Freitag, 25. Januar 2013

Pascal Mercier / Lea (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre   

In dem vorliegenden Buch geht es um eine Erzählung, allerdings um eine durch und durch dramatische. Das ganze Buch ist recht traurig.
Es geht um Menschen, die, obwohl sie sich recht nahe sind, erkennen müssen, dass sie sich so ziemlich fremd sind, so dass man sich fragt: Wie ist das denn möglich, sich so fremd zu sein, obwohl man sich so nahe ist? obwohl mir dieser Gedanke keineswegs neu ist.

Zwei schweizer Wissenschaftler machen in der Provence einander Bekanntschaft. Der eine ist Arzt, der andere Universitätsprofessor. Beide haben eine Tochter. Die Professors Tochter heißt Lea und die des Arztes Lesli, doch hauptsächlich dreht es sich um die Tochter des Professors, der Mertijn van Vliet heißt. Martjin befindet sich in Trauer, da seine Tochter gestorben ist, und der Psychiater von Lea der Meinung sei, dass er eine Mitschuld an Leas Tod trägt. Dass Lea gestorben ist, das wird schon recht bald deutlich, indem van Vliet sich seinem neuen Bekannten zu öffnen beabsichtigt. Der Arzt allerdings nicht wirklich Lust hat, die Geschichte zu hören.

Schließlich findet er doch noch Geschmack und Interesse. Dabei stellte er Verknüpfungen an zu seiner eigenen Tochter, die in einem Internat groß geworden ist und er auf van Vliets Frage,  ob er nicht die Entwicklung  seiner Tochter verpasst habe? Wie z.B die erste Liebe u.v.m.

Beide Männer haben mit ihrer Vergangenheit zu kämpfen. Adrian Herzog war einst mal ein phänomenaler Chirurg, der durch ein schlechtes Erlebnis sich in seiner Berufspraxis behindert sieht. Folgendes Zitat, das mir sehr gut gefallen hat, soll das noch unterstreichen:
Selbstvertrauen: warum ist es derart launisch? Warum ist es blind den Tatsachen gegenüber? Ein Leben lang haben wir uns angestrengt, es aufzubauen, zu sichern und zu befestigen, wir wissen, dass es das kostbarste Gut ist und unverzichtbar für Glück. Plötzlich dann und mit tückischer Lautlosigkeit öffnet sich eine Falltür, wir fallen ins Bodenlose, und alles, was war, wird zur Fata Morgana, 56
Lea, acht Jahre alt, hört gemeinsam mit ihrem Vater von weitem auf dem Bahnhof ein kleines Violinenkonzert und fühlt sich magisch von der Musik angezogen und zieht ihren Vater dort hin. Seit diesem Tag beginnt Lea, sich für das Instrument zu interessieren und beschließt, auch die Geige zu erlernen. Sie fragt ihren Vater, ob eine Geige teuer sei? Wie man auf den folgenden Seiten und recht früh erfährt, ist, dass ihr die Geige zum Verhängnis wird.

Auf Seite 80 hört man van Vliet sagen:
Ich habe mit einer Geige das Leben meiner Tochter zerstört. 
Lea ist ein Halbwaisenkind, da ihre Mutter dem Krebs erlag, und sie sich ganz in die Musik hingibt, um diese innere Leere, die Trauer, die sie seit dem Tod ihrer Mutter spürte, nicht weiter fühlen zu müssen. In der Musik findet Lea ein völlig neues Zuhause, in das sie nur sich und ihre Musiklehrerin hineinnässt.

Lea lernt schon mit vier Jahren Lesen und Schreiben, da der Bruder ihrer Mutter nicht nur Legastheniker war, sondern auch Schwächen im Rechnen aufzeigte. Leas Mutter machte sich Sorgen, dass diese Schwächen genetisch erbbar seien, und sich auf Lea übertagen könnten. Aus der Sorge heraus, und um dem entgegenzuwirken brachte die Mutter Lea schon sehr früh die Schriftsprache bei, so dass Lea im Alter von sechs Jahren schon Bücher von Agatha Christi verschlungen hatte.

Lea entwickelte schon mit acht Jahren einen besonderen Charakter. Sie wusste schon genau, was und wen sie brauchte, um eine außergewöhnliche talentierte Musikerin zu werden und so war sie in der Lage, sich eine ideale Musiklehrerin zu suchen, die sie auch in Marie fand. Zwischen der Schülerin und der Lehrerin entsteht ein inniges musikalisches Verhältnis, so dass die innere Mauer, gezogen um Lea, der Lehrerin und der Musik, immer höher wurde, hinter dieser nicht einmal ihr Vater Zutritt in diese Welt finden durfte. Ganz zum Leidwesen des Vaters, der ihr den ersten Platz in seinem Leben gab, einen Platz noch vor seinem Beruf, nachdem Beatrice gestorben war:
Wenn ich an späten Winternachmittagen manchmal vor Maries Haus stand und dem Schattenspiel hinter den Vorhängen zusah, das Marie und Lea aufführten, so fühlte ich mich ausgeschlossen und beneidete die beiden um den Kokon von Tönen, Worten und Gesten, in denen sie mir eingesponnen schienen und in dem es keine Reibung und keine Gereiztheit gab, wie sie im Institut immer häufiger vorkam, seit ich ohne viel Worte klargemacht hatte, dass es von nun an zuerst um Lea gehen würde, und dann noch einmal Lea und erst dann das Labor, 98.
Die Arbeitskollegen zeigten keinerlei Verständnis für sein neues Leben, da er aufhörte, an seine Karriere zu denken, um ganz für seine Tochter da zu sein. Und trotzdem zog sich seine Tochter von ihrem Vater immer mehr und mehr zurück und man sich fragt, wie das kommt.

Allerdings hatte sich Vater van Vliet in die Musiklerherin Marie verliebt, ohne dass es aber zu einer Konfrontation kommt, eingeschlossen in der väterlichen Fantasie:
Der erste Auftritt, von dem, ich ahnte es, so vieles abhing. Und just da bricht meine Fantasie aus und sucht sich eine Welt, eine Welt nur mit Marie. Kennen Sie das auch: dass die Fantasie im entscheidenden Augenblick appelliert und eigene, unbeherrschbare Wege geht, die verraten, dass man auch noch ein ganz anderer ist als der, für den man sich hielt? Gerade dann, wenn in der Seele alles geschehen darf, nur dieses eine nicht: Verrat durch die streunende Fantasie? 120 f.
Ohne, dass diese Verliebtheit von seiten des Vaters jemals Thema wird, scheint, so der Annahme des Erzählers, Lea diese Verliebtheit zu spüren und vermutlich sich gegen den Vater immer mehr  abgrenzt. In Marie sieht Lea unbewusst so etwas wie einen Mutterersatz, die sie ganz für sich alleine behalten möchte.

Lea wächst zu einer echten Virtuosin heran. Jede freie Minute widmet sie sich der Musik. Mit einer Ausnahme einzigen zeigt sie sich erfolgreich auf ihren öffentlichen Auftritten. Sie wird umjubelt, sie wird berühmt und erhält einen Namen.

Lea wirkt so zerbrechlich. Auch auf der Bühne, stets möchte sie die Beste sein und verzeiht sich den kleinsten Fehler nicht. Erste psychische Auffälligkeiten machen sich bemerkbar, die der Vater noch nicht wirklich wahrhaben möchte, sträubt sich, einen Experten aufzusuchen. Er sucht ihn auf, als es schon zu spät dafür ist und er von einem Psychiater ins Gewissen geredet bekommt:
"Ich will lieber üben", rief Lea aus, wenn der Vater mit ihr etwas unternehmen wollte.  Ich will lieber üben, Wort für Wort möchte ich diesen Satz in den dunklen Blick des Therapeuten hineinstoßen, um den Vorwurf, den ungeheuerlichen Vorwurf, dass ich dir die Jugend gestohlen und damit den Weg deiner Krankheit vorgezeichnet hätte, in seinen Augen immer weiter zurückzudrängen, immer weiter, bis er ganz hinten, dort, wo die Gedanken entstehen, in Bedrängnis gerieten und unter dem Gewicht der Tatsachen, die nur ich allein kenne ,schließlich erlöschen müsste. 84
Van Vliet gab sich sehr viel Mühe, eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen, und doch war sie ihm nicht greifbar genug. Er tat alles, um seiner Tochter nahe zu sein, doch er stellte wiederholt entsetzt fest, wie fremd sie ihm war. Er versuchte diese Fremdheit zu kompensieren, indem er ihr jeden  Wunsch von den Augen ablas. Statt sich ihr emotional zu nähern, kaufte er ihr eine Violine, die einst schon von einem Meister aus dem 18. Jahrhundert gespielt wurde. Die Violine kostete 1,8 Millionen Dollar. Natürlich hatte der Vater das Geld nicht. Und so veruntreute er Gelder aus den Projekten der Universität.

Van Vliet hatte schon als junger Mensch Probleme gehabt, seine Gefühle zu äußern, sich ihnen zu öffnen. Von seiner Frau Cécile erhielt er dazu folgenden Ratschlag:
Du musst dich mehr öffnen, Martjin, sagte sie sie oft, du kannst nicht erwarten, dass die Leute hinter dir herlaufen, um dich in deinen Gefühlen zu erraten. Auch mir musst du dich mehr öffnen, sonst geht es schief mit uns, sagte sie. Gegen Ende sagte sie es besonders oft. Als ich bei meinem letzten Besuch durch den langen Krankenhausflur auf ihr Zimmer zuging, nahm ich mir fest vor, ihr zu sagen, wie viel sie mir bedeutete. Doch dann kamen jene Worte: "Du musst mir versprechen, dass du gut auf Lea... .Nun konnte ich nicht mehr, ich konnte einfach nicht. Merde. Wo hätte ich es auch lernen sollen? Meine Mutter war Tessinerin, es gab Wutausbrüche, aber die Sprache der Gefühle, die Fähigkeit zu sagen, wie es einem geht - das hat mir niemand gezeigt. 275 f.
Auch nach diesem Zitat wird deutlich, wo van Vliet mit seiner Tochter versagt hat. Alle diese Gefühle, die Lea einst so sehr vermisst hatte, kompensierte sie durch die Musik und, wie schon einmal gesagt, in der Beziehung zu ihrer Lehrerin. Van Vliet verarbeitet durch die Erzählung zu seinem Gefährten Herzog das Leben mit seiner Tochter, das ihn belastete. Van Vliet beherrschte das Schachspiel, darin ist er Profi und wünschte sich insgeheim, die Tochter für dieses Spiel zu gewinnen, um Gemeinsamkeiten verweisen zu können, wofür Lea keinerlei Interesse aufbringen konnte. Schach ist zudem auch ein Spiel, das Gefühle ausschließt und das nur die Ratio anregt.

Zurück zu den beiden Wisenschaftlern, beide erkennen, dass sie, was die Nähe und die Distanz betrifft, wie zwei Analphabeten sich geben, zwei Analphabeten der Vertrautheit und der Fremdheit.

Hier mache ich nun Schluss  Die Erzählung endet in mehrfacher Weise tragisch, möchte aber alles Weitere zum Selberlesen offen lassen. Auch gibt es noch verschiedene und spannende andere Szenen durch einen anderen Musikleherer, zu dem Lea eine ähnliche tiefe Beziehung aufbaut, wie einst zu ihrer Marie.

Das Buch hat mir recht gut gefallen, so dass ich neugierig geworden bin, weitere Bücher von dem Autor zu lesen. Ein Buch, Nachtzug nach Lissabon, steht noch ungelesen im Regal.

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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

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