Dienstag, 18. August 2015

Ulrike Kolb / Yoram (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Der Inhalt des Buches hat mich sehr ergriffen. Wie haben KZ-Überlebende des Nationalsozialismus ihr Leben danach neu gestaltet? Ist eine deutsch-jüdische partnerschaftliche Beziehung möglich?  Wie sind die Deutschen der NS-Vergangenheit mit sich und den Juden umgegangen? Inwiefern wurden diese grauenhaften Erfahrungen psychogenetisch auf die folgenden Generationen, deutsche und jüdische, übertragen?

Ulrike Kolb ist an dieses Thema herangegangen, als habe sie es selbst erlebt. Sehr authentisch, aber weitestgehend objektiv geschrieben, ohne dass sie Partei für oder gegen die Deutschen, Juden ergriffen zu haben.

Sie ist Jahrgang 1942. Ein Kleinkind, das den Nationalsozialismus erfahren haben müsste.
Im Zentrum dieses Romans steht die deutsch-jüdische Familie von Clara und Yoram.

Clara ist die Icherzählerin, die immer wieder retrospektivisch und reflektierend Gedanken ihrer Beziehung mit Yoram nachgeht.


Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Ulrike Kolb erzählt die Geschichte einer jüdisch-deutschen Liebe, die sich immer wieder gegen die Nachwirkungen der Vergangenheit behauptet und am Ende doch an den ganz normalen Konflikten zu zerbrechen droht. Zärtlich und melancholisch blickt Carla auf ihre Ehe zurück, die als Amour fou in Israel beginnt. So stark und impulsiv die Gefühle Carla und Yoram verbinden, so schmerzhaft schlagen ihnen bald Skepsis und Zweifel entgegen. Kritisch beäugen seine israelischen Freunde die junge Deutsche, und auch Yorams Mutter Aliza ist wenig begeistert von der Wahl ihres Sohnes. In Deutschland geht es dem jungen Paar kaum anders: Die viel und stolz zitierte »Aufarbeitung der Vergangenheit« scheint an der polierten Oberfläche der Realität abgeperlt zu sein. Aber die Gefährdungen des Glücks kommen nicht nur von außen. Yoram, dem leidenschaftlichen Architekten, gelingt es nicht immer, seine Gefühle von den Albträumen der Kindheit zu lösen. Und auch die drei Frauen in seinem Leben, Aliza, Carla und die Tochter Vered, haben ihre eigenen Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen. Am Ende schlägt Vered entschieden den Bogen in die Zukunft. 
Claras Vater war praktizierender Arzt im Nazideutschland, und sie sich nun auf Spurensuche begibt, inwieweit der Vater mit den Nazis im selben Boot gesteckt haben könnte. Gehörte auch er zu den Ärzten, die über Leben und Tod eines Juden entschieden hatten?
Yoram hat Verwandte durch den Nationalsozialismus verloren.
Yorams und Claras Tochter Vered setzt sich mit der Vergangenheit ihrer Eltern auseinander und entscheidet sich für die jüdische Konfession, dermaßen angewidert ist Vered von den Verbrechen vieler Deutschen im Nazideutschland.

Vered reist als junge Erwachsene sehr oft nach Israel, ohne ihre Eltern in ihre Absichten, Jüdin zu werden, einzuweihen. Sie macht das ganz allein mit sich aus. Sie lernt die hebräische Sprache, lernt die jüdischen Religionsgesetze und lässt sich jüdisch taufen.

Es wird recht deutlich, dass vor allem die Beziehung zwischen Clara und Yoram stark von der politischen Vergangenheit geprägt ist. Vered wünschte sich, die Eltern würden sich scheiden lassen. Doch die Liebe ihrer Eltern zueinander ist zu groß, auch wenn sie nie eine normale Beziehung leben können.
Es lässt sich nicht einfach einen Schlussstrich unter dieser Vergangenheit ziehen. Diese Last ist bis in die dritte Generation zu spüren und ich bin sicher, sollte Vered als konvertierte Jüdin Kinder bekommen, so bleiben auch diese davor nicht verschont.

Clara stellt sich immerzu die Frage, wie so ein Verbrechen nur hatte stattfinden können, ohne dass die Deutschen rebellierten?
Große Worte lagen einem damals auf der Zunge, wie > nie wieder von einer Generation zur Autorität hörig gemacht werden wie die Nazigeneration, nie wieder wollen Massenmörder vor Gericht behaupten können, sie hätten nur gemordet, weil man es ihnen befohlen habe. 
Nein, nur an der autoritären Erziehung würde ich das nicht festmachen ... Von Margaret und Alexander Mitscherlich empfehle ich das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern". Es bezieht sich auf erlittene Kriege und damit verbunden die vielen Verluste von Familienmitgliedern, die nie betrauert wurden, weil diese Verlusterlebnisse emotional als zu schmerzvoll  erlebt werden ... In Hitler haben viele eine Vaterfigur gesucht ...

Eine weitere große Gruppe von Menschen zähle ich schon dazu, die zu Kategoriserungen neigen und Menschen in gute und böse einteilen. Man selbst zählt sich ja immer zu den guten Menschen. Und so bin ich überzeugt, dass sich eine Geschichte wie die obige jeder Zeit wiederholen lässt. 

Es gibt Deutsche, die gar nichts begriffen hätten. Sie würden nach Israel reisen, um zu prüfen, ob sich der Holocaust gelohnt habe, und ob die Juden nun endlich so seien, wie die Deutschen sie haben wollten. 

Es existieren deutsche Sprichwörter, die man vor einem jüdischen Menschen besser nicht sagen sollte, wie z. B. etwas bis zur Vergasung tun.

Auch Carla begibt sich nach Israel, um Forschungen anzugehen. Manche Juden reagieren darauf ein wenig reserviert: 
Wenn du deinen Test beendet hast, sag uns Bescheid, was Du über den homo judaicus israelicus herausgefunden hast.
Diese Sensibilität von manchen Juden kann ich sehr gut nachvollziehen.

Viele Überlebende tragen am Handgelenk die eintätowierte KZ-Nummer mit sich. Bis zum Lebensende. Ich versuche, mir diese Menschen vorzustellen …. Das KZ wird immer präsent bleiben. Viele versuchen diese Nummer mit Kleidungsstücken zu verbergen. Es fehlen mir die Worte, auszudrücken, was so ein Mensch dabei empfinden kann.

Vered beobachtet zusammen mit ihrer Freundin nach einer KZ-Lektüre andere Menschen, blicken in deren Gesichter, und versuchen zu erahnen, wer ein Nazi gewesen sein könnte. Folgende Szene fand ich dazu recht interessant:
Vereds Freundin Rhina habe das Heft mit den (Mäusen)Comics, (geschrieben von Art Spiegelman) mitgebracht, auch sie hätte damals zum ersten Mal vom Holocaust gehört. Danach seien sie durch die Frankfurter Straßen gegangen und hätten sich die alten Leute angesehen und entschieden, wer Nazi gewesen sei und wer nicht. Bei manchen seien sie sich ganz sicher gewesen, für die hätten sie blutige Rachepläne ausgedacht. Einen alten Nachbarn aus dem Haus nebenan, einer mit einem unangenehmen, harten Gesicht, hätten sie und ihre Freundinnen immer geärgert, weil sie fest davon überzeugt gewesen seien, er wäre einer von den ganz Schlimmen damals gewesen. Abends vor dem Einschlafen habe (Vered) sich ausgedacht, wie sie ihn an einen Baumstamm im Grüneburgweg fesseln und ihm langsam den Leib von oben bis unten aufschlitzen würde. Später habe sie erfahren, dass er Jude war und selber ein Überlebender.
Der Comic von Art Spiegelman, Maus Die Geschichte eines Überlebenden, habe ich auch gelesen, vor über dreißig Jahren, und überlege, es noch einmal zu lesen. In dem Buch fand ich Antworten auf viele Fragen.

Nach dem Nationalsozialismus wollte Aliza, Yorams Mutter, nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Und doch zog es sie wieder dorthin zurück, da Deutschland über reiche kulturelle Schätze verfügte, von denen sich Aliza angezogen fühlt. Aliza ist eine recht belesene Frau. Auch Günter Grass zählt zu ihren Favoriten, bis sie die traurige Meldung erreicht, dass Grass in der Waffen-SS tätig gewesen sein soll.

Schwiegertochter Carla berichtet:
 Aliza rief mich an und hatte soeben in den Nachrichten gehört, dass Grass in der Waffen-SS gewesen war: Ausgerechnet mein Grass, von dem ich jedes Buch kenne …, und ich hörte, wie sie nach Luft rang.
Die letzte Hoffnung setzte Aliza in Kultur und Bildung, dann diese Nachricht mit Grass. An was sollte der Mensch noch glauben? An wen sich noch klammern können, wenn man schon den Glauben an Gott verloren hatte?


Mein Fazit

Das Buch ist sehr geistreich und mit viel Tiefe geschrieben. Vieles, was ich zu sagen beabsichtigte, konnte ich nicht sagen. Das Buch stimmte mich sehr nachdenklich, traurig und machte mich gleichzeitig auch fassungslos.

Auch, dass die Beziehung zwischen Carla, Yoram und Vered so sehr an der Nazivergangenheit litt, bedrückte mich. Wie schon gesagt, man kann nicht einfach einen Schlussstrich unter diese Geschichte ziehen, und so tun, als gäbe es jene Vergangenheit nicht. Es ist für alle Parteien eine sehr belastende Situation und es benötigt noch viele Generationen, bis diese Last nicht mehr zu spüren ist. Aber vergessen wird diese Geschichte niemals sein. Vor allem für die Juden nicht, während viele Deutsche sich Mühe geben, nicht mehr daran denken zu müssen.

Die Nazis wollten in die Geschichte eingehen und das haben sie erreicht, wenn auch in horrabler Hinsicht.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.
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Man kann seine Schuld nicht mildern, wenn man sie eingesteht, sondern nur, wenn man anfängt, sich zu bessern.

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