuten mochte; Manchmal wollte er sich einfach vergessen. Aber das war mit ihr nicht möglich. (356)

Als er durch seine Freundin heraus bekommt, dass Hansu sein wirklicher Vater ist, verliert er ganz die Nerven und reißt von zu Hause aus, um sich woanders eine sichere Existenz aufzubauen, in dem er vorgibt, Japaner zu sein. Er bricht sein Studium ab und alle Familienbanden, denn er gerät immer mehr in eine schwere Identitätskrise, die nicht aufzufangen ist … Eine heftige Auseinandersetzung findet zwischen Noa und seiner Mutter statt, als er erfahren hat, wer sein wirklicher Vater ist:
Ein Leben lang haben mir Japaner gesagt, dass mein Blut koreanisch ist und dass Koreaner zornige, gewalttätige, gerissene und betrügerische Kriminelle sind. Mein ganzes Leben lang musste ich das ertragen. (359f)

Auf den Buchseiten setzen sich diese Zitate fort, die ich nicht alle rausschreiben wollte. Auch wenn man Noa verstehen kann, tut mir auch die Mutter leid, die nun von ihrem eigenen Sohn verstoßen wird ...

Die meisten Menschen, die diesen koreanischen Stempel nicht losbekommen, arbeiten hart und leben nach den vorgegeben gesellschaftlichen Regeln und Mustern in der japanischen Gesellschaft. Selbst wenn sie erfolgreich sind, haben sie keine Chance, akzeptiert zu werden. Junge Menschen können keinen Beruf ausüben, der von den Japanern ausgeführt wird. Sie dürfen nur die Arbeit verrichten, für die sich ein Japaner zu schade ist ...

Mehr möchte ich nicht verraten. Aber wenn jemand Weiteres über das Buch erfahren möchte, so hat man die Möglichkeit, sich in der Leserunde von Whatchareadin einzuklicken, um die Diskussion zu verfolgen.

Das Schreibkonzept
Das Buch besteht aus drei Teilen und ist in verschiedenen Kapiteln gegliedert. Manchmal sind die Sprünge zwischen den Jahren recht groß, trotzdem kann man gut folgen. Der erste Teil Gohjang Zuhause von 1910 bis 1933. Zweiter Teil Mutterland, von 1939 bis 1962. Der dritte Teil, Pachinko von 1962 bis 1989. Man bekommt es hier mit einem flüssigen Schreibstil zu tun.

Cover und Buchtitel?
Der Buchtitel hat mir stark zu denken gegeben. Ein einfaches Leben? Ist  das ironisch gemeint oder ist dies auf die bildungsferne koreanische Gesellschaft gemünzt? Das Leben, das diese diskriminierte Menschen aufgesetzt bekommen, ist alles andere als einfach. Aber das wollte vielleicht der Buchtitel aufzeigen, diese Diskrepanzen von einfachem und schwerem Leben gefangen in einer rassistischen Gesellschaft zu sein, ganz gleich, ob diese Leute in Japan oder in Korea leben. Sie wurden in beiden Ländern zu Fremden gemacht.

Meine Identifikationsfigur
Auch wenn Noa der Verlierer ist, ist er meine Identifikationsfigur gewesen.

Meine Meinung
Diese rassistischen Vorurteile kenne ich als Kind italienischer Eltern nur zu gut. Auch bei uns in Europa sind sie reichlich vertreten, wenn auch ohne diesen politischen Druck. Denn hier darf man eingebürgert werden. Wenn von fünf Italienern einer unanständig ist, dann werden die vier anständigen übersehen, und der unanständige Italiener wird als Maßstab stellvertretend für alle Italiener benutzt. Selbst nach drei Generationen in Deutschland lebend sind sie noch immer nicht als Deutsche anerkannt. 
Der Umgang mit Menschen anderer Nationalitäten verhält es sich ähnlich. Und die äußerlichen Zuschreibungen? Ähnlich wie bei den Koreanern. In deutscher Literatur gibt es keinen blonden Italiener. Und keinen mit einer hellen Haut, obwohl die meisten Italiener, die in Italien leben, sonnengebräunt sind und nicht dunkel oder olivfarben auf die Welt kommen. Hat ein Italiener blonde Haare oder eine helle Haut, dann sind es die dunklen Augen, die ihn zum Südländer machen oder umgekehrt. Stigmatisiert ist man mit einem ausländischen Namen, andere mit einer dunklen Hautfarbe.

In einem Lexikon für Traumsymbole steht, wenn jemand träumt, mit einem Italiener zu sprechen, dann solle man sich vor Dieben hüten. Und wer träumt, italienisch zu sprechen, der habe Sehnsucht nach einem schwarzhaarigen Menschen.

Im selben Lexikon unter dem Begriff
Deutsch steht:
Fühlen und handeln: Ehrgefühl besitzen.
(Beides nachzuschlagen im Lexikon der Traumsymbole von Hanns Kurth, damals war es der Goldmann Verlag, derzeit im Heyne Verlag erschienen)

Mein Fazit?
Nach meiner Sicht sind in diesem Buch alle Menschen in einem politischen und sozialen  System gefangen. Die, die glauben, etwas Besseres zu sein, müssen andere klein machen, um ihr Ego aufzuwerten. Ein Mensch, der glücklich und zufrieden ist, ist es auch im Umgang mit anderen Menschen. Er behandelt seinen Mitmenschen gleich. Dieser Mensch hat es nicht nötig, andere abzuwerten. Aber wenn ein politisches System Menschen in gute und in schlechte Menschen einteilt, und die Ressourcen verteilt werden in die Guten bekommen viel, die Bösen bekommen wenig oder auch gar nichts, kann eine Gesellschaft sich nicht gesund weiter entwickeln. Dann sind natürlich Menschen, die vom politischen System auf die gute Seite gestellt werden, froh, zu der besseren Hãlfte zu gehören. Eine große Herausforderung für alle Gruppen von Menschen im hiesigen Buch.

Deshalb sind sie für mich hier alle Opfer und Täter zugleich. Mir fällt dazu die Autorin Nino Haratischwilli ein, die auf der Buchmesse im Interview geäußert hat, dass ein Kriegsverbrecher niemals mit sich selbst Frieden schließen könne. Sie sprach über ihr neues Buch Die Katze und der General. Und so sehe ich es auch mit Menschen, die andere Menschen unterdrücken. Tief in sich drin können die Unterdrücker nicht wirklich glücklich sein ... Vielleicht passt hier der Vergleich zu Japan mit ihrer sogenannten Schamkultur, die hoffentlich nicht nur auf die Umweltkatastrophe Hiroshima gemünzt ist.

Ich wünsche mir ganz feste, dass dieses Buch von Min Jin Lee durch die ganze Welt reist. Rassismus gibt es überall, das soll aber keine Entschuldigung sein. Jeder kann an sich arbeiten, Vorurteile in sich erst bewusst zu machen, um sie später, im nächsten Schritt, bestmöglich abbauen zu können, denn so kann eine Gesellschaft profitieren, die gesund und stabil miteinander wachsen möchte.

Da fällt mir der Spruch wieder aus der Buchmesse ein:
Böse ist das Böse nur, wenn man nichts dagegen tut.

Es ist nicht böse, Vorurteile zu haben, es ist nur böse, wenn man sie weiterverbreitet, weil man sich damit nicht auseinandersetzen möchte, und Menschen damit schadet, weil man sie damit verletzt.

Aber mir würde es schon genügen, wenn das Buch seine Leser*innen in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen stärker sensibilisiert. Die Autorin hat eine ruhige Art, über diese unruhige Thematik zu schreiben.

Deshalb erhält das Buch von mir 12 von 12 Punkten.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Literaturwissenschaftliches, gut recherchiertes Buch
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Hier geht es zur Leserunde von Whatchareadin.

Vielen herzlichen Dank an den dtv Verlag für das Leseexemplar.
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