Dienstag, 4. August 2015

Ann Kirschner / Salas Geheimnis (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch stimmte mich betroffen. Nicht, dass mir der Stoff neu ist, wem sind schon der Nationalsozialismus und der Faschismus fremd? Steckt uns doch allen in Fleisch und Blut, vor allem denen, die sich frühzeitig mit dieser Thematik beschäftigt haben, viele schon seit der Jugendzeit. Wenn man schon alleine die Daten erster September 1939 und achter Mai 1945 hört, macht der Kopf gleich „Klick“. Das sind Daten, die man so schnell nicht wieder vergisst, da man bei solchen Büchern, mitten im Kontext,  immer mitbangt und genau mitrechnet, wann der Krieg und das Grauen beendet sein wird. Oder in der Vorkriegszeit, auch da rechnet der Kopf automatisch, wie viel Zeit bis zur   Kriegsentstehung bleibt? Hitler hatte viele Jahre vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schon sehr viel antisemitische Vorarbeit geleistet.

Und trotzdem gibt es immer wieder Bücher in meiner Sammlung, die sich mit dieser Thematik beschäftigen ...
Gestern musste ich mir nochmals Holocaust, erster Teil, anschauen, weil ich mich so fassungslos gefühlt habe …



Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Zuerst dachte sie, dass es nur ein paar Wochen dauern würde. Doch aus sechs Wochen wurden fünf Jahre Zwangsarbeit. Sala war 1940 sechzehn Jahre alt, als sie ihre polnische Heimatstadt verlassen musste, um die von den Nationalsozialisten befohlene Zwangsarbeit abzuleisten. Fünf Jahre lang überlebte die junge Jüdin unter schwersten Bedingungen sieben verschiedene Lager, um dann für lange Zeit darüber zu schweigen. Erst am Vorabend einer schweren Herzoperation vertraute sie sich ihrer Tochter Ann Kirschner an. Anhand der Briefe, die Sala sich in dieser Zeit mit ihrer Familie und Freunden schrieb, erzählt Ann Kirschner die Geschichte der grausamen Odyssee ihrer Mutter durch das besetzte Europa, von Salas Leben in den Lagern, den kleinen Fluchten, von Freundschaft und ihrem unbedingten Willen zu überleben. Eine bewegende und grausame Zeit, über die Sala lange schweigt, auch als sie in den USA ein neues Leben findet. 
Salas Tochter, Ann Kirschner, bekommt einen ganzen Stapel persönlicher Briefe von ihrer Mutter Sala ausgehändigt. Hauptsächlich Briefe von 1940 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Aber auch nach der Kriegszeit wurde vereinzelt die Korrespondenz mit den noch lebenden Geschwistern fortgesetzt, die sich in Schweden aufhielten.

Sala war das jüngste Kind von zehn Geschwistern. Insgesamt waren sie elf.

Den Nationalsozialismus haben nur sie und zwei Schwestern überlebt. Alle anderen Familienmitglieder fielen den Nazis zum Opfer.

Sala ging freiwillig in das Arbeitslager, um ihre Schwester zu schonen, die eigentlich dafür vorgesehen war. Sala war gerade mal sechzehn Jahre alt.

Aus den Briefen habe ich kein Zitat herausgeschrieben. Man muss sie einfach selbst lesen, aber die Briefe nach dem Zweiten Weltkrieg haben mich nochmals besonders beschäftigt. Das Leben nach der Befreiung aus dem KZ.

Die Befreiung der Juden brachte auch eine große Orientierungslosigkeit mit sich. Viele wussten nicht, wohin sie sollten. Sala befand sich auf dem Weg in ihre Heimatstadt, soweit man diese noch als Heimatstadt bezeichnen konnte:
Sala (und ihre Freundin Eva) stiegen in eine überfüllte Straßenbahn. Einen Augenblick lang freuten sie sich an den vertrauten polnischen Lauten. Dann hörten sie die ärgerliche Stimme des Schaffners, der den Fahrschein verlangte. Erschrocken sah Sala zuerst zu Eva, dann wieder zum Schaffner und erklärte ihm schließlich, dass sie gerade erst aus einem Nazilager befreit worden seien und kein Geld hätten. Der Schaffner schrie sie wütend an. Er nannte sie >>schmutzige Juden<< und gab ihnen zu verstehen, dass sie weder in seiner Straßenbahn noch in seinem Land willkommen seien.Niemand verteidigte sie. Den Rest des Weges gingen die beiden Frauen zu Fuß. 
Man sagt immer, die Nazis hätten die ganzen Verbrechen verübt, doch viele aus der heimischen Bevölkerung erwiesen sich auch als Anhänger des Nationalsozialismus. Aus meiner Sicht sind sie nicht weniger schuldig …

Das Entsetzen, das Sala erlebt, als sie wieder zu Hause ist, lässt sie ohnmächtig werden:
Im Hof kam sie wieder zu sich. Sie wollte so schnell wie möglich weg von hier. Sie hat nicht den Krieg überlebt, um jetzt Opfer ihrer antisemitischen Nachbarn zu werden. Keine einzige Nacht wollte sie in (ihrer Heimatstadt Sosnowiec) verbringen. So verließ sie die Kollataja Straße, ohne ihre eigene Wohnung gesehen zu haben. (…) Ob die Nähmaschine ihrer Schwester, der Messingleuchter ihrer Mutter, die Bücher ihres Vaters noch immer dort waren, ob ihr Tagebuch sich noch immer in der Schublade befand, wo sie es damals eingeschlossen hatte, würde sie nie erfahren. (…) Aber wohin sollte sie jetzt gehen? Sie war einundzwanzig und fühlte sich wie losgelöst. Ohne Familie, ohne vertraute Kultur war sie ohne Orientierung, ohne Anknüpfungspunkt in dieser Welt. Verständnislos starrte sie die Landkarte an, auf der ihr kein Name etwas sagte.
Sich vorzustellen, dass man gar kein Zuhause mehr hat, ist schwer. Sich vorzustellen, dass einem das Zuhause gestohlen wurde, noch schwerer. Und trotzdem ging es irgendwie weiter. Auch ohne Heimat und mit einem Kopf und einer Seele voller erlebter Traumata. Unauslöschbar. Ein Wunder, dass Menschen diese Zeiten überleben konnten. Eine Wohlfahrt kümmerte sich um die Überlebenden:
Die Befreiung lag erst drei Monate zurück. Die oberflächlichen Wunden des Lagerlebens vernarbten rasch unter dem beruhigenden Balsam von gutem Essen und einem Leben in Sicherheit. Die Überlebenden waren täglich zusammen; sie teilten die Erfahrung dessen, was hinter ihnen lag, und sie hatten eine gemeinsame Sprache. Die meisten von ihnen waren sehr jung, Anfang zwanzig. Liebschaften entstanden im Nu. Man war mit den Partnern aus Kriegszeiten zusammen; wenn man sich nicht rasch verlobte, trennte man sich und suchte sich jemand anderen.
Für mich ist Jüdisch keine Nationalität, sondern eine Konfession. Deutsche  mit einer anderen Konfession, die sich jüdisch nennt. So einfach ist das. Die Katholiken sind auch überall auf der Erde verstreut und machen sie nicht alle zu Römern ...
Für die Juden aus aller Herren Länder war dies die erste religiöse Versammlung, die sie wieder in Freiheit abhalten konnten. Für die Amerikaner und andere Besucher war's eine feierliche Begegnung mit den Überlebenden und einen Augenblick, um über den Krieg und das, was er bewirkt hatte, nachzudenken.
Als Sala nach Amerika emigrierte, sprach sie vierzig lange Jahre nicht mehr über das erlittene Ereignis ...

Auf Seite 273 ist ein Gedicht zur Neujahrsnacht 1942 zu entnehmen, das aus Salas Feder stammt und aus ihrem Tagebuch entnommen wurde. Das Gedicht ist recht lang und so verweise ich lediglich darauf hin.

Erstaunt war ich über den Tod Alas, die zusammen mit Sala in das Arbeitslager ging und die sich wie eine Mutter um Sala gekümmert hatte. Es lagen auch etliche Jahre zwischen ihnen. Ala wurde von den Nazis durch ihr adrettes Aussehen und ihr Können ein wenig privilegiert und bekam die besten Arbeitsaufträge zugeteilt. Sala hatte ihr viel zu verdanken, denn durch Alas Einfluss musste auch Sala keine schweren körperlichen Arbeiten ausführen … Wegen eines Widerstands kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Ala hingerichtet.

Welches weitere Schicksal Sala nach dem Nationalsozialismus und mit dem neuen Leben in Amerika ereilt, das lest selbst. Steht auch schon genug im Klappentext.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten. Die Autorin hat als Mitbetroffene sehr gut recherchiert und zwischen den Briefen immer wieder dokumentarische Berichte eingefügt.

Für mich zählen Kinder, deren Eltern einen oder mehrere Kriege erlitten haben, ebenso zu den Betroffenen. Es gibt mittlerweile recht viel wissenschaftliche Literatur darüber, wie der Einfluss dieser traumatisierten Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder unbewusst übertragen wird.


Mein Fazit

Heute hegen wir Ressentiments gegenüber Ausländern, wie z.B den EU-Krisenländern, den Wirtschaftsflüchtlingen, etc. Die Medien verbreiten hierin gerne viele Halbwahrheiten. Die eine Gruppe bezeichnen wir als Sozialschmarotzer und die andere Gruppe nimmt den Deutschen Arbeitsplätze weg, sodass diese unter dem Strich gesehen den deutschen Steuerzahler langfristig arm machen würden. Und so begreifen sich viele Deutsche als arme Opfer, denn sie stellen sich als die bessere Menschengruppe dar, sie nehmen sich als das Sozialamt der Welt wahr, und dabei vergessen wir, dass Deutschland im Ersten und Zweiten Weltkrieg hochverschuldet war, ähnlich wie heute Griechenland, doch den Deutschen wurden die Schulden von Seiten der Amerikaner erlassen, und konnte ca. zehn Jahre später nach Kriegsende dadurch in das Wirtschaftswunder übergehen. Das Land musste sich mit der Rückzahlung der Schulden nicht belasten. Das Wirtschaftswunder konnte allerdings ohne ausländische Arbeitskräfte nicht bewältigt werden, denn es fanden sich darunter viele Arbeitsangebote, die ein deutscher Bürger definitiv nicht machen wollte ... 

Das will heute niemand mehr hören. Und was die Judenfrage betrifft, gibt es viele Deutsche, die schimpfen, dass den Juden heute noch immer materielle Entschädigungen ausgezahlt werden, wo doch schon so viel Zeit vergangen sei.

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Man kann seine Schuld nicht mildern, wenn man sie eingesteht, 
sondern nur, wenn man anfängt, sich zu bessern. 
(Ann Kirschner)

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