Samstag, 3. September 2016

Oliver Sacks / On the Move: Mein Leben (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Mir hat diese Autobiografie sehr zugesagt. Sie ist so spannend geschrieben, dass ich von einer Seite zur nächsten gehetzt bin, bis ich schlussendlich die letzte Seite erreicht habe. Ich hätte wieder von vorne anfangen sollen, so drin war ich in diesem hektischen Leserhythmus. Dabei war das ja nur eine Autobiografie und kein Krimi.

Auf den ersten zweihundert Seiten erfährt man recht viel Privates von Oliver Sacks. Später ging es hauptsächlich um sein Leben als Arzt und Neurologe. Darin werden viele neurologische und psychiatrische Krankheitsbilder behandelt.

Der Schreibstil ist sehr flüssig, lediglich die vielen Fußnoten sorgen jeweils für ein Staccato. Sie unterbrechen immer wieder diesen Lesefluss.

Bei den Krankheitsbildern werden viele Termini verwendet, die für einen Laien störend sein könnten, allerdings beschreibt Sacks diese Krankheitsbilder so verständlich, dass man trotzdem das Gelesene gut aufnehmen kann. Für Laien ist das ein Plus, für die Fachwelt dagegen eine Last, denn Sacks hatte Mühe, sich bei seinen Kollegen einen Namen als Wissenschaftler zu machen. Sacks hat viele Bücher geschrieben, doch auch ein Verlag hatte erst Mühe, sein erstes Manuskript anzunehmen:
Allerdings gab ein Lektor (…) einen seltsamen Kommentar ab. Er sagte: >>das Buch lässt sich zu leicht lesen. Das macht die Leute misstrauisch-verwissenschaftlichen Sie es.<< (2015,174)
Mit viel Mut konnte sich Sacks schließlich in seiner Fachwelt durchsetzen. Er sammelte jede Menge klinische Erfahrungen, die er literarisch sinnvoll einzusetzen wusste. Nicht nur was der Schreibstil anbetraf, sondern auch seine außergewöhnlichen Ideen, die er in verschiedenen Feldstudien entwickelt hatte, stießen allerdings bei einem seiner Chefs auf Provokation und er drohte ihm, seine Stellung in der Kopfschmerzklinik zu kündigen, sollte er sein Manuskript über die Bauchmigräne nicht zurücknehmen. Sacks ließ es auf eine Kündigung ankommen …

Dann stellte sich heraus, dass der Chefarzt, der ihm gekündigt hatte, Sacks` Ideen abgeschrieben hatte und diese in einem Artikel einer Fachzeitschrift veröffentlichen ließ …

Sacks, 1933 geboren, ist Engländer, lebte aber seit 1960 mit einer Greencard in Amerika. Seine Eltern waren beide Ärzte, die Mutter Chirurgin, der Vater Allgemeinmediziner, der bis ins hohe Alter noch praktiziert hatte. Sacks hatte mehrere Brüder, einer davon, Michael,  litt an einer schwerwiegenden Schizophrenie, mit der die Familie erst lernen musste, umzugehen ... Michael war auch ein sehr begabter Jugendlicher. Er lernte ganze Bücher auswendig, wie z.B. Nicholas Nicleby und David Copperfield. Schwer vorstellbar, so dicke Bücher auswendig lernen zu können. Was für eine geistige Leistung. Aber es ist bekannt, dass Menschen mit dieser Form von psychischer Erkrankung eine immense geistige Leistung hervorbringen können.

Oliver Sacks war auch kein Kind wie jedes andere. Als Jugendlicher hatte er Schwierigkeiten mit der sexuellen Orientierung und dem Vater fiel recht früh auf, dass er an Mädchen nicht interessiert war und konfrontierte den Sohn mit der Frage, ob ihm Jungen lieber seien? Oliver bejahte die Frage und bat den Vater, die Mutter dahingehend nicht einzuweihen.
Doch mein Vater sagte es ihr, und am nächsten Morgen kam sie mit grauenhaft ergrimmter Miene herunter, einer Meine, die ich nie zuvor an ihr gesehen hatte. >>Du bist ein Gräuel<<, sagte sie. >>Ich wünschte, du wärest nie geboren.<< Damit ging sie aus dem Zimmer und sprach mehrere Tage lang kein Wort mit mir. Als sie dann wieder sprach, erwähnte sie mit keinem Ton, was sie gesagt hatte - und kam auch nie wieder auf das Thema zurück; aber seither stand etwas zwischen uns. (19) 
Die Eltern lebten bibelfest und die Mutter las im dritten Buch Mose: >>Du sollst nicht bei einem Mann liegen wie bei einer Frau; es ist ein Gräuel.<< (ebd).

Die Homosexualität machte Oliver Sacks in England sehr zu schaffen, und lebte über viele Jahre ohne Bindung und sexuell abstinent. Er verreiste schließlich in die Niederlande. Ein Land, in dem jede Form von Sexualität legal war. Sacks machte dort seine ersten sexuellen Erfahrungen. Und trotzdem lebte er später über dreißig Jahre ohne sexuelle Bindung, da er in einer Zeit lebte, in der Homosexualität auch in Amerika noch ein Tabu war. Sein Selbstbewusstsein war diesbezüglich sehr angeschlagen ...

Oliver Sacks wurde auch drogenabhängig. Er litt an einer leichten bis mittelgradigen Polytoxikomanie. Mit den vielen Problemen beruflicher, aber auch sexueller Art wurde er nicht richtig fertig. Bis er eines Tages mit den Drogen eine wichtige Erkenntnis machte. Sacks erlitt eine drogeninduzierte Wahnvorstellung, die ihm zu wichtigen Erkenntnissen verhalf:
Im Februar 1967 hatte ich noch einen Drogenrausch oder -wahn, und er brachte - paradoxerweise und im Gegensatz zu allen vorangegangenen Highs - eine kreative Wende. Er zeigte mir, was ich tun sollte und konnte: ein lesenswertes Buch über Migräne schreiben und danach vielleicht noch andere Bücher verfassen. Es war nicht nur der vage Gedanke an eine Möglichkeit, sondern eine sehr klare, fokussierte Vorstellung von meiner zukünftigen neurologischen Arbeit und schriftstellerischen Tätigkeit, die sich einstellte, als ich high war, dann aber auf Dauer blieb. (169).
Oliver Sacks entwickelte sich zu einem interessanten Geschichtenerzähler und er zeigte jede Menge Schreibtalent narrativer Art. Er schaffte es, seine Erfahrungen als Facharzt in der Neurologie in Prosa zu packen. Seine Patienten fühlten sich von ihm verstanden. Sacks kritisierte die miesen Zustände innerhalb der Krankenhausbehandlung:
Doch auf Station 23 legte man das Prinzip der Verhaltensmodifikation zugrunde und arbeitete mit Belohnung und Bestrafung, besonders mit sogenannten therapeutischen Bestrafungen. Die Art und Weise, wie die Patienten manchmal behandelt wurden, widerstrebt mir zutiefst: man sperrte sie in Isolationszellen, setzte sie auf Hungerdiät oder schnallte sie an. Unter anderem fühlte ich mich an die Behandlung erinnert, die ich und andere Jungen während der Kriegszeit in einem Internat zu erdulden hatten. Häufig waren wir den launischen sadistischen Bestrafungen des Schulleiters ausgesetzt. Ich spürte, dass ich manchmal eine fast hilflose Identifikation mit den Patienten verfügte. (240)
Sacks setzte sich für seine Patienten ein, wie dies auch in dem Film Zeit des Erwachens deutlich wird, macht sich aber dabei bei seinen Kollegen unbeliebt.

Er beklagte, dass die Patienten in den Kliniken im Namen der Wissenschaft missbraucht wurden.

In Europa feierte man zu dieser Zeit die Psychiatrie-Enquete. Italien war das erste Land Europas, das sämtliche Psychiatrien aufgelöst hatte, denn auch in Europa waren psychisch kranke Menschen in ihrer Autonomie stark eingeschränkt und man behandelte sie mit schweren repressiven Mitteln, wenn sie dem Klinikpersonal Schwierigkeiten bereiteten und schwer therapierbar waren. Dabei denke ich auch an den Film: Einer flog über das Kugucksnest.


Mein Fazit zu dem Buch?

Oliver Sacks wäre nur Schriftsteller geworden, wäre da nicht der Beruf als Arzt gewesen. Er bezeichnete sich selbst als Geschichtenerzähler, und nicht als Wissenschaftler. Aber ich finde, er hat es gut geschafft, eine Brücke zwischen beiden Disziplinen zu bauen. Er schrieb für seine Patienten und für alle Menschen, die sich für seine Geschichten interessieren. Und deshalb machen seine sog. unwissenschaftlichen Bücher Sinn. In den Geschichten leiht er den kranken Menschen seine Stimme.

Ich denke dabei auch an die Erzählung über einen Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselt hat.

Ich habe dieses kleine Taschenbuch vor vielen Jahren gelesen, und ich kann es nirgends mehr finden. Als Sacks in seiner Autobiografie immer wieder auf diesen Mann verwies, fiel mir dann diese Geschichte wie Schuppen vor den Augen wieder ein. Ein sehr zu empfehlendes Buch.

Und so unwissenschaftlich wirkt Sacks gar nicht. Er hat viele Krankheiten neu entdeckt und alte neu untersucht, neu analysiert und neu bewertet.

Sollen doch die Zielgruppen weiterhin verschieden bleiben, während bestimmte Ärzte nur für Ärzte schreiben, und andere Ärzte wiederum für ihre Patienten, so wie Sacks dies getan hat. Ist doch ein guter Ausgleich, wenn nicht jeder das Gleiche tut.

Ich vergebe dem Buch zehn von zehn Punkten.


Weitere Informationen zu dem Buch:

Ich möchte mich recht herzlich beim Rowohlt-Verlag für dieses zur Verfügung gestellte Leseexemplar bedanken.

Verlag: Rowohlt; Auflage: 4 (2. November 2015)
Sprache: Deutsch, 24,95 €
ISBN-10: 3498064339


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"Literatur ist die Kunst, Außergewöhnliches an gewöhnlichen Menschen zu entdecken und darüber mit gewöhnlichen Worten Außergewöhnliches zu sagen."

(Boris Leonidowitsch Pasternak)

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