Samstag, 14. Juni 2014

Charlotte Bronté / Villette (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Die Protagonistin und die Icherzählerin ist die junge Engländerin Lucy Snowe, die sich erst mal ziellos auf ein Schiff begibt, in Frankreich ankommt, und auf  Empfehlungen einer Schiffspassagierin nach Villette fährt, um sich in einem Mädcheninternat als Englischlehrerin zu bewerben. Obwohl sie zum Unterrichten gar kein Examen besitzt, und sonst auch keinerlei Referenzen nachzuweisen hat, bekommt sie nach einer harten Eignungsprüfung über die strenge Direktorin Madame Beck nun endlich den Lehrauftrag als Englischlehrerin. Englischlehrerinnen in Frankreich waren zur damaligen Zeit schwer zu finden. Lucy Snowe macht nun ihre Erfahrungen mit den Franzosen. Auf was ich besonders großen Wert lege, bevor ich meine Punkte verteile, ist eine differenzierte Beobachtungsgabe, mit der Charlotte Bronté in hohem Maße ausgestattet war. Der Autorin ist es gelungen, die Franzosen sehr differenziert darzustellen. Ihre Personenbeschreibungen sind frei von Klischees und Stereotypen. Das mag ich sehr. 
Was die Thematik betrifft, gebe ich zur Erinnerung noch einmal den Klappentext rein:
Im Mittelpunkt von Charlotte Brontës drittem großen Roman steht erneut eine bewegende Frauenfigur: Nach einer glücklos unsteten Jugend findet die unscheinbare Lucy Snowe in der Fremde Anstellung im Mädchenpensionat der kaltherzigen Madame Beck. Als ihre aufkeimende Liebe zum jungen Schularzt Dr. John unerwidert bleibt, droht die Einsamkeit sie zu erdrücken. Doch dann entdeckt Lucy ihre Zuneigung zu dem eigenwilligen Literaturprofessor Paul Emanuel. 
Lucy Snowe erwies sich mir als eine recht sympathische Persönlichkeit. Für ihre Zeit war sie sehr aufgeklärt. Ihr intellektuelles Auftreten stieß besonders bei Monsieur Paul, französischer Literaturprofessor des Internats, auf Widerstand.
Eine Frau mit Verstand war offenbar eine Art lusus nturae, ein unseliger Zufall, ein Ding, für das es in der Schöpfung weder Platz noch Verwendung gab, das weder zur Ehefrau noch zur Arbeit taugte. (544f)
Auch wirkte Lucy recht sensibel und es gelang ihr, hinter die Fassaden ihrer französischen Mitmenschen zu schauen. Die anderen Figuren kamen mir ein wenig narzisstisch vor. Mir war, als würde Lucy für deren Eitelkeit benutzt werden, mit der sie permanent konfrontiert wurde. Nicht nur bei den Mädchen, nein auch bei den Erwachsenen. Auch dem Schularzt Dr. John, in den sich Lucy verliebt hatte, musste sie fortlaufend zu seiner Person Fragen beantworten.
Lucy wirkte auf mich sehr einsam. Die Einsamkeit erlebte sie als recht schmerzvoll, zudem besaß sie ein recht labiles Nervenkostüm. Ihre Kolleginnen in dem Internat waren Durchschnittsmenschen, von denen sie sich zurückzog.

Besonders qualvoll erlebte sie Monsieur Paul, der sie immer wieder auf die Probe gestellt hat. Als Protestantin hatte Lucy es nicht leicht, aber sie schlägt sich immer wieder tapfer durch und ist um Widerworte nicht verlegen. Sie kann aber auch schweigen, wenn der aggressive Gegenpart sie noch weiter attackiert.

Lucy hegt große Pläne. Sie spart für ihr eigenes Pensionat. Sie möchte nicht immer bei Madame Beck angestellt bleiben. Auch Madame Beck ist eine recht kuriose Erscheinung. Sie ist neugierig und wühlt in Lucys Privatsachen, wenn Lucy selbst nicht im Raum ist. Doch Lucy bemerkt das sehr wohl, behält es aber für sich.

Lucy wird immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob sie gerne unterrichten würde. Und die Leute zeigten sich entsetzt, als sie ihre Lehrtätigkeit nicht als Berufung angibt. Von einer Frau würde man erwarten, dass sie alles, was sie tut, aus reiner Menschenliebe zu erfüllen habe. Doch auch hier ist Lucy nicht verlegen und entgegnete, dass sie in erster Linie für sich selber sorgen müsse, um finanziell unabhängig leben zu können, um somit niemandem zur Last zu fallen.

Lucy zeigt sich oft rebellisch, gerade weil Monsieur Paul sie immer wieder von Neuem provoziert.
"Sie sehen blass aus in ihrem Schlummer. Klagt Sie das Heimweh?"
"Heimweh - dazu muss man ein Heim haben. Ich habe keins."
"Dann brauchen Sie umso mehr einen Freund, der auf Sie achtgibt. Miss Lucy, ich kenne kaum jemand, der dringender als Sie einen Freund nötig hat. Selbst Ihre Fehler verlangen gebieterisch nach ihm. Sie brauchen jemanden, der Sie kontrolliert, der Ihnen den Kopf zurechtrückt und Sie im Zaum hält."
Die Vorstellung, >>man müsse mich im Zaum halten<<, war Monsieur Paul nicht auszutreiben. (557)
Eine Schülerin spielt ihr einen Streich, sodass Lucy glaubt, unter Wahnvorstellungen zu leiden. Sie verfällt erneut einem Schwächeanfall. Am Schluss des Buches klärt sich allerdings alles auf.

In dem Internat unterrichtet auch eine Deutschlehrerin namens Fräulein Anna Braun. Interessant fand ich die von Lucy dargelegte Personenbeschreibung:
Unsere Deutschlehrerin, Fräulein Anna Braun, war eine wackere, derbe Frau von etwa fünfundvierzig Jahren. Vielleicht hätte sie in den Tagen der Königin Elisabeth leben sollen, denn sie verzehrte regelmäßig zum ersten und zweiten Frühstück Rindfleisch mit Bier. Außerdem schien ihr ehrliches, gerades deutsches Gemüt grausamen Zwang durch das zu leiden, was sie unsere englische Zurückhaltung nannte. Wir bildeten uns zwar ein, dass wir sehr herzlich mit ihr umgingen, aber wir klopften ihr nicht auf die Schulter, wenn wir uns dazu herbeiließen, sie auf die Wange zu küssen, so geschah dies in aller Ruhe und ohne explosives Schmatzen. 
Mehr möchte ich nun nicht verraten. Wie typisch für alle Bronté-Bücher sind nicht nur die traurige Kindheit, von der die Protagonistinnen oftmals heimgesucht werden, typisch sind auch die Lehrberufe, die ergriffen werden, und auch die Liebesgeschichten gehören wie selbstverständlich immer dazu. So auch in diesem Buch. Besonders Monsieur Paul, der Lucy so oft attackierte, tat es letztendlich nur, weil er eine heimliche Liebe zu ihr in sich entdeckt hat. Ob sie von Lucy erwidert wurde, möchte ich auch dazu nicht mehr verraten.

Das Buch erhält von mir neun von zehn Punkten. Wie anfangs schon beschrieben, haben mir die differenzierten Personenbeschreibungen sehr zugesagt. Auch der literarische Schreibstil hat mir gefallen. Der einzige Nachteil ist, dass in dem Buch sehr viele Konversationen in französischer Sprache abgehalten werden, ohne dass eine Übersetzung über eine Fußnote der jeweiligen Seiten gesetzt wurde. Die Autorin setzt französische Sprachkenntnisse wahrscheinlich voraus. Der Kontext lässt sich zwar auch ohne die Kenntnisse der französischen Sprache gut verstehen, aber ich bin sicher, dass man das eine oder andere Wesentliche verpasst hat.

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Alle Religionen und alle unterschiedlichen Kulturen
 haben ihre Berechtigung, 
solange sie anderen nicht schaden. (M. P.)

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