Mittwoch, 2. Januar 2013

Carlos Ruiz Zafón / Der Schatten des Windes (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Die junge Frau Clara, die blind ist, hat durch ein einziges Buch ihr Wesen verändern können. Ich zitiere:

Dieser Roman hat mich gelehrt, dass ich durch Lesen mehr und intensiver leben, dass Lesen mir das verlorene Sehen wiedergeben konnte. Allein deshalb hat mir dieses Buch, das keinem etwas bedeutete, mein Leben verändert.

Der Roman hieß Das rote Haus und wurde von Julián Carax geschrieben  Das Buch schrieb nur eine sehr geringe Verkaufsquote, weshalb nur wenige Bände im Umlauf waren. Von Carax ist auch Der Schatten des Windes geschrieben worden, das sich nun in den Händen eines zehnjährigen Jungen befindet.

Carax verbrennt Bücher, hauptsächlich seine, als wolle er alles Leben darin vernichten... . Ein Leben, in dem er und seine Geliebte betrogen worden sind... .

Bis auf den letzten hundert Seiten war ich mit Rätselraten beschäftigt, und glaubte, dass eine bestimmte Romanfigur aus Der Schatten des Windes sich verselbständigt und sich aus dem Buch geschlichen hat. Eine ominöse Figur mit einer Lederhaut, eine durch schwere Verbrennungen erworbene Lederhaut, die besessen ist, das letzte Buch, das es noch von ihm gibt, an sich zu reißen, um es zu verbrennen.  Ich tippte auf Carax selbst. Daniel Sempere, die Hauptfigur dieses Romans, gehörte einst dieses letzte Buch, das er an Clara weitergeschenkt hatte, und diese an ihren Musiklehrer. Ursprünglich hatte Daniel seinem Vater versprochen, das Buch keinem anderen Menschen weiterzureichen, nicht mal für viel Geld, er sollte stattdessen das Buch adoptieren. Er hatte es sich aus der Galerie selbst ausgesucht. Das Buch stammt aus dem Friedhof vergessener Bücher. An diesem Ort, wo die Bücher nach Verwesung,  nach dem Tod riechen, nach Verlassenheit, Bücher, die in Vergessenheit geraten sind, da sie verwaist sind, herrenlos sozusagen,  und Daniel durfte sich ein Buch aussuchen und für es sorgen, es neu beseelen, nachdem er an diesem Ort eingeweiht wurde:

Was du hier siehst, Daniel, ist ein geheimer Ort, ein Mysterium. Jedes einzelne Buch hat eine Seele. Die Seele ist dessen, der es geschrieben hat, und die Seelen derer, die es gelesen und erlebt und von ihm geträumt haben. Jedes Mal, wenn ein Buch in andere Hände gelangt, jedes Mal, wenn jemand den Blick über die Seiten gleiten lässt, wächst sein Geist und wird stark.

Dieses Zitat hat mir sehr, sehr gefallen. Ich selbst hatte schon wiederholte Male den Eindruck gehabt, dass manche Bücher beseelt seien. Man kann es nicht erklären, wie sich so etwas anfühlt, es ist ein Gespür. Es ist, als würde das Buch zur Leserin sprechen... .

Daniel befindet sich in Gesellschaft von Clara, und Clara ist die Tochter eines Buchhändlers. Clara hat selbst jede Menge Erfahrungen mit Büchern gesammelt, da der Vater eine Bibliothek von etwa vierzehntausend Bänden besitzt. Clara tauscht sich mit Daniel aus, teilt ihm ihre Erfahrungen mit den Büchern mit:

Dieser Roman hat mich gelehrt, dass ich durch Lesen mehr und intensiv erleben, dass Lesen mir das verlorene Sehen wiedergeben konnte. Allein deshalb hat dieses Buch, das keinem etwas bedeutete, mein Leben verändert.

Neben mehrere verzwickte Liebesgeschichten beinhaltet das Buch auch starke, politische Anteile, zum Teil aus dem Bürgerkrieg, aus der Franco-Regierung, und den zweiten Weltkrieg bis 1945. Korruption im Militär und Polizei. In dem Kampf zwischen Gut und Böse fiel ein Zitat, das mir auch gut gefallen hat:

Sündigen Menschen die Seele mit Salmiak putzen, *lol*. 

Also, manchmal muss man einfach Geduld haben mit den Büchern. Ich war wohl auf der richtigen Spur. Erstens: Daniel entdeckt immer mehr Parallelen in seinem Leben, die mit Carax identisch sind.
Zweitens: Es ist tatsächlich so, dass Carax aus den Seiten seines geschriebenen Buches entwicht ist. Und es gibt noch andere, echte Personen, die als eine Romanfigur im Der Schatten des Windes existierten. Doch Carax selbst sagt von sich, dass alle Figuren aus Der Schatte des Windes Teile von ihm selbst seien. Jede Figur sei er selbst.

Das Leben im Der Schatten des Windes verlangt nach einer Auflösung, zu dem es durch widrige Umständen und Intrigen
nicht kommen konnte. Erst Daniel, der sich zu dem Buch hingezogen fühlt, setzt die Geschichte fort, lebt den Inhalt des Romans weiter, er lebt den Roman zu Ende, ohne dass er es selbst weiß. Daniel beendet sozusagen das, was in Carax´ Leben in dem Buch noch offen geblieben ist. Daniel gerät dadurch in einen tiefen Strudel von ernsthaften  existentiellen Gefahren und Intrigen... . Gefahren mit der korrupten Polizei, Intrigen mit der Liebe.

Ich hatte mich gefragt, ob Daniel selber eine Figur aus dem Buch ist, nur dass er davon selbst nichts weiß????? Meine Antwort erhielt ich zum Ende hin; Ja, sie ist es. Julián und Daniel lernen sich kennen, und das Buch wurde erst später zu Ende geschrieben, als sich alle Wogen geglätten haben. Daniel, Bea u.a.m. gehören mit zu diesen Literaturfiguren, und alle hatten ihre Aufgaben und Lebensprüfungen zu bestehen... . Alle diese Figuren, gute oder böse, waren wie ein Band miteinander verknüpft.

Bücher sind Spiegel: Man sieht in ihnen nur, was man schon in sich hat.

Dieses ZITAT bestätigt meine Theorie. Ich bin der selben Ansicht. Deswegen schreibe ich viel lieber über die Eindrücke meiner gelesenen Bücher, statt Rezis, in denen es hauptsächlich um Fakten geht. Denn die Eindrücke sind meine, die die Bücher aus meinem Inneren hervorholen.
Und ein Spiegel war das Buch auch für Daniel, der quasi in Julián Carax´Fußstapfen getreten ist, und sein unvollständiges Leben fortgesetzt hat.

Penélope ist ein junges Mädchen, die den ganzen Tag nur BÜCHER liest. Menschen, die viel lesen, wurden als Faulpelze bezeichnet, die nichts tun würden... . Solche Leute gibt es heute immer noch... .
Und es gibt einen Sigmund Freud - Anhänger, der seine Kameraden psychoanalytisch unter die Lupe nimmt und immer richtig lag mit seinen Charakterisierungen. Penelope büßte ein tragisches Ende, da sie durch Julián, ihren Geliebten, beim Koitus erwischt wurde. Für Julián, der seine Penelope nicht vergessen kann, beginnt ein schweres Leben. Erst sechzehn Jahre später erfährt er von ihrem Tod durch den Vater... . Eine tragische Geschichte  aber nicht nur zwischen diesen beiden jungen Menschen.

Daniel besucht mit seinem Freund Fermin zusammen ein Seniorenheim, um bei der damaligen Kinderfrau von Penelope gewisse Dinge auszukundschaften, was die Romanfigur Julian Carax betrifft. Er weiß noch nicht, dass Penelope nicht mehr lebt und ist auf Spurensuche. Erkenntnisse zu alten Menschen:

Das Alter lässt die Menschen alle lammfromm aussehen, aber hier gibt es ebenso viele Schweinehunde wie draußen, wenn nicht noch mehr. Die da gehören nämlich zu denen, die überlebt und die anderen ins Grab gebracht haben.
Der letzte Satz des obigen Zitats hat mich recht nachdenklich gestimmt, weshalb ich ihn aufschreiben musste.

Das Buch beinhaltet eine Fülle an Geschichten. Größtenteils dramatische Geschichten. Die vielen Details der vielen Figuren halte ich für eine geistige Herausforderung, positiver Art.

Das Buch war nicht ganz leicht zu lesen. Vorhandene komplizierte und komplexe Strukturen in den Figuren und im Alltag des Romans. Durch die vielen erzählten Geschichten musste man immer wachsam sein und sich die Figuren merken, die man hauptsächlich nur aus den Erzählungen kannte... .  Jede Menge Ecken und Kanten, und gerade das ist es, was die Lektüre lesenswert gemacht hat. Der Autor hat sich wirklich viel einfallen lassen..


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„Musik ist eine Weltsprache“
         (Isabel Allende)

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