Freitag, 21. September 2012

Michael Cunningham / Die Stunden (1)

Eine Buchbesprechung der o. g. Lektüre 
Ich habe das Buch gestern Abend zielgerecht durch bekommen. Für mich hat es sich wie eine Biografie gelesen, war mir aber erst nicht wirklich sicher darüber. Aufgrund diverser Recherchen im Internet konnte ich auf einer anderen Literaturseite entnehmen, dass das Buch eine Hommage sein sollte.
Das ist es sicher auch, aber eine Antwort auf meine Frage war es noch nicht.

Aber darauf komme ich später nochmals zu sprechen und möchte eher auf diesen Leseprozess eingehen, weshalb mich dieser Gedanke einer möglichen Biografie bis zum Schluss nicht mehr loslassen konnte.


Virginia Woolf hatte Stimmen gehört und stark darunter gelitten. Damit beginnt das Buch schon mal. Ihr Mann heißt Leonard, im Buch ebenso.

Und auf dem Cover ist Virginia Woolf abgebildet, da muss sich der Autor etwas dabei gedacht haben... . Viele Indizien, die mich darauf haben schließen lassen...

Mir ist dabei wieder Hemingway eingefallen, der gesagt haben soll:
"Alle guten Bücher haben eines gemeinsam: Sie sind wahrheitsgetreuer, als wenn es wirklich passiert wäre, und nachdem man eines gelesen hat, hat man das Gefühl, dass das alles passiert ist, und dann besitzt man es für alle Zeit: das Glück und das Unglück, das Gute und das Böse, die Ekstase und den Kummer, das Essen, den Wein, die Betten, die Menschen und das Wetter.(...) Sein Ziel hat man erreicht, wenn das Verhältnis zehn zu eins ist - d.h., wenn das, was man geschrieben hat, zehn mal wahrer und möglicher ist als die ursprüngliche Wirklichkeit, aus der man geschöpft hat."
  • Typisch für V. W. behandelten Themen z.B. waren, wie die Frau sich von der Sklaverei lösen kann, gefangen in Ehe und Kinderkriegen und Erziehung.
  • Innere Widersprüche ertragen, einerseits gerne eine Ehe eingehen wollen, aber andererseits die Unabhängigkeit wahren wollen, was oft in der Rolle als Frau, Ehefrau und Mutter sich schlecht vereinbaren lässt. Deutlich wird das bei Laura Brown.
  • Wenn Frau sich mehr für die Unabhängigkeit innerhalb der Familie einsetzt, dann muss sie mit starken Schuldgefühlen und innerer Zerrissenheit kämpfen. In allen diesen drei Frauen spiegelt sich in Teilen Virginia Woolf wieder, denn in all diesen Themen war sie ein Leben lang beschäftigt, nicht zu vergessen der Umgang mit der psychischen Erkrankung. Und der Umgang mit Leonard, von dem sie sich in übertriebenem Maße behütet gefühlt hat.
Die Sperlinge vor dem Fenster Virginias haben griechisch gesungen. Aus den Wänden dringen Stimmen, die ihr ins Gewissen reden. Das sind typische Symptome einer akustischen Halluzination. Und nur Menschen, die das aus dem eigenen Erleben heraus kennen, können darüber schreiben. Aber in dem Roman ist es ja nicht nur Virginia, die über akustische Phänomene klagt, nein, auch Clarissas Mann Richard. Demnach sind diese Leiden, die Virginia kannte, im Buch auf mehrere Personen verteilt.

Was die drei Frauen gemeinsam haben, meine Hypothese, zählt man alle drei zusammen, so ergeben sie für mich eine Virginia. Sie alle streben nach Unabhängigkeit, möchten sich emanzipieren, vor allem Laura ist bemüht, ein Mutter-Ich zu entwickelt, und eine gute Hausfrau zu sein, und gleichzeitig sehnt sie sich nach mehr Souveränität, nach mehr Zeit für sich selbst. Sie gerät in Selbstzweifeln, als sie das Buch Mrs. Dalloway liest, und ihr die Augen über ihre Frauenrolle aufzugehen scheinen. Sie bewundert ihren Mann, der, wenn er von der Arbeit kommt, sich an den gedeckten Tisch setzen kann und eine wohlwollende Wohnstruktur auffindet, wofür er nicht einen Finger gerührt hat. Er wird für seine Arbeit bezahlt, und wird zusätzlich von seiner Frau belohnt, die den Haushalt u.a.m. führt, für den sie keine Anerkennung in materieller Form erhält.


Alle drei Frauen führen ein unterschiedliches Leben, und haben trotzdem einiges gemeinsam. Die immer währende Suche nach sich selbst, im Widerspruch zur Rolle, die die Gesellschaft von ihnen erwartet.

Wenn man bedenkt, dass es viele Frauen gibt, die einfach stolz sind, Mutter zu sein, kann man das von diesen drei Damen nicht wirklich behaupten. Ich identifiziere mich vom Denkinhalt her mit diesen drei Damen, vor allem mit Clarissa, zweiundfünfzig Jahre alt und Mutter einer erwachsenen Tochter namens Julia.

Laura, schwanger und Mutter eines dreijährigen  Sohnes, fand ich klasse, dass sie den Mut hatte, den Geburtstag ihres Mannes einfach sausen zu lassen, indem sie sich einfach für vierundzwanzig Stunden. in ein Hotel einquartiert, um ganz für sich zu sein. Einen Raum ganz für sich alleine, auch um weiter in ihrem Buch Mrs. Delloway zu lesen, ohne gestört oder an ihren Pflichten erinnert zu werden.
Ich muss sagen, dass der Autor in dem Buch viele Bücher von Virginia Woolf reingepackt hat. Laura passt zu dem Buch "Ein Zimmer für sich allein" oder so ähnlich lautend. Das Zimmer ist ein Symbol für Unabhängigkeit und eigene Freiräume  und steht für Autonomie.

Laura konnte leider nicht durchhalten und hat den Geburtstag ihres Mannen mit zusammengebissenen Zähnen gefeiert.. Ähnlich wie Virginia, so ist auch sie von Schuldgefühlen und von massiven Versagensängsten geplagt, ob sie eine gute Mutter, Ehe- und Hausfrau werden könne. Macht sich viele Gedanken über die Geburtstagsvorbereitung via geglückte Geburtstagstorte versus missglückte Geburtstagstorte ...

Versagensängste, wie ich eingangs schon geschrieben habe, hatte Virginia weiterhin, die ihre Schreibfähigkeit als zu unperfekt empfindet.Clarissa ist diejenige, die sich viel über das Alter einer Frau  Gedanken macht, ob sie noch wertvoll genug sei, wenn die Schönheit später verwelkt und stellt dabei viele Vergleiche an gegenüber jüngerer Frauen... . Und sie macht sich viele Gedanken über den Tod, impliziert damit auch die Suche nach dem Sinn im Leben:
Wir führen unser Leben, verrichten unsere Tätigkeiten, und dann schlafen wir - so einfach und so gewöhnlich ist das. Ein paar springen aus dem Fenster, ertränken sich oder nehmen Tabletten; ein paar mehr sterben bei Unfällen; und die meisten von uns, die breite Masse, werden langsam von irgendeiner Krankheit verzehrt, oder, wenn wir großes Glück haben, vom Zahn der Zeit. Und es gibt diesen einen Trost: Eine Stunde hie und da, in der es uns wider aller Wahrscheinlichkeit und Erwartung so vorkommt, als schäume unser Leben über und schenke uns alles, was wir uns vorgestellt haben, obgleich jeder,  (…) weiß, dass auf diese Stunden unausweichlich andere folgen werden, die weitaus dunkler sind und schwerer. Dennoch ergötzen wir uns an der Stadt, dem Morgen; wir erhoffen uns, vor allem anderen, mir davon.
Weiß der Himmel, wieso wir das Leben so lieben.
 Diese Textstelle hat mich besonders angesprochen, weil auch mir fast täglich solche Gedanken durch den Kopf gehen. Was ist es, was uns am Leben hält, trotz der vielen Widrigkeiten?

Und nun zum Schluss, den Faden wieder hervorgeholt, ob das Buch als Biografie durchgehen kann oder nicht, so bediene ich mich eines Zitates des Autors, der mir im Schlusswort auf der letzten Seite diese Frage beantwortet hat:

Zitat des Autors:

"Virginia Woolf, Leonhard Woolf, Vanessa Bell, Nelly Boxsaal und andere Menschen, die einst tatsächlich gelebt haben, treten in diesem Buch zwar als Romanfiguren auf, doch habe ich versucht, die Ereignisse, wie sie sich an einem von mir frei erfundenen Tag im Jahr 1923 zugetragen haben könnten, so wahrheitsgetreu wie möglich wiederzugeben. Ich war dabei auf zahlreiche Quellen angewiesen, allen voran zwei hervorragende, ausgewogene und aufschlussreiche Biografien (…)."

Nichts anderes hat auch Tolstoi, Fallada und Hemingway gemacht, aus dessen (Auto) Biografie ich viel gelernt habe. Sie packen in Erfundenes biografisches Material hinein, demnach war es gut, bei meiner Meinung geblieben zu sein, dass das Buch biografisch gelesen werden kann. 

 
Ich freue mich sehr über dieses Ergebnis und ich kann jedem empfehlen, den eigenen Gedanken  und den eigenen literarischen Beobachtungen zu vertrauen..., ganz gleich, was andere LeserInnen für eine Meinung haben!
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„Die rechte Vernunft liegt im Herzen“ (Theodor Fontane)


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