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Sonntag, 9. Oktober 2016

Ajahn Brahm / Öffne die Tür zu deinem Herzen (1)


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Auch in diesem Buch haben mir nicht alle Kapitel gefallen, so bin ich erst auf den späteren Seiten zu Themen gestoßen, mit denen ich mehr anzufangen wusste. Die ersten Kapitel über die Einübung der Atemmeditation haben mich nicht wirklich angesprochen und auch nicht überzeugt. Der Autor verfügt über diese Technik, eingeübt über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Dazu wurde er noch von einem professionellen buddhistischen Lehrer instruiert. Nur mit einem Buch als Anleitung wird diese Atemmeditation aus meiner Sicht schwer zu erlernen sein, auch, wenn sie sehr einfach klingt.

In den späteren Kapiteln fand ich Themen, die wieder sehr alltagsnah waren.

Einige Techniken kannte ich aus meiner eigenen Berufspraxis, aus dem Bereich der Psychiatrie, aus der systemischen Therapieform. Einige Formen der Visualisierungen sind mir dadurch vertraut.

Ich habe wieder ein paar schöne Zitate angestrichen, die ich herausgeschrieben habe.

In der systemischen Therapieform spricht man von Achtsamkeit, doch der Autor geht hier weiter, er spricht von der liebenden Achtsamkeit. Er macht in seinen Geschichten deutlich, weshalb er von der liebenden Achtsamkeit spricht und nicht nur von der Achtsamkeit. Die liebende Achtsamkeit ist wesentlich sanfter, als nur die Achtsamkeit selbst.
Dazu gibt es im Buch verschiedene Visualisierungen; Meditationstechniken, die leichter umzusetzen sind, als die Atemmeditation, bei der man wesentlich mehr Geduld aufbringen müsste.

Gefallen hat mir, sich nicht an Störungen zu stören.
Zu den lästigen Geräuschkulissen antwortet der buddhistische Lehrer:
Es ist nicht der Krach, der euch stört. Vielmehr stört ihr euch an dem Krach. (2016, 104)
Ebenso mit körperlichen Beschwerden:
Es sind nicht die Schmerzen, die stören, sondern Sie stören sich an den Schmerzen. (ebd)
Auch das Kapitel Reue hat mir sehr gut gefallen. Leben wir doch in einer Leistungsgesellschaft, in der man nach Perfektion strebt, und Schwächen und Fehler partout nicht erlaubt sind, so kann man mit Hilfe der liebevollen Achtsamkeit lernen, sich auch mit Fehlern anzunehmen und zu lieben, ebenso mehr Toleranz auch anderen Menschen gegenüber einzuüben.
Jeder macht Fehler.

Denn nicht die Menschen sind weise, die nie einen Fehler machen. Weise ist viel mehr, wer sich vergibt und aus seinen Fehlern lernt. (108)
Interessant fand ich auch das Kapitel was zu vermeiden ist. Es ist der nörgelnde Geist. Es gibt Menschen, die dermaßen frustriert sind von ihrem Leben, dadurch, weil sie immer nur den Mangel sehen.
Meiner Erfahrung nach geht es bei jeder Übung in liebevoller Achtsamkeit zu etwa neunzig Prozent darum, den nörgelnden Geist verstehen zu lernen. Dazu gehört, dass man erkennt, wo er herkommt, wie man ihn verhindert und einen positiven Geist herausbildet - also die neunhundertachtundneunzig guten Backsteine in der Mauer sieht, die man errichtet hat und nicht die einzigen zwei mangelhaften. Statt an den Menschen herumzumäkeln, versuchen Sie lieber, sie - und auch sich selbst - zu verstehen; verzeihen Sie und praktizieren Sie liebevolle Güte,
 denn die ...
... Liebevolle Güte zu praktizieren heißt, sich selbst schlicht als eine Person zu betrachten, die auf dem Weg ist, als ein armes kleines Wesen, das schon viel gelitten hat und jetzt nicht mehr leiden möchte. Sobald sie Frieden mit Ihrem Leid geschlossenen haben, werden Sie feststellen, dass die zwanghafte Nörgelei nachzulassen beginnt. (147)
Dazu stellt der Autor verschiedene Visualisierungsübungen zur Verfügung.

Aber was versteht denn nun der Autor diesbezüglich unter Weisheit?
Beim Praktizieren liebevoller Achtsamkeit vergessen Sie bitte nie, was der Weisheit entspricht. Alles, was zu Wohlbefinden, Ruhe, Glücksgefühlen, Friedfertigkeit, Zärtlichkeit und Freiheit führt, ist eine Übung der Weisheit. Entsteht jedoch Negatives, sind Sie auf dem Holzweg und üben sich nicht in Weisheit. Forschen Sie also - finden Sie heraus, welcher Weg der falsche ist, und meiden sie ihn künftig; betrachten Sie ihn als Schlange, der es auszuweichen gilt. Sollten Sie sich im jetzigen Augenblick auf dem Holzweg befinden, seien Sie einfach geduldig und still; das bleibt nicht lange so. Statt zu versuchen, Ihren Geist mit Feindschaft, Nörgelei, Schuldgefühlen, Bestrafung und Angst zu disziplinieren, versuchen Sie es wieder mit etwas viel Stärkerem: mit der schönen Güte, Sanftheit und Versöhnlichkeit eines Friedensabkommens mit dem Leben - oder kurz gesagt: mit liebevoller Achtsamkeit. Je länger Sie leben und sich darin üben, desto reiner wird ihr Herz. (153f)

Mein Fazit?

Weil der Weltfrieden immer erst bei sich selbst beginnt ...

Diese oben genannten Theorien klingen alle sehr einfach, aber das Arbeiten an sich selbst ist ein lebenslanger Akt. Je früher man damit beginnt, desto weiser wird der Mensch. Aber es ist nie zu spät. Man kann sofort mit einer anderen, gesünderen Geisteshaltung beginnen, unabhängig davon, wie alt man ist. Die Übungen in dem Buch helfen, zu einem zufriedeneren Leben zu gelangen. Es gibt viele ältere Menschen, die zwar viele Jahre ihres Lebens angehäuft haben, allerdings ohne wirklich weise geworden zu sein. Sie fühlen sich vom Leben vernachlässigt und hören nicht auf, sich selbst zu bedauern. Und es gibt andersherum viele junge Menschen, die mit ihren wenigen Jahren wiederum sehr weise sind. Neben so viel Schlechtem, das es tatsächlich auch in der Welt gibt, sind sie trotzdem in der Lage, auch das Gute zu betrachten.

Das Buch erhält von mir neun von zehn Punkten.

Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich beim Lotos-Bücherverlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar bedanken.

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Gebundenes Buch mit Schutzumschlag  
ISBN: 978-3-7787-8268-2
NEU
Erschienen: 29.08.2016 
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Samstag, 1. Oktober 2016

Peter Wohlleben / Das Seelenleben der Tiere (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Ich habe das Buch gelesen und es hat mir sehr gut gefallen. Ich habe mir viele Textstellen markiert, um sie in meiner Buchbesprechung festzuhalten. Dass Tiere sehr wohl fühlende und intelligente Wesen sind, zeigt der Autor an vielen verschiedenen eigenen Beobachtungen und an mehreren Studien. Viele Menschen in meinem Umfeld, vor allem die, die sehr gerne Fleisch konsumieren, möchten das gar nicht wissen. Viele würden auch solche Bücher erst gar nicht mal lesen. Vielleicht könnte ich durch diese vielen Zitate ein wenig Anreize schaffen, sodass vielleicht doch noch ein paar LeserInnen bereit wären, das Buch zu lesen, um den Tieren gegenüber eine gerechtere Haltung einzuüben.
Viele Untersuchungen wurden auch an Schweinen vorgenommen, speziell an Wildschweinen und es stellte sich heraus, dass sie sehr intelligente Geschöpfe sind.
Wenn die Forschung so viel über die Intelligenz von Schweinen weiß, warum setzt sich dieses Bild schlauer Borstentiere nicht in der Öffentlichkeit durch? Ich vermute, es hängt mit der Verwendung von Schweinefleisch zusammen. Wenn jedem klar wäre, was für ein Wesen er da auf dem Teller hat, dann würde vielen der Appetit vergehen. (2016, 43)
Man hat mit den Schweinen weitere Experimente durchgeführt, inwieweit sie fähig seien, sich Manieren, die man ihnen beibringt, anzueignen und ob sie auf Namen reagieren?
Hier übten sie mit kleinen Schulklassen von acht bis zehn Jährlingen einen individuellen Namen ein. Besonders gut konnten sich die Jungspunde dreisilbige weibliche Namen merken. Nach dem einwöchigen Training kamen die Tiere wieder in eine größere Gruppe in den Stall zurück, und nun wurde es bei der Futterausgabe spannend: Jedes Tier wurde einzeln aufgerufen, wenn es an der Reihe war. Und tatsächlich: Es funktionierte! Sobald etwa Brunhilde aus dem Lautsprecher ertönte, sprang nur das aufgerufene Tier auf und rannte zum Trog, während alle anderen weiter ihrer aktuellen Beschäftigung nachgingen, was bei etlichen einfach nur Dösen bedeutete. Die gemessene Herzfrequenz der übrigen Schweine erhöhte sich nicht, nur das gerufene Tier zeigte eine gesteigerte Pulsrate. Eine immerhin neunzigprozentige Trefferquote erzielte dieses neue System, das Ordnung und Ruhe in die Ställe bringen kann.  (101)
Auf Seite 102 berichtet der Autor von einer Studie, die an Affen durchgeführt wurde. Die Studie nannte man Spiegeltest. Die Affen bekamen auf der Stirn einen Farbfleck aufgemalt und als sie sich in dem Spiegel erblickten, haben die Affen sich den Farbfleck von der Stirn wieder weggemacht.
Den selben Test hat man mit den Schweinen durchgeführt, mit demselben Ergebnis, allerdings waren das keine Schweine aus dem Schweinemastbetrieb.
Schweine verstehen den Spiegel (…) nicht nur für das Betrachten ihrer eigenen Körper zu nutzen. Donalds M. Broom und sein Team von der University of Cambridge versteckten Futter hinter einer Absperrung. Danach wurden Schweine so positioniert, dass sie das Futter nur in einem von ihnen aufgestellten Spiegel sehen konnten. Sieben von acht Schweinen verstanden bereits nach wenigen Sekunden, dass sie sich umdrehen und hinter die Absperrung mussten, um an den Leckerbissen zu gelangen. Dazu mussten sie nicht nur sich selbst im Spiegel erkennen, sondern sich auch Gedanken über räumliche Zusammenhänge ihrer Umgebung und ihres eigenen Platzes darin machen. (103)
Und die Frage, ob Tiere überhaupt empfindsame Wesen seien und zu tieferen Gefühlen fähig sein könnten, wurde deutlich bejaht. Nicht nur dies. Tiere sind sehr wohl auch in der Lage, bei einem Todesverlust tiefe Trauer zu empfinden. Dazu ein Zitat aus dem Leben von Wildtieren:
Manchmal passiert etwas Schlimmes für die Leitkuh: Ihr Kalb stirbt. Früher lag die Ursache dafür meist in einer Krankheit oder einem Wolf, der seinen Hunger stillte, heute ist es jedoch oft ein Schuss aus der Büchse eines Jägers. Für Hirsche setzt dann derselbe Prozess ein wie bei uns Menschen. Es herrscht ungläubige Verwirrung, dann setzt Trauer ein. Trauer? Können Hirsche so etwas überhaupt empfinden? Sie können nicht nur, sondern sie müssen es sogar: Trauer hilft, Abschied zu nehmen. Die Bindung von Hirschkuh zu Kalb ist so intensiv, dass sie nicht von einer zur anderen Sekunde aufgelöst werden kann. Die Hirschkuh muss erst langsam verstehen lernen, dass Ihr Kind tot ist und dass sie sich von dem kleinen Leichnam lösen muss. Immer wieder kehrt sie zum Ort des Geschehens zurück und ruft nach ihm, selbst wenn das Kalb schon vom Jäger wegtransportiert wurde. (107)
Im umgekehrten Fall, wenn die Leitkuh stirbt, und das Kalb zurückbleibt, kann das verwaiste Kalb ohne die Mutter nicht überleben. Es wird auch vom Rudel nicht aufgenommen und bleibt sich selbst überlassen. Ohne die Mutter habe das Kleine kaum Überlebenschance.

Die Menschen haben tiefes Mitgefühl für Menschenkinder, wenn ihnen ein ähnliches Schicksal ereilt. Warum aber, so frage ich mich, sind viele Menschen nicht in der Lage, dieses Mitgefühl auch für Tiere aufzubringen?
Der Autor geht zudem auch der Frage nach, inwieweit Tiere Mitgefühl für andere Lebewesen entwickeln können? Dazu folgendes Zitat:
Ein besonders führendes Beispiel, dass (…) Tiere zu solch artübergreifendem Mitgefühl fähig sind, kommt aus dem Budapester Zoo. Dort filmte ein Besucher Aleksander Medves einen Braunbär in seinem Gehege, als in den Wassergraben plötzlich eine Krähe fällt. Diese strampelt entkräftet und droht zu ertrinken, als der Bär eingreift. Er nimmt vorsichtig ein Flügel ins Maul und zieht die Krähe wieder an Land. Dort bleibt der Vogel wie erstarrt liegen, ehe er sich wieder berappelt. Der Bär beachtet diesen Frischfleischhappen, der ja durchaus zu seinem Beuteschema gehört, nicht mehr weiter, sondern wendet sich wieder dem Futter Gemüse zu. Zufall? Warum sollte der Bär so etwas machen, wenn offensichtlich weder der Fress- noch der Spieltrieb zum Zuge kam?
Vielleicht hilft neben der direkten Beobachtung auch Einblick in das Gehirn bei der Beantwortung der Frage, ob bei einer Art Mitgefühl möglich ist.  Dazu untersucht man, ob Spiegelneuronen vorhanden sind. Dieser spezielle Zelltyp wurde 1992 entdeckt und zeigt eine Besonderheit: Normale Nervenzellen feuern immer dann elektrische Impulse, wenn der eigene Körper bestimmte Aktivitäten ausführt. Spiegelneuronen hingegen werden aktiv, wenn ein Gegenüber die entsprechenden Handlungen vollführt, reagieren also genau so, als ob der eigene Körper betroffen wäre. Ein Klassiker ist das Gähnen: Wenn Ihr Partner dazu den Mund aufmacht, stellt sich bei ihnen auch das Bedürfnis danach ein. (119f)

Dazu die Haltung des Autors:
Mein Wunsch ist es vielmehr, dass ein wenig mehr Respekt im Umgang mit unserer beliebten Mitwelt einkehren möge, seien es Tiere oder auch Pflanzen. Das muss keinen Verzicht auf eine Nutzung bedeuten, wohl aber gewisse Einschränkungen und zum Komfort und auch der Menge der biologischen Güter, die wir konsumieren. Wenn das Ganze aber belohnt wird mit fröhlicheren Pferden, Ziegen, Hühnern und Schweinen, wenn wir dafür zufriedene Hirsche, Marder oder Rabenvögel beobachten können, wenn wir Letztere gar eines Tages dabei belauschen, wie sie ihren Namen rufen - dann werden in unserem Zentralnervensystem Hormone ausgeschüttet und verbreiten ein Gefühl, gegen das Sie sich gar nicht wehren können: Glück! (229)
Ich selbst bin der Meinung, wenn Menschen diese Glücksgefühle für Tiere aufbringen können, verspüren sie ganz von selbst keine Lust mehr, Tiere für sich, für den eigenen Gaumen, töten zu lassen.


Mein Fazit zu dem Buch?

Mir ist bewusst, wie viele Millionen Tiere weltweit tagtäglich getötet werden und dadurch so viel Blut auf unserem Planeten vergossen wird, so hat mir dieses Buch ein wenig Hoffnung gemacht. Ich wünsche mir sehr, dass es viele LeserInnen finden wird.
Man wird sehr zum Nachdenken angeregt, wobei mir andererseits Vieles schon bewusst gewesen ist. Meine Hypothesen konnte ich in dem Buch bestätigt finden.
Ein Buch, das die Welt ein bisschen besser machen kann. Ein besseres Zusammenleben für Tier und Mensch.

Zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch

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(* empf. VK-Preis) 
Gebundenes Buch mit SchutzumschlagI
SBN: 978-3-453-28082-3
Erschienen: 13.06.2016

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Mittwoch, 21. September 2016

Sigrid Damm / Cornelia Goethe (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Eine nach meinem Geschmack sehr gelungene Biografie zu der Schwester von Johann Wolfgang von Goethe. Die Autorin Sigrid Damm hat ziemlich gut recherchiert. Obwohl einige Zeugnisse aus verschiedenen Gründen vernichtet wurden, fand ich die Biografie im Ganzen rund. Sehr flüssig geschrieben und die Lücken fallen kaum auf. Ein Buch, das ich jeder Frau empfehlen kann, aber auch jedem Mann, dem das intellektuelle Wohl einer Frau am Herzen liegt.

Johann Wolfgang von Goethe und andere berühmte deutsche Dichter jener Zeit wie zum Beispiel Friedrich Schiller waren nicht um das geistige Wohl ihrer Frauen interessiert. Auch der österreichische Komponist Johann Amadeus Mozart sah auf seine intellektuelle Schwester herab ... Weiteres ist dem Buch zu entnehmen.

Kurz ein paar Zeilen zu dem Senior Johann Caspar Goethe, der sich seinen Kindern gegenüber wie ein Despot verhielt.

Er studierte Jura und aufgrund der problematischen politischen Lage hatte er seinen Beruf nicht mehr weiter ausgeübt und setzte sich mit 32 Jahren zur Ruhe. Er bezeichnete sich ab diesem Zeitpunkt als Privatier. Genaueres ist auf der Seite 20 zu entnehmen.

Wie verbringt Senior Goethe seine Zeit? Er hatte genug Hobbys, unterhielt in seinem großen Haus Gesellschaften …  Spannend allerdings fand ich, als er Erzieher und Hauslehrer seiner eigenen Kinder wurde, weil er viel zu viel Zeit zur Verfügung hatte. Ganz zum Leidwesen seiner Sprösslinge. Besonders Johann Wolfgang und Cornelia litten unter seinem strengen Regime.

Cornelia, 1750 geboren, ist ein Jahr jünger als Johann W. Die beiden Kinder verbrachten die meiste Zeit zusammen. Eine enge Geschwisterliebe bildete sich zwischen den beiden heran. Sie verbündeten sich auch gegen den Vater und witzelten hinter seinem Rücken über ihn, z.B., dass die Kinder schlauer seien als er …

Mit drei Jahren schickte der Vater die Kinder auf eine Spielschule in Frankfurt. Aber sie lernten dort nicht spielen, sondern rechnen und schreiben. Auch wurden sie so früh schon mit der ersten Fremdsprache konfrontiert. Der Vater hatte, was die Schulbildung betrifft, Cornelia und den Bruder in der Behandlung gleichgestellt. Das war schon sehr revolutionär. Die Geschwister wurden schließlich dann getrennt, als der Bruder nach Leipzig zum Studieren zog. Cornelia musste zu Hause bleiben, und betrieb weitere Studien über Privatlehrer und über den Vater. Nun musste Cornelia den Vater alleine ertragen ...

Der Vater war so streng, dass Cornelia anfing, ihn mehr zu hassen als zu lieben. Sie vermisste schmerzlich ihren Bruder. Doch der Bruder veränderte sich Cornelia gegenüber und kam ganz nach dem Charakter seines Vaters. Auch J. W. nahm immer mehr herrische Züge an. Er und seine Schwester hielten Briefkontakt und der Bruder schrieb der Schwester im Befehlston vor, wie sie zu schreiben und welche Art von Büchern sie zu lesen habe. Dies schien wie ein Schock für Cornelia gewesen zu sein. Sie genoss zwar eine intensive Bildung, die sie aber leider nicht ausleben konnte. Die Biografin Damm vergleicht Cornelias Leben mit den Leiden des jungen Werthers in weiblicher Form.

Cornelia machte sich Gedanken, wie sie nicht nur dem autoritären Vater entrinnen konnte, sondern auch ihrem Bruder, wobei ihre Gefühle zu J. W. recht ambivalent waren. 
Cornelia vermisst den Bruder. Haben Schwester und Bruder seit der Kindheit in solidarischem Miteinander, in kindlich, heiterer Verschwörungen gegen den Vater gelebt, so ist Cornelia nun allein, kann sich nicht mit dem Bruder aussprechen. Selbst in den Briefen nicht, sie passieren die Zensur des Vaters. (2015, 63)
Die Flucht ging nur über eine Heirat. Da Cornelia aber nicht dem Schönheitsideal entsprach, glaubte sie an keine romantische Liebe, sondern nur an eine Zweckehe. Sie hatte zu wenige Bewerber. Innerlich hatte Cornelia aber ganz andere Träume. Zum Beispiel der Welt mit all ihren Talenten nützlich sein zu wollen.

Auch J. W. von Goethe, der große Dichter und Denker, setzte trotz der gemeinsamen intensiven erlebten Geschwisterliebe später Cornelia herab. Frauen seien nur Schwatzbasen, mit gackernden Hühnern zu vergleichen. Doch auch er entwickelte Cornelia gegenüber zwischen Aufwertung und Abwertung ambivalente Gefühle.

Mehr verrate ich nicht und verweise Weiteres auf das Buch. Es gibt darin noch viel mitzuerleben.

Diese Biografie erhält von mir zehn von zehn Punkten. 

Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich für dieses Leseexemplar beim Suhrkamp/Inselverlag bedanken.

D: 12,00 € 
A: 12,40 €
CH: 17,90 sFr
Erschienen: 07.11.2015
insel taschenbuch 4417, Broschur, 251 Seiten
ISBN: 978-3-458-36117-6
Auch als eBook erhältlich


Auf der Verlagsseite sind von der Autorin Sigrid Damm auch sehr interessante Audiobeiträge zu finden.

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Gelesene Bücher 2016: 52
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Freitag, 16. September 2016

Howard Jacobson / J (1)

Eine kurze Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 


Leider bin ich mit der Geschichte, die der Autor in sein Buch verpflanzt hat, überhaupt nicht zu Rande gekommen. Nach 280 Seiten musste ich es schließlich aufgeben. Die letzten 130 Seiten habe ich nicht mehr geschafft.

Nicht, dass der Inhalt kompliziert wäre. Das nicht mal. Mich hat er nur nicht überzeugen können. 

Mich hat diese Art von Gesellschaft, wie sie in dem Buch beschrieben wird, gelangweilt. Ich habe sie als arg übertrieben erlebt.

Eine Gesellschaft, die aus Inzucht besteht, streng abergläubig ist und versessen auf die Einhaltung von Regeln und Normen ist. Menschen, die eine Partnerschaft aus anderen Ortschaften eingehen, werden von den Familien verstoßen ... 

Die Idee fand ich an sich nicht schlecht. Trotzdem ...

Ich gebe gerne noch einmal den Klappentext rein für Leserinnen und Leser, die sich für diese Thematik interessieren und die gerne ihre eigenen Leseerfahrungen machen möchten, und ich selbst auch dazu einlade, da meine Leseerfahrung einerseits sehr subjektiv ist, bin ich andererseits dennoch bemüht, ein wenig Objektivität in diese Buchbesprechung reinzubringen, da es mich selbst ein wenig traurig stimmt, wenn ich ein Buch abbrechen muss. Schließlich ist das nicht die Schuld des Autors, wenn ich einen anderen Geschmack habe ...


2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
0 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
Die Bewohner Port Reubens leben in scheinbarer Harmonie, sie hören nur noch Schnulzen und lesen kitschige Liebesromane, und nach dem schrecklichen Ereignis, über das nur als »Was geschah, falls es geschah« gesprochen wird, bekamen alle neue Namen. Kevern Cohen misstraut als Einziger dieser »großen Familie« und ihrer freiwilligen Ahnungs- und Meinungslosigkeit. Er ist ein Eigenbrötler, der die Bücher und Jazzplatten seines Vaters aufbewahrt hat und allein in einer Hütte auf den Felsen wohnt. Eines Tages wird ihm Ailinn Solomons vorgestellt, eine schwarzhaarige Schönheit, und die beiden fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Doch Keverns Unbehagen wächst: Ist ihre Liebe wirklich nur aus ihren spontanen Gefühlen genährt, oder haben andere Interesse an ihrer Beziehung? Ist er nur paranoid, oder werden sie tatsächlich überwacht und sind Teil eines allumfassenden, perfekt ausgeklügelten Plans? 
Wenn ich nur nach meinem Lesegeschmack gehen würde, dann würde ich dem Buch nur fünf von zehn Punkten vergeben. 

Und so erhält das Buch nach den obigen Kriterien sieben von zehn Punkten. Ich glaube, dass das fair ist. 

Ach, und übrigens, sollte jemand den Buchtitel suchen, das J auf dem Cover steht nicht für Jacobson. Das J, das dazu noch in der Mitte mit zwei Querbalken versehen ist, ist als Buchtitel gedacht. Aber auch der hat mich nicht so recht überzeugen können. 


Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich beim DVA-Bücherverlag für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar bedanken. 

€ 22,99 [D] inkl. MwSt.
€ 23,70 [A] | CHF 30,90* 

(* empf. VK-Preis) 
DVA-Verlag: Gebundenes Buch mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-421-04688-8

Erschienen: 12.10.2015 

Nachtrag, 18.09.2016
Ich habe auf www.perlentaucher.de noch eine Rezension von der Buchreporterin Anja Hirsch gefunden, die das ausdrückt, was ich auch mit dem Buch erlebt habe. Ich habe es nur nicht so schön beschreiben können. Anja Hirsch rezensiert für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Und hier der Link per Mausklick zu der Rezension.

Aber auf der DVA-Verlagsseite kann Jede/jeder selbst eine Leseprobe entnehmen. Hierzu folgender Link: per Mausklick.

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Gelesene Bücher 2016: 51
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Samstag, 3. September 2016

Oliver Sacks / On the Move: Mein Leben (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Mir hat diese Autobiografie sehr zugesagt. Sie ist so spannend geschrieben, dass ich von einer Seite zur nächsten gehetzt bin, bis ich schlussendlich die letzte Seite erreicht habe. Ich hätte wieder von vorne anfangen sollen, so drin war ich in diesem hektischen Leserhythmus. Dabei war das ja nur eine Autobiografie und kein Krimi.

Auf den ersten zweihundert Seiten erfährt man recht viel Privates von Oliver Sacks. Später ging es hauptsächlich um sein Leben als Arzt und Neurologe. Darin werden viele neurologische und psychiatrische Krankheitsbilder behandelt.

Der Schreibstil ist sehr flüssig, lediglich die vielen Fußnoten sorgen jeweils für ein Staccato. Sie unterbrechen immer wieder diesen Lesefluss.

Bei den Krankheitsbildern werden viele Termini verwendet, die für einen Laien störend sein könnten, allerdings beschreibt Sacks diese Krankheitsbilder so verständlich, dass man trotzdem das Gelesene gut aufnehmen kann. Für Laien ist das ein Plus, für die Fachwelt dagegen eine Last, denn Sacks hatte Mühe, sich bei seinen Kollegen einen Namen als Wissenschaftler zu machen. Sacks hat viele Bücher geschrieben, doch auch ein Verlag hatte erst Mühe, sein erstes Manuskript anzunehmen:
Allerdings gab ein Lektor (…) einen seltsamen Kommentar ab. Er sagte: >>das Buch lässt sich zu leicht lesen. Das macht die Leute misstrauisch-verwissenschaftlichen Sie es.<< (2015,174)
Mit viel Mut konnte sich Sacks schließlich in seiner Fachwelt durchsetzen. Er sammelte jede Menge klinische Erfahrungen, die er literarisch sinnvoll einzusetzen wusste. Nicht nur was der Schreibstil anbetraf, sondern auch seine außergewöhnlichen Ideen, die er in verschiedenen Feldstudien entwickelt hatte, stießen allerdings bei einem seiner Chefs auf Provokation und er drohte ihm, seine Stellung in der Kopfschmerzklinik zu kündigen, sollte er sein Manuskript über die Bauchmigräne nicht zurücknehmen. Sacks ließ es auf eine Kündigung ankommen …

Dann stellte sich heraus, dass der Chefarzt, der ihm gekündigt hatte, Sacks` Ideen abgeschrieben hatte und diese in einem Artikel einer Fachzeitschrift veröffentlichen ließ …

Sacks, 1933 geboren, ist Engländer, lebte aber seit 1960 mit einer Greencard in Amerika. Seine Eltern waren beide Ärzte, die Mutter Chirurgin, der Vater Allgemeinmediziner, der bis ins hohe Alter noch praktiziert hatte. Sacks hatte mehrere Brüder, einer davon, Michael,  litt an einer schwerwiegenden Schizophrenie, mit der die Familie erst lernen musste, umzugehen ... Michael war auch ein sehr begabter Jugendlicher. Er lernte ganze Bücher auswendig, wie z.B. Nicholas Nicleby und David Copperfield. Schwer vorstellbar, so dicke Bücher auswendig lernen zu können. Was für eine geistige Leistung. Aber es ist bekannt, dass Menschen mit dieser Form von psychischer Erkrankung eine immense geistige Leistung hervorbringen können.

Oliver Sacks war auch kein Kind wie jedes andere. Als Jugendlicher hatte er Schwierigkeiten mit der sexuellen Orientierung und dem Vater fiel recht früh auf, dass er an Mädchen nicht interessiert war und konfrontierte den Sohn mit der Frage, ob ihm Jungen lieber seien? Oliver bejahte die Frage und bat den Vater, die Mutter dahingehend nicht einzuweihen.
Doch mein Vater sagte es ihr, und am nächsten Morgen kam sie mit grauenhaft ergrimmter Miene herunter, einer Meine, die ich nie zuvor an ihr gesehen hatte. >>Du bist ein Gräuel<<, sagte sie. >>Ich wünschte, du wärest nie geboren.<< Damit ging sie aus dem Zimmer und sprach mehrere Tage lang kein Wort mit mir. Als sie dann wieder sprach, erwähnte sie mit keinem Ton, was sie gesagt hatte - und kam auch nie wieder auf das Thema zurück; aber seither stand etwas zwischen uns. (19) 
Die Eltern lebten bibelfest und die Mutter las im dritten Buch Mose: >>Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel.<< (ebd).

Die Homosexualität machte Oliver Sacks in England sehr zu schaffen, und lebte über viele Jahre ohne Bindung und sexuell abstinent. Er verreiste schließlich in die Niederlande. Ein Land, in dem jede Form von Sexualität legal war. Sacks machte dort seine ersten sexuellen Erfahrungen. Und trotzdem lebte er später über dreißig Jahre ohne sexuelle Bindung, da er in einer Zeit lebte, in der Homosexualität auch in Amerika noch ein Tabu war. Sein Selbstbewusstsein war diesbezüglich sehr angeschlagen ...

Oliver Sacks wurde auch drogenabhängig. Er litt an einer leichten bis mittelgradigen Polytoxikomanie. Mit den vielen Problemen beruflicher, aber auch sexueller Art wurde er nicht richtig fertig. Bis er eines Tages mit den Drogen eine wichtige Erkenntnis machte. Sacks erlitt eine drogeninduzierte Wahnvorstellung, die ihm zu wichtigen Erkenntnissen verhalf:
Im Februar 1967 hatte ich noch einen Drogenrausch oder -wahn, und er brachte - paradoxerweise und im Gegensatz zu allen vorangegangenen Highs - eine kreative Wende. Er zeigte mir, was ich tun sollte und konnte: ein lesenswertes Buch über Migräne schreiben und danach vielleicht noch andere Bücher verfassen. Es war nicht nur der vage Gedanke an eine Möglichkeit, sondern eine sehr klare, fokussierte Vorstellung von meiner zukünftigen neurologischen Arbeit und schriftstellerischen Tätigkeit, die sich einstellte, als ich high war, dann aber auf Dauer blieb. (169).
Oliver Sacks entwickelte sich zu einem interessanten Geschichtenerzähler und er zeigte jede Menge Schreibtalent narrativer Art. Er schaffte es, seine Erfahrungen als Facharzt in der Neurologie in Prosa zu packen. Seine Patienten fühlten sich von ihm verstanden. Sacks kritisierte die miesen Zustände innerhalb der Krankenhausbehandlung:
Doch auf Station 23 legte man das Prinzip der Verhaltensmodifikation zugrunde und arbeitete mit Belohnung und Bestrafung, besonders mit sogenannten therapeutischen Bestrafungen. Die Art und Weise, wie die Patienten manchmal behandelt wurden, widerstrebt mir zutiefst: man sperrte sie in Isolationszellen, setzte sie auf Hungerdiät oder schnallte sie an. Unter anderem fühlte ich mich an die Behandlung erinnert, die ich und andere Jungen während der Kriegszeit in einem Internat zu erdulden hatten. Häufig waren wir den launischen sadistischen Bestrafungen des Schulleiters ausgesetzt. Ich spürte, dass ich manchmal eine fast hilflose Identifikation mit den Patienten verfügte. (240)
Sacks setzte sich für seine Patienten ein, wie dies auch in dem Film Zeit des Erwachens deutlich wird, macht sich aber dabei bei seinen Kollegen unbeliebt.

Er beklagte, dass die Patienten in den Kliniken im Namen der Wissenschaft missbraucht wurden.

In Europa feierte man zu dieser Zeit die Psychiatrie-Enquete. Italien war das erste Land Europas, das sämtliche Psychiatrien aufgelöst hatte, denn auch in Europa waren psychisch kranke Menschen in ihrer Autonomie stark eingeschränkt und man behandelte sie mit schweren repressiven Mitteln, wenn sie dem Klinikpersonal Schwierigkeiten bereiteten und schwer therapierbar waren. Dabei denke ich auch an den Film: Einer flog über das Kugucksnest.


Mein Fazit zu dem Buch?

Oliver Sacks wäre nur Schriftsteller geworden, wäre da nicht der Beruf als Arzt gewesen. Er bezeichnete sich selbst als Geschichtenerzähler, und nicht als Wissenschaftler. Aber ich finde, er hat es gut geschafft, eine Brücke zwischen beiden Disziplinen zu bauen. Er schrieb für seine Patienten und für alle Menschen, die sich für seine Geschichten interessieren. Und deshalb machen seine sog. unwissenschaftlichen Bücher Sinn. In den Geschichten leiht er den kranken Menschen seine Stimme.

Ich denke dabei auch an die Erzählung über einen Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselt hat.

Ich habe dieses kleine Taschenbuch vor vielen Jahren gelesen, und ich kann es nirgends mehr finden. Als Sacks in seiner Autobiografie immer wieder auf diesen Mann verwies, fiel mir dann diese Geschichte wie Schuppen vor den Augen wieder ein. Ein sehr zu empfehlendes Buch.

Und so unwissenschaftlich wirkt Sacks gar nicht. Er hat viele Krankheiten neu entdeckt und alte neu untersucht, neu analysiert und neu bewertet.

Sollen doch die Zielgruppen weiterhin verschieden bleiben, während bestimmte Ärzte nur für Ärzte schreiben, und andere Ärzte wiederum für ihre Patienten, so wie Sacks dies getan hat. Ist doch ein guter Ausgleich, wenn nicht jeder das Gleiche tut.

Ich vergebe dem Buch zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich beim Rowohlt-Verlag für dieses zur Verfügung gestellte Leseexemplar bedanken.

Verlag: Rowohlt; Auflage: 4 (2. November 2015)
Sprache: Deutsch, 24,95 €
ISBN-10: 3498064339


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"Literatur ist die Kunst, Außergewöhnliches an gewöhnlichen Menschen zu entdecken und darüber mit gewöhnlichen Worten Außergewöhnliches zu sagen."

(Boris Leonidowitsch Pasternak)

Gelesene Bücher 2016: 49
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Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86





Sonntag, 21. August 2016

Benedict Wells / Becks letzter Sommer (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch hat mir recht gut gefallen, aber man merkt, dass es Wells erster Roman ist. Auch von der Struktur her, speziell am Schluss, so hatte ich den Eindruck, konnte er nicht so leicht das Ende finden; vielleicht  hatte er ein Problem, sich von seinen Figuren zu lösen ...

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Beck ist nicht zu beneiden. Mit der Musikerkarriere wurde es nichts, sein sicherer Job als Lehrer ödet ihn an, und sein Liebesleben ist ein Desaster. Da entdeckt er in seiner Klasse ein unglaubliches Musiktalent: Rauli Kantas aus Litauen. Als Manager des rätselhaften Jungen will er es noch mal wissen, doch er ahnt nicht, worauf er sich da einlässt ... Ein tragikomischer Roman über verpasste Chancen und alte Träume, über die Liebe, Bob Dylan und einen Road Trip nach Istanbul. Ein magischer Sommer, in dem noch einmal alles möglich scheint.
Ich bin sehr gut in die Geschichte reingekommen und der junge Wells schafft es wirklich gut, sich mit einfachen Worten interessant auszudrücken.  

Die drei Protagonisten waren aus meiner Sicht schräge Figuren. Der Gymnasiallehrer Robert Beck fällt sehr auf. Ich habe noch nie so einen Lehrer erlebt, der es absolut nicht schafft, die professionelle Distanz zu seinen SchülerInnen zu wahren. Hierbei schlägt der Lehrer stark über die Stränge.

Und trotzdem habe ich sehr über das Buch geschwärmt, denn ich fand den Roman dennoch recht spannend. Ich habe mich auf keiner Buchseite langweilen müssen.

Bevor die eigentliche Geschichte beginnt, befindet man sich in Becks Gegenwart, der mittlerweile in Neapel lebt. Nach einer Seite wird man allerdings wieder nach Deutschland geführt, genauer gesagt nach München, wo man Teil des Alltags dieses Becks wird. Am Ende des Buches befinden wir uns wieder in Neapel und die ganze Story wird rund. Diese Art von Struktur hat mir gut gefallen.

Beck, 37 Jahre alt, ist ein recht frustrierter Gymnasiallehrer, der mitten in einer Midlifecrisis zu stecken scheint. Das ist auch kein Wunder, denn an der Schule, an der er unterrichtet, war er selbst Schüler. Auch sein Vater unterrichtete schon an diesem Gymnasium. Diesbezüglich zeigt sein Leben wenig Bewegung, auch wenn er es zuvor mit der Musik in einer Band probiert hat und er darin kläglich gescheitert ist, da er auch hier über das jämmerliche Mittelmaß nicht hinauskommt. Beck hinterfragt permanent sein Leben und selbst als Lehrer bezeichnet er sich als Durchschnitt, frustriert darüber, dass er es nicht schaffen würde, in seinem Leben etwas ganz Außergewöhnliches auf die Beine zu stellen:
Ich bin zu dumm für die Klugen und zu klug für die Dummen. (2009, 204).
Rauli Kantas, 17 Jahre alt, ist Becks Schüler und ein noch verstecktes Musiktalent. Rauli kommt ursprünglich aus Litauen und spricht schlecht Deutsch. Seine Familie ist mittellos, seine finnische Mutter gestorben, Vater arbeitslos ... In der Schule ist Rauli sehr schwach und es droht nach der Zeugnisübergabe seine Schulentlassung. Beck unterrichtet in Raulis Klasse Deutsch und Musik.

Dann gibt es noch den 27-jährigen Charlie, auch ein absoluter Versager und er scheint in der Selbstfindungsphase steckengeblieben zu sein. Charlie, dunkelhäutig, spielte einst mit Beck in einer Musikband, die aber aufgelöst wurde, da sie sich auf dem Musikmarkt nicht durchsetzen konnte. Charlie entwickelt sich immer mehr zu einem nervigen Hypochonder …

Zwischen diesen drei Protagonisten bildet sich ein Dreiergespann; Personen, die durch Robert Beck zusammengefügt werden, und sich, durch Charlie initiiert, zu dritt von jetzt auf gleich mit Becks Schrottauto auf eine abenteuerliche Reise in die Türkei begeben, damit er diese Reise nicht alleine machen musste …

Beck lernt die 27-jährige Studentin Lara kennen, und merkt erst mit der Zeit, was er an ihr hat. Denn Beck ist alles andere als beziehungstauglich. Ständig läuft er davon, sobald Probleme in der Paarbeziehung aufkommen …
Beck verliebt sich zudem auch in seine 17-jährige Schülerin Anna Lind und erfährt in einem Schülerinnengetuschel, dass Anna Lind in Robert Beck verliebt ist. Beck belauscht beinahe unbemerkt den Gesprächen ... Doch auch Rauli verliebt sich in Anna und es kommt zwischen Beck und Rauli zu einem Konflikt, der aber mehr im Stillen ausgetragen wird, weitestgehend zumindest …

Beck ist nicht nur auf Anna eifersüchtig, sondern auch neidisch auf Raulis Musiktalent, das überdurchschnittlich sei. Beck fördert aber den Jungen auf dem Gebiet der Musik, trifft sich auch privat mit ihm und nimmt immer mehr die väterliche Rolle ein, die auch bei den anderen Jungen und Mädchen mittlerweile bekannt wird und stößt dabei auf das Gespött seiner SchülerInnen ... Spätestens hier hätte der Schulleiter Beck zur Rede stellen müssen.
Rauli führt ein Außenseiterleben, konsumiert Drogen, schreibt viele Zettelchen … Beck, der Möchtegernvater, lauert ihm auf, um mehr seinem sozialen Leben auf den Grund zu gehen …

Wer mehr über diese Geschichte und diesen Menschen erfahren möchte, dem empfehle ich zu diesem Buch.


Mein Fazit?

In dem Roman findet man jede Menge Weisheit, tiefgründige Gedanken und viele englischsprachige selbstgeschriebene Songs. Ich liebe zwar Musik, ich kenne mich aber mit der Musikwissenschaft viel zu wenig aus. Ich könnte jetzt nicht auf Anhieb sagen, ob ein Musiker Talent hat oder nur Durchschnitt ist, weshalb ich über die Musik hier wenig geschrieben habe. Aber die Musik nimmt in diesem Roman einen großen Raum ein, den ich auch als Musikunkundige trotzdem interessant fand.

Zudem hat mir persönlich ein Gedanke in diesem Buch besonders gut gefallen, den ich einfach hier festhalten muss. Die Frage, die sich Rauli stellt: Ist, wer gedankenbegabt ist, automatisch auch gedankengefährdet?

Dies fand ich sehr schön, denn ich kenne einige Menschen, die von sich behaupten, sie hätten Schwierigkeiten, sich über etwas, z. B. über ein gelesenes Buch, Gedanken zu machen. Ich kenne diese Schwierigkeit überhaupt nicht, denn mir geht es ein bisschen wie Rauli. Es denkt in mir von allein, ich muss nicht viel nachdenken, die Gedanken kommen immer von selbst, bei jedem Thema … Und ob man gedankengefährdet ist, könnte ich sogar bejahen, wenn man innerlich ganz unruhig wird, weil zu viel da ist und zu viel nachkommt, und man noch nicht fähig ist, diese von selbstkommenden Gedanken in Worte zu fassen. Danke, lieber Benedict Wells, für diesen wiederum so tollen Gedanken.

Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen, lediglich manche Szenen waren mir zu realitätsfremd. Dass ein Lehrer so stark in die Privatsphäre seines Schülers dringt, fand ich ein wenig surreal. So etwas spricht sich im wirklichen Leben normal in der Schülerszene recht schnell rum, penetrante Begebenheiten, die bis zu den Ohren des Schuldirektors dringen würden, der dem Lehrer Konsequenzen androhen müsste. Auch die abenteuerliche und eigentlich die kopflose Reise in die Türkei fand ich wenig glaubwürdig. Einem Charlie traue ich das zu, einem 17-jährigen Schüler auch, aber keinem Menschen, der vom Bildungsniveau wie Beck gestrickt ist.

Deshalb neun von zehn Punkten.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Weitere Informationen zum Buch:

Für dieses zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar möchte ich mich recht herzlich beim Diogenes Bücherverlag bedanken.

Taschenbuch
464 Seiten
erschienen am 01. Dezember 2009

978-3-257-24022-1
€ (D) 12.00 / sFr 16.00* / € (A) 12.40
* unverb. Preisempfehlung

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Sonntag, 14. August 2016

Lluís Llach / Die Frauen von La Principal (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Wow, das Buch hat mir sehr gut gefallen. Es hat mich recht nachdenklich gestimmt. Ein männlicher, spanischer Autor, der sich für die (sexuellen) Bedürfnisse einer Frau einsetzt, hat mir imponiert. Aber nicht nur ... Ein sehr kritischer Roman in mehrerer Hinsicht; Familie (Auflehnung gegen tradierte Geschlechterrollen und sexuelle Orientierung), Gesellschaft und Kirche.

Das Buch hat mich überrascht wegen des kriminalistischen Akts, mit dem ich nicht gerechnet habe. Wir befinden uns im Jahr 1940, und ich war erstaunt darüber, als die Geschichte über einen vor vier Jahren (1936) begangenen Mord berichtet, der aufgeklärt werden soll. Ich werde mich diesbezüglich nicht weiter äußern, um anderen LeserInnen nicht die Spannung zu nehmen. Obwohl ich keine Krimileserin bin, fand ich ihn wirklich gut … Die letzten zwanzig Seiten haben sich ein wenig gezogen, nachdem man als Leserin geglaubt hat, der Mordfall sei bereits ausreichend aufgeklärt und abgeschlossen. Der Autor weiß es, seine Leserschaft prächtig zu unterhalten …

Anfangs war ich von den vielen spanischen Namen ein wenig irritiert, da mir die Figuren noch alle unbekannt waren. Dies legte sich aber wieder. Man kommt gut rein in die Szenen und sie lesen sich recht flüssig.

Die Geschichte mit politischem Hintergrund findet in Spanien statt, um genauer zu sein in Katalonien, im abgelegenen Dorf namens Pous, wo das Anwesen La Principal steht. Der Roman behandelt drei Generationen. Er beginnt 1940, man wird als Leserin durch eine Erzählerin aus La Principal in die Epoche 1893 zurückgeführt, als ein Inspektor sein Interview bei einer Bediensteten des Anwesens startet ...

In allen drei Generationen tragen die Protagonistinnen denselben Namen Maria. Das fand ich erst auch sehr irritierend, da ich Mühe hatte, sie auseinanderzuhalten. Ich malte mir dann selbst einen Stammbaum auf, den ich aber langfristig gar nicht gebraucht hätte. Mit jeder zunehmenden gelesenen Seite wurden mir die Marias und die anderen Romanfiguren allmählich vertraut. Aber nicht nur ich als Leserin war irritiert, sondern auch die Maria aus der dritten Generation. Ihr neunzigjähriger Vater Llorenc Costa hatte ein Buch über das ganze Procedere dieser Familienchronik und deren Problematik geschrieben und gibt es 2001 seiner mittlerweile sechzigjährigen Tochter Maria zu lesen:
Also, zuerst habe ich überhaupt nichts kapiert, ständig bin ich mit den Marias und den Epochen durcheinandergekommen und musste zurückblättern, um mich zurechtzufinden. (2016, 216).
Das war so die einzige Hürde, die ich auf den ersten fünfzig Seiten überwinden musste, als ich mir dann schließlich alle ProtagonistInnen, die der Familie Andreu Roderich und seiner Frau Maria abstammten, merken konnte.

Aber dieses Verzwickte, immer wieder von der einen Epoche in die andere zu springen, von der einen Maria zur anderen, das hat mir dann schließlich Spaß gemacht. Das habe ich im Nachhinein wie mentale Akrobatik erlebt.

Doch die Einschätzung bzw. die Charaktere der Figuren aus der ersten Generation konnten mich auch nicht täuschen, trotz der Beschreibung des Klappentexts. Ich wusste, dass die junge Maria Roderich, das einzige Mädchen unter ihren vier männlichen Geschwistern, von ihrem Vater auf dem zweiten Blick nicht benachteiligt wurde … Auch hier halte ich mich weiter bedeckt.

Was mich tief beeindruckt hat, waren die Marias aus der ersten und der zweiten Generation, wie sie als Frauen mit der Macht ihres Anwesens und der Dorfbevölkerung umgingen. Aber auch die Maria aus der dritten Generation hatte es nicht leicht, als ein autonomes, freies, sexuelles Wesen von den Männern anerkannt und akzeptiert zu werden. Insgesamt waren es starke Frauen, die sich gegen die verschiedenen Männerdomänen sehr gekonnt und beherrscht durchzusetzen wussten ...  

Die Beziehung zwischen Maria Magi und dem Homosexuellen Llorenc Costa fand ich spannend, in welcher Beziehungskonstellation sie hauptsächlich schon von Kindesbeinen an und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten trotzdem sexuell zueinander fanden.


Mein Fazit zu dem Buch?

Das Buch hat mir so gut gefallen, dass ich es irgendwann ein weiteres Mal lesen möchte. Ich halte den Autor für sehr emanzipiert, indem er in seinem Roman hauptsächlich den Frauen seine Stimme leiht. Als Mann ist es ihm sehr gut gelungen, sich in das andere Geschlecht und deren Bedürfnisse hineinzuversetzen.

Außerdem ist das Buch sehr fantasievoll geschrieben. Mir hat seine literarische Sprache insgesamt sehr zugesagt. Den Inhalt fand ich historisch recht glaubwürdig und die Charaktere jeder Figur differenziert und authentisch.

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus

Zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zum Buch:

Ich möchte mich recht herzlich für das zur Verfügung gestellte Rezensionseexemplar beim Insel-Bücher-Verlag in Berlin bedanken.

D: 19,95 € 
A: 20,60 €
CH: 28,50 sFr
Erschienen: 07.03.2016
Gebunden, 368 Seiten
ISBN: 978-3-458-17672-5
Auch als eBook erhältlich


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(...) Was Gespür angeht, sind Männer echte Schlafmützen.
(L. Llach, 261)

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