Samstag, 21. Juni 2014

Carson McCullers / Frankie (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Wieder ein McCullers Buch, in dem es um Persönlichkeiten geht, die tief in der inneren Einsamkeit stecken.

Die Protagonistin in dem Roman ist, wie der Buchtitel schon verrät, die zwölfjährige Frankie, die nun genug davon hat, Kind zu sein und sich nichts sehnlichster wünscht, als in die Welt der Erwachsenen einzutauchen. Frankie ist eine Halbwaise. Die Mutter starb bei ihrer Geburt. Der Vater,
Juwelier von Beruf, ist einundvierzig Jahre alt, der seit dem Tod seiner Frau eine farbige Köchin namens Berenice Sadie Brown eingestellt hat. Nebenbei ersetzte sie Frankie ein wenig die Mutterrolle. Dann gibt es noch den sechsjährigen Vetter John Henry West.

Zur Erinnerung gebe ich noch einmal den Klappentext rein:
›Frankie‹ ist die Geschichte eines Reifeprozesses und einer großen Sehnsucht, der Sehnsucht, dabei zu sein: beim Leben der Erwachsenen, hier bei der Hochzeit des Bruders, der von einer fremden Frau entführt wird. Frankies Ruf ›Nehmt mich mit!‹, der ungehört dem abreisenden Paar nachhallt, ist der verzweifelte Ruf, den jedes alleingelassene Kind kennt.
Die Geschichte spielt im Sommer des Zweiten Weltkriegs, in der Frankie in eine Identitätskrise gerät. Sie hat noch einen älteren Bruder, der in diesem Sommer die Absicht hat, zu heiraten. Frankie will indirekt mitgeheiratet werden. Sie erträgt die Einsamkeit nicht mehr. Mit dieser Mitheirat würde sich ihr ein Wir bilden.
Die beiden sind mein >Wir<. Gestern und während der ganzen zwölf Jahre ihres Lebens war sie nur Frankie gewesen. Sie war nur ein >Ich< und ging für sich allein herum und musste für sich selber handeln. Alle anderen hatten ein >Wir< - alle, nur sie nicht. Wenn Berenice >Wir< sagte, so meinte sie Anträge und die Großmutter, ihre Loge oder die Kirchengemeinde. Das >Wir< ihres Vaters war sein Laden. Alle Klubmitglieder haben ein >Wir<, zu dem sie gehören und von denen sie reden können. Die Soldaten in der Armee können >wir< sagen, sogar die Verbrecher, die man aneinanderkettet. Aber die alte Frankie hatte kein >Wir< gehabt, höchstens das >Wir< des schrecklichen Sommers, das aus ihr und Jean Henry und Berenice bestand; und das war das allerletzte >Wir<, das sie gewollt hatte. Das alles war nun plötzlich vorbei und ganz anders. Es gab ihren Bruder und seine Braut; und eigentlich hatte sie es schon gewusst, als sie die beiden das erste Mal sah: Die beiden sind mein >Wir<! (74)
Die Idee mit dem „Wir“ fand ich einen supergenialen Gedanken. Deutlicher kann der Kampf gegen die Einsamkeit gar nicht mehr ausgedrückt werden.
Sie stand in der Ecke des Brautzimmers und hätte gern gesagt: „Ich liebe euch beide so sehr. Ihr seid mein Wir. Bitte nehmt mich mit nach der Hochzeit, denn wir gehören zusammen."
In den späteren Zitaten folgen noch weitere geniale Beispiele. Frankie hatte einfach genug davon, sich selbst zu sein. Ein weiterer Gedanke folgt, der mich tief beeindruckt hat:
Das war der Sommer, als Frankie es satthatte, Frankie zu sein. Sie hasste sich, wusste nichts mit sich anzufangen, war zu nichts nütze und lungerte den ganzen Tag über in der Küche herum; schmutzig, gierig, gemein und traurig. Sie verdiente es wirklich nicht, auf der Welt zu sein, und außerdem war sie ein Verbrecher. Hätte das Gericht Bescheid gewusst, sie wäre verurteilt und ins Gefängnis gesperrt worden. Aber Frankie war nicht immer ein Verbrecher und Taugenichts gewesen. Bis zum April war sie ihr ganzes Leben lang wie die anderen Leute gewesen. Sie war Mitglied in einem Klub und hatte gute Zeugnisse nach Hause gebracht. Jeden Samstagvormittag half sie ihrem Vater bei der Arbeit, und Samstag Nachmittag ging sie ins Kino. (39f) 
Frankie war ein sehr fantasiebegabtes Kind. Die Fantasien waren wichtig, um durch diese schwierige Phase, die die Pubertät mit sich brachte, zu gehen. Ihre Gedanken waren nicht immer leicht, sie nachzuvollziehen. Sie hatte genaue Vorstellungen davon, wie sie die Welt gerne hätte. Sie ging zur Blutspende, damit ihr Blut in den Adern von Menschen aus anderen Ländern und Kontinenten weiter zirkulieren konnte. Darin sah sie eine Verbindung zu den Menschen aus aller Welt. 
Sie beschloss, Blut zu spenden. Sie wollte dem Roten Kreuz wöchentlich einen Liter geben, dann würde ihr Blut in den Adern von Australiern, Franzosen und Chinesen über die ganze Welt verbreitet sein, und sie wäre mit all diesen Menschen verwandt. (42) 
An diesem Zitat wird noch einmal deutlich, wie sehr Frankie unter ihrer Einsamkeit litt und wie sehr sie sich nach anderen Menschen sehnte. Doch zu ihrem Missmut wurde sie aufgrund ihres so jungen Alters abgelehnt, was Frankie den Ärzten arg übel nahm.

Auch wünschte sich Frankie eine Insel, auf der Menschen so viele Kriege führen konnten, wie sie wollten. Nur kriegsenthusiastische  Menschen sollten auf dieser Insel leben.
Der Krieg und die Welt - alles war zu schnell, zu riesig und fremd. Wenn sie zu lange über die Welt nachdachte, bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie fürchtete sich nicht vor den Deutschen oder vor Bomben oder vor Japanern. Sie fürchtete sich, wenn man sie nicht mitmachen ließ in diesem Krieg und weil es ihr so vorkam, als habe sich die Welt irgendwie von ihr getrennt. (42f)
Frankie fehlte es an Mutterliebe. Sie klammerte sich stark an den Vater und schlief noch bis zum zwölften Lebensjahr mit ihm in einem Bett, bis der Vater schließlich Einhalt gebietet:
Als ihr Vater und sie eines Abends im April zu Bett gingen, sah er sie plötzlich an und sagte: "Wer ist denn diese zwölf Jahre alte, langbeinige Zikade, die immer noch bei ihrem alten Papa schlafen will?" Seitdem war sie zu alt, um noch länger mit ihrem Vater zusammen zu schlafen. Sie musste oben in ihrem Zimmer allein schlafen. Sie nahm es ihrem Vater übel, und die beiden sahen einander schief von der Seite an. Sie mochte nicht länger zu Hause bleiben. (44) 
Dieses Ausladen aus dem ehelichen Bett ihres Vaters verschärfte die Krise um einiges und so gibt sich Frankie gefährlichen Tagträumereien hin.

Frankie ist 1,67 m groß. Sie verzieh es sich nicht, dass sie so groß war und nannte sich selbst langer Lulatsch, der es nicht verdiente, auf der Welt zu sein. Von den Kindern wurde sie der Größe wegen verspottet. Sie bekam die Frage gestellt, ob es ihr dort oben nicht zu kühl sein würde? (Lol)

Der Hauptaufenthaltsort in diesem Buch ist die Küche. Frankie tauscht sich gerne mit der Köchin Berenice aus. Berenice bekommt sehr deutlich die schwermütigen Gedanken dieses jungen Menschen mit. Frankie würde den ganzen Tag nichts anderes tun, als zu denken und über ihre Gedanken zu sprechen.

Dass sich Frankie stark nach Liebe sehnt, und sie diese sich bei Berenice holt, fand ich folgendes Zitat ein wenig traurig, denn nicht nur Frankie will geliebt werden, sondern auch der kleine John Henry:
Frankie legte das Messer, mit dem sie spielte, auf den Tisch und setzte sich Berenice auf den Schoß und lehnte das Gesicht gegen ihren Hals. Ihr Gesicht war schweißnass, genau wie Berenices Hals, und beide rochen salzig und sauer. Ihr rechtes Bein lag über Berenices Knien und zitterte. Als sie den Fuß auf den Boden stellte, zitterte es nicht mehr. John Henry kam (…) angeschlürft und schmiegte sich eifersüchtig an Berenice. Er legte seinen Arm um ihren Hals und hielt sich an ihrem Ohr fest. Dann versuchte er, Frankie von ihrem Schoß zu schubsen, und kniff Frankie ins Bein.„Lass Frankie in Ruhe", sagte Berenice, „sie hat dir nichts getan."
„Ich bin krank", jammerte er. 
„Aber nein, das bist du nicht. Sei brav und gönn deiner Cousine das bisschen Liebe." (201)
Nun habe ich sehr viele Zitate eingebracht, weil mir die Textstellen so gut gefallen haben. Mit in die Hochzeit ihres Bruders eingezogen zu werden, und schließlich mit dem vermählten Paar mitzuziehen, wurde immer mehr zur Täuschung ihrer eigenen Einbildungskraft, die sie weiterhin in eine schwere Krise stürzte. Berenice hatte sie liebevoll davor gewarnt, dass ihr Bruder sie unmöglich ins neue Leben mitnehmen könne, doch sie wollte ihr nicht glauben. Sie hegte Suizidgedanken und die Absicht, sich mit dem Revolver ihres Vaters zu töten. Frankie packt eines späten Abends ihren kleinen Koffer, klaut dazu die Geldbörse ihres Vaters, und reißt aus. Sie will raus in die Welt, wenn sie auch noch nicht weiß, wie und wohin. Suizid oder nicht? Lest einfach selbst.

Ich mache hier nun Schluss, doch glaubt nicht, dass ich alle Szenen beschrieben habe. Es gibt noch andere, sehr interessante Begebenheiten zwischen Frankie und ihren Mitmenschen, zwischen dem kleinen John Henry und nicht zu vergessen zwischen Berenice und deren Leben mit den vielen Ehen und Scheidungen.

Und auch der Rassismus fand hier seinen Platz. Die schwarze Köchin Berenice sehnt sich nach einer Welt, in der es zwischen den Schwarzen und den Weißen eine Gleichbehandlung gibt und die frei ist von Diskriminierungen.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten. Es ist authentisch geschrieben, literarisch tiefgründig, anspruchsvoll und sehr fantasievoll.
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Alle Religionen und alle unterschiedlichen Kulturen
 haben ihre Berechtigung,
solange sie anderen nicht schaden. (M. P.)

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