Donnerstag, 17. April 2014

Herta Müller / Atemschaukel (2)

Zweite von zwei Buchbesprechungen zur o. g. Lektüre

Ich gebe zur Erinnerung erneut den Klappentext rein:
Rumänien 1945: Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die deutsche Bevölkerung lebt in Angst. "Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15º C." So beginnt ein junger Mann den Bericht über seine Deportation in ein Lager nach Russland. Anhand seines Lebens erzählt Herta Müller von dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen. In Gesprächen mit dem Lyriker Oskar Pastior und anderen Überlebenden hat sie den Stoff gesammelt, den sie nun zu einem großen neuen Roman geformt hat. Ihr gelingt es, die Verfolgung Rumäniendeutscher unter Stalin in einer zutiefst individuellen Geschichte sichtbar zu machen.
Der Hunger durchläuft personifiziert zentral durch alle Gänge des Romans hindurch und wird als der Hungerengel bezeichnet, der ständige Begleiter der Menschen aus dem Arbeitslager. Eine starke Metapher, die so gewaltvoll auf mich eingewirkt hat, dass es mich manchmal lähmte. Wer solch ein Erlebnis hinter sich hat, wird für den Rest seines Lebens gezeichnet sein …
Immer ist der Hunger da.Weil er da ist, kommt er, wann er will und wie er will. Das kausale Prinzip ist das Machwerk des Hungerengels. Wenn er kommt, dann kommt er stark. Die Klarheit ist:1 Schaufelhub = 1 g Brot. Ich bräuchte die Herzschaufeln nicht. Aber mein Hunger ist auf sie angewiesen. Ich wünschte, die Herzschaufel wäre mein Werkzeug. Aber es ist mein Herr. Das Werkzeug bin ich. Sie herrscht, und ich unterwerfe mich. (…) Der Hunger ist meine Richtung, wenn es nicht seine ist. Der Engel lässt mich vor. Er wird nicht schüchtern, er will nur nicht gesehen werden mit mir. Dann wollte ich den Rücken, wenn es nicht seiner ist. Meine Gier ist hoch, meine Hände sind wild. Es sind meine Hände, Abfall fasst der Engel nicht an. Ich schiebe die Kartoffelschalen in den Mund und ließ beide Augen, so spüre ich sie besser, süß und Klassik, die gefrorenen Kartoffelschalen. (…) Er greift sich den Puls wie eine Meute Klaxons. Ich bin kurz vor dem Zusammenbruch, im süßen Gaumen schwillt mir das Zäpfchen. Und der Hungerengel hängt sich ganz in meinen Mund hinein, an meinen Gaumensegel. Es ist seine Wangen. Er setzt meine Augen auf, und die Herzschaufel wird schwindlig, die Kohle verschwindet. Der Hungerengel stellt meine Wagen Wangen auf sein Kinn. Er lässt meinen Atem schaukeln. Die Atemschaukel ist ein Delirium und was für eins. Der Hummerengel sucht Spuren, die nicht zu löschen sind, und löscht Spuren, die nicht zu halten sind. (…) Und es kommt der Abend und alle kommen von der Arbeit heim. Und alle steigen in den Hunger. Er ist ein Bettgestell, wenn ein Hungriger den anderen Hungrigen zuschaut. Aber das täuscht, ich spüre an mir, der Hunger steigt in uns hinein. Wir sind das Gestell für den Hunger. Wir alle essen mit geschlossenen Augen. Wir füttern den Hunger die ganze Nacht. Wir mästen ihn hoch auf die Schaufel. Ich esse einen kurzen Schlaf, dann wache ich auf und esse den nächsten kurzen Schlaf. Ein Traum wie der andere, es wird gegessen. (86ff)
Damit man eine Vorstellung von dem Hungerengel hat, war es mir wichtig, diese Episode aufzuzeichnen.

Leo ging nach der Arbeit ins Russendorf, um zu betteln auf vornehme Art. Er trifft eine alte Frau, die Leo zu sich ins Haus zieht, da sie die Nachbarn fürchtet. Lieber redet sie mit Hühnern, als mit den Nachbarn.
Die alte Frau redete eine Weile. Ich verstand nur hie und da ein Wort, spürte aber, worum es ging. Dass sie Angst vor den Nachbarn hat, dass sie schon lange mit zwei Hühnern allein ist, aber lieber mit den Hühnern redet, als mit den Nachbarn. Dass sie einen Sohn in meinem Alter hat, dass er Boris heißt und von zu Hause so weit weg ist wie ich, in der anderen Richtung, in einem Lager in Sibirien, in einem Strafbataillon, weil ein Nachbar ihn denunziert hat. Vielleicht habt ihr Glück, du und mein Sohn Boris, sagte sie, und dürft bald nach Hause. Sie zeigte auf den Stuhl, und ich setzte mich an die Tischdecke. Sie nahm mir die Mütze vom Kopf und legte sie auf den Tisch. Sie legte einen Holzlöffel neben die Mütze. (76f)
Und Leo hat mit der Frau Glück, Glück, dass er sie an ihren Boris erinnert. Er bekommt von ihr an dem Tisch reichlich zu essen, zum Abschied noch ein weißes Taschentuch geschenkt:
Was da geschah, ging weit über das Geschäftliche des Hausierens und mich und sie und ein Taschentuch hinaus. Es betraf ihren Sohn. Und mir tat es gut und auch wieder nicht, sie oder ich oder wir beide waren ein Stück zu weit gegangen. Sie musste etwas tun für ihren Sohn, weil ich da war und er von zu Hause so weit weg wie ich. Mir war es peinlich, dass ich da war, dass ich nicht er war. Und dass sie das auch spürte und sich darüber hinwegsetzen musste, weil sie die Sorgen um ihn nicht mehr aushielt. Auch ich hielt es nicht mehr aus, zwei Menschen zu sein, zwei Verschleppte, das war mir zu viel, das war nicht so einfach wie auf dem Hocker zwei Hühner nebeneinander. Ich war mir doch selber schon um eine Last zu viel. (77f)
Das hat mir sehr gut gefallen, wie die Autorin diese Nöte beschrieb und sie ausdrückte.

Leopold nahm vier Bücher von Zuhause mit. Nietzsches Zarathustra, Goethes Faust, ein Buch von Weinheber und ein Gedichtband. Wie kamen diese Bücher im Lager zum Einsatz?
Meine mitgebrachten Bücher habe ich im Lager nie gelesen. Papier ist streng verboten, den ersten halben Sommer habe ich meine Bücher hinter der Baracke unter Ziegelsteinen versteckt. Und dann verschachert. Für 50 Seiten Zarathustra-Zigarettenpapier habe ich 1 Maß Salz bekommen, für 70 Seiten sogar 1 Maß Zucker. Für den ganzen Faust in Leinen hat Peter Schiel mir einen eigenen Läusekamm aus Blech gemacht. Die Sammlungslyrik aus acht Jahrhunderten habe ich in Form von Maismehl und Schweineschmalz gegessen und den schmalen Weinheber in Hirse verwandelt. Davon wird man nicht delikat, nur diskret. (116f)
Ich bin immer interessiert zu wissen, welche Bücher von den Romanfiguren präferiert werden, und welche ich davon selbst kenne. Romane wollte Leo keine mitnehmen, da sie in der Regel nur ein Mal gelesen werden würden.

Wenn Leo sich einsam fühlte, an sein Zuhause denkt, fällt ihm immer wieder seine Großmutter ein, die ihm, als er von der Patrouille abgeholt wurde, mit auf dem Weg gab; ich weiß, du kommst wieder.

Immer wieder zelebrierte Leo diesen Satz seiner Großmutter, bis er eines Tages ein Foto, auf dem sein neugeborener Bruder abgebildet war, zugeschickt bekam:
Meine Eltern haben sich ein Kind gemacht, weil sie mit mir nicht mehr rechnen. So wie die Mutter geboren mit GEB. abgekürzt, würde sie auch gestorben mit Gest. abkürzen. Sie hatte es schon getan. Schämt sich Mutter nicht mit ihrer akkuraten Steppnaht aus weißem Zwirn, dass sich unter der Zeile lesen muss:
>>Meinetwegen kannst du sterben, wo du bist, zu Hause würde es Platz sparen.<< (213)
Mich hat diese Szene sehr betroffen gestimmt. Kann mir schwer eine Mutter vorstellen, die so schnell ihr Kind aufgibt. Aber die Angst vor dem Verlust muss hier größer gewesen sein als die Hoffnung. Leos Platz ist nun an ein anderes Kind vergeben. Trotzdem kommt er nach fünf Jahren heim. Er fühlt sich nicht wirklich willkommen, kaum einer fragt, was er erlebt hat. Er wird wie ein Fremder aufgenommen:
Seit ich wieder daheim war, hatte alles Augen. Alles sah, dass mein herrenloses Heimweh nicht wegging. Vor dem größten Fenster stand die Nähmaschine mit dem verfluchten Schiffchen und dem weißen Zwirn unter ihrem Holzdeckel. Das Grammofon war wieder in mein abgenutztes Köfferchen eingebaut und stand auf dem Ecktisch wie immer. Dieselben grünen und blauen Gardinen ließen sich hängen, dieselben Blumenmuster schlängelten sich in den Teppichen, die verfilzten Fransen säumten sie immer noch ein, die Schränke und Türen quietschten beim Öffnen und Schließen wie eh und je, die Fußböden knarrten an derselben Stelle, der Handlauf der Verandatreppen war noch an derselben Stelle rissig, jede Treppenstufe ausgetreten, am Geländer baumelte derselbe Blumentopf in seinem Drahtkorb. Nichts ging mich was an. Ich war eingesperrt in mich und aus mir heraus geworfen, ich gehörte nicht ihnen und fehlte mir. (272)
Eine sehr traurige Szene, besonders der letzte Satz.
Wie hat Leopold das schwere Schicksal nur ertragen können? Die schwersten Szenen stehen im Buch, habe sie nicht übernommen, einfach zu schwer, sie geistig, emotional zu ertragen. Ich weiß, das ist nicht fair gegenüber diesen Menschen, die real dem Geschehen ausgesetzt waren, und vor der Realität nicht fliehen konnten, wie ich es als Leserin getan habe.

Viele Menschen glauben, dass Leute, die schnell weinen, emotionslos sind. Auch Leo fragte sich, zu welcher Sorte Mensch er gehörte, um sein Schicksal zu ertragen:
Ich rede mir ja immer ein, dass ich wenig Gefühle habe. Wenn ich mir etwas zu Herzen nehme, ergreift es mich nur mäßig. Ich weine fast nie. Ich bin nicht stärker als die mit den nassen Augen, sondern schwächer. Sie trauen sich. Wenn man nur Haut und Knochen ist, sind Gefühle tapfer. Ich bin lieber feig. Der Unterschied ist minimal, ich nutze meine Kraft, um nicht zu weinen. Wenn ich mir mal ein Gefühl leiste, drehe ich den wunden Punkt um eine Geschichte, die trocken auf der Heimwehlosigkeit verharrt. (…) Ich habe meinem Heimweg schon lange trockene Augen beigebracht. Und jetzt möchte ich noch, dass mein Heimweh auch herrenlos wird. Dann sieht es nicht mehr meinen Zustand hier und fragt nicht mehr nach denen von Zuhause. Dann sind auch in meinem Kopf keine Personen mehr daheim, nur noch Gegenstände. Dann schiebe ich sie auf dem wunden Punkt hin und her, wie man die Füße schiebt bei der Paloma. Gegenstände sind klein oder groß, manche vielleicht zu schwer, aber sie haben ein Maß.Wenn mir das auch noch gelingt, ist mein Heimweh nicht mehr empfänglich für Sehnsucht. Dann ist mein Heimweh nur noch der Hunger nach dem Ort, wo ich früher einmal satt war. (190)
Auch die Gefühle werden hier personifiziert, ebenso die Sehnsucht. Ich finde nun in dem Zitat eine Antwort darauf, weshalb so viele Dinge wie Menschen beschrieben werden und so kann ich es jetzt mit Hilfe dieses Zitates besser nachvollziehen. Es drückt aus meiner Sicht ein gewisses Maß an menschlicher Einsamkeit aus. 
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Das Buch hat sehr viel Tiefgang. Literarisch und sprachlich ist es zudem recht anspruchsvoll. Es erhält von mir zehn von zehn Punkten.

Mein Appell an andere LeserInnen:

Habt Mut, das Buch selbst zu lesen, in der Hoffnung, dass diese Form der Geschichte sich nicht noch einmal wiederholt.
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Wie können die Toten wirklich tot sein, solange sie noch durch unser Herz wandern?
(C. McCullers zitiert aus einer alten Indianerlegende).


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