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Sonntag, 2. Juni 2019

Konfliktklärung mit Briefpartnern

Seite 122 – 132, Herbst 1888 bis Juli 1892 (17 bis 21 Jahre)    

Ich kann von Marcel Proust nicht ablassen. Am liebsten möchte ich alles festhalten, was er geschrieben hat, weil er so schön schreiben kann. So schöne Worte eingehüllt in Poesie, trotz häufig ernster Thematik, s. Beispiel unten. Und damit ich das Gelesene nach Jahren wieder nachschlagen kann, wenn ich die eine oder andere Info vergessen habe. 

Wieder begleitet uns die Auseinandersetzung mit der sexuellen Identität. Die Auseinandersetzung mit Literatur und mit bedeutenden und weniger bedeutenden Menschen seiner Zeit, finde ich hoch interessant.

Wieder ein Brief an Daniel Halévi, Herbst 1888, wo Anne und ich nicht ganz sicher sind, in welcher Rolle sich dieser Daniel sexuell befindet. Verachtet er Homosexuelle, oder ist er selbst homosexuell? Die Briefe sind nicht eindeutig. Im ersten Brief auf diesen zehn Seiten antwortet Proust auf Daniels Kritik in einer so schönen Sprache, dass ich diesen Textauszug unbedingt festhalten möchte.
Du verabreichst mir regelrecht eine kleine Geißelung, aber deine Ruten tragen so schöne Blüten, dass ich dir deswegen nicht böse sein kann, und die Pracht und der Duft dieser Blüten haben mich so sanft betört, dass mir die Dornen weniger grausam erschienen. Du hast mich mit Schlägen der Lyra traktiert. Und deine Lyra hat Zauberkräfte. (122)

Ein paar Zeilen später schreibt er über die Schamhaftigkeit.
Meine moralischen Glaubenssätze gestatten mir, die sinnliche Vergnügung für etwas Gutes zu halten. Sie legen mir auch nahe, bestimmte Gefühle zu achten, ein bestimmtes freundschaftliches Feingefühl, und ganz besonders die französische Sprache, eine liebenswerte und unendlich anmutige Dame, deren Traurigkeit und Sinnenlust ebenfalls erlesen sind, aber der man niemals schmutzige Posen aufzwingen darf. Dies würde bedeuten, ihre Schönheit zu entehren.

Auch dieses Zitat ist so wunderschön, aber man weiß nicht sicher, was Proust mit sinnlichen Vergnügen meint. Und was versteht er unter schmutzige Posen, mit der man die schöne Sprache nicht entehren darf? Hat sich Daniel vulgär ausgedrückt?
Du hältst mich für blasiert und erledigt, Du irrst dich. Wenn du ein so köstliches Wesen bist, wenn du hübsche helle Augen hast, die so ungetrübt die raffinierte Anmut Deines Geistes spiegeln, dass es mir so scheint, als liebte ich deinen Geist nicht vollkommen genug, wenn ich nicht auch deine Augen küsste; wenn dein Körper und deine Augen so grazil und so gewandt wie Dein Denken sind, dass es mir so scheint, dass ich mich besser in deine Gedanken einfände, wenn ich mich in deinen Schoß setzte; wenn ich schließlich den Eindruck habe, dass der Zauber deines Du, dieses Du, bei dem ich lebhaften Geist nicht von dem leichten Körper zu trennen wüsste, der für mich die >>holden Freuden der Liebe<< verfeinert., indem er sie steigert, so ist daran nichts, womit ich diese verächtlichen Sätze verdient hätte, die besser an jemanden gerichtet wären, der Frauen überdrüssig, nach neuen Lüsten in der Pädesterie suchte. (122f)

Über diese Textstelle ist auch Anne gestolpert aber uns beiden ist nicht klar, welches (sexuell oder freundschaftlich) Verhältnis Proust mit Daniel hatte? Proust schätzt feingeistige Menschen, er fühlt sich regelrecht zu ihnen hingezogen. Auch Daniel scheint ein recht intellektueller Geist zu sein, sodass sich der Text für mich von Prousts Seite aus auch wie eine platonische Liebe herausdeuten lässt. Männer, die Frauen überdrüssig seien, sollten nach neuen Lüsten in der Homosexualität suchen. Damit meint er nicht sich selbst. Schwierig zu deuten, wenn uns die Briefe von Daniel nicht vorliegen. Sich auf seinen Schoß setzen wollen, um sich besser in seine Gedanken einzufinden, ist ein merkwürdiges Bild. 

Proust weist in seinem Brief auf die Dichter Montaigne und Sokrates, die im Leben symbolisch gesehen nur Blumen gepflückt haben sollen, und ganz jungen Leuten gestatten, sich zu >>amüsieren<<. Hier scheint die Sexualität gemeint zu sein, (…) um ein wenig alle Vergnügen kennenzulernen und ihr Übermaß an Zärtlichkeit abfließen zu lassen. (123)
Sie dachten, dass diese zugleich sinnlichen und intellektuellen Freundschaften mehr wert seien, wenn man noch jung ist und doch schon ein sehr wahres Gespür für die Schönheit und eben auch für die >>Sinne<< hat, als Liaison mit dummen und verdorbenen Frauen.

Eine Liaison mit dummen und verdorbenen Frauen lässt mich stutzig werden und so frage ich mich wieder, was Proust für ein Frauenbild hat? 

Ein paar Zeilen später widerspricht Proust diese sexuelle Haltung der beiden Philosophen.
Ich werde dir erklären warum. Aber ich lege Wert auf die allgemeine Bedeutung ihres Ratschlags.

Ich hatte recht, Daniel scheint sich über die Homosexuellen abfällig geäußert zu haben, wie aus den vorigen Proustbriefen hervorgeht. Er bittet Daniel:
Behandle mich nicht wie einen Päderasten, das schmerzt mich.

Proust ist für mich mithilfe wichtgier Autoren ein großer Suchender. Er scheint seine sexuelle Identität noch nicht gefunden zu haben, auch wenn er die Homosexualität noch ablehnt. 
Er schreibt diesen Brief bei Alphonse Darlu im Philosophie-Unterricht.

Er scheint diesen Lehrer nicht mehr zu respektieren, von dem er im letzten Brief so geschwärmt hat.

18.05.1889, 17 Jahre
Brief an Anatole France

Proust bezieht jeden Samstag die Literaturzeitung Le Temps. Den Samstag bezeichnet er als sein Festtag. Anatole France ist ein feingeistiger Schriftsteller, dessen Bücher Proust seit vier Jahren liest. Und das nicht nur einmal. Er hat die Bücher immer wieder gelesen, bis er sie auswendig konnte. Proust hegt die Absicht, später über diese Bücher Rezensionen zu verfassen. Und wieder bekommt man es hier mit einem Menschen zu tun, den Proust verehrt. Ich finde es manchmal recht peinlich aber manchmal auch bewundernswert, wie offen er sich Menschen gibt, für die er geistige Bewunderung empfindet.
Unterdessen begnüge ich mich damit, Sie zu verehren, Sie noch umfassender zu verstehen, und ich lese ihre Bücher den klügsten meiner Kameraden am Lycee Concorcet vor. Und ich habe sogar die Lehrer, die etwas hinterher waren und Sie nicht kannten, missioniert. (124)

Ich kann mir das wunderbar gut vorstellen, wie Proust sogar seine Lehrer belehrt.
Sie haben mich gelehrt, (…) an den Büchern, an den Ideen und an den Menschen eine Schönheit zu entdecken, die ich zuvor nicht zu genießen wusste. (ebd)

Proust kommt mir wie eine Pflanze vor, die wächst und wächst, wenn sie nur genug Nährstoffe erhält. Für ihn ist hochgeistige Literatur Nahrung für den Kopf und Nahrung für die Seele.
Sie haben mir das Universum verschönert, und ich bin selbst sosehr ihr Freund geworden, dass kein Tag vergeht, an dem ich nicht mehrmals an Sie denke, auch wenn es mir noch einige Verlegenheit bereitet, mir Ihre physische Gestalt vorzustellen. (Ebd)

Starke Idealisierung; Idealisierungen entsprechen meistens nicht dem realen Charakter eines Menschen. Die Schwärmerei hat ja schon auch beim Philosophielehrer Alphonse Darlu abgenommen, wie wir oben sehen konnten.
Mit der Erinnerung an die Stunden auserlesener Genüsse, die Sie mir bereitet haben, habe ich tief in meinem Herzen eine Kapelle errichtet, die ganz von Ihnen erfüllt ist. (Ebd)

Trotzdem, ist das nicht schön ausgedrückt? Welch mächtige Sprache dieser junge Mensch nur besaß. Da schlägt sicher bei vielen Gleichaltrigen der Neid aus. Vielleicht auch bei Daniel.
Aber Anatole France wird nicht von allen bewundert. Eigentlich wird er von manchen Lesern richtig zerrissen, so lässt der Brief vermuten.

Ich habe sosehr darunter gelitten, Sie in diesem Artikel öffentlich beleidigt zu sehen, dass ich mir die Freiheit herausgenommen haben (sic!), Ihnen zu schreiben, welch grausame Qualen ich darüber empfand. (125)

September 1890, 19 Jahre
Auf der Seite 127 schreibt Marcel einen Brief an den Vater. Ich versuche, mir vorzustellen, wie das ist, in der Familie schriftlich zu kommunizieren. Wobei hier Proust auf Urlaub ist und verbrachte die meiste Zeit im Bett. Er muss wieder krank geworden sein und entschuldigt sich schriftlich bei seinem Vater, dass er nicht eher schreiben konnte. Mein Verdacht hat sich erhärtet, siehe weiter unten. 

Proust erwähnt den französischen Schriftsteller Guy de Maupassant, geboren 1850, den er im Haus der Familie Straus kennengelernt hat.Viel erfährt man hier nicht, außer, dass Proust es bedauert, Maupassant nur zwei Mal gesehen zu haben, da auch er erkrankt ist. 


Maupassant ist mein französischer Lieblingsschriftsteller. Und auch Anne hat Zola und Maupassant gelesen.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Marcel Proust selbst an Syphilis, Depressionen und an Wahnvorstellungen litt, sodass er ans Bett gefesselt war. Interessante Diagnosen, die mir nicht bekannt waren, denn irgendwo hatte ich mal gelesen, dass er Asthmatiker war, und dadurch die meiste Zeit seines Lebens im Bett zugebracht hat.

1891, 20 Jahre
 Schreibt Proust einen überaus kritischen Brief an Madame Geneviève Straus. Ein sehr mutiger, ehrlicher und offener Brief, indem er die oberflächliche Lebensweise dieser Dame stark infrage stellt. Auch wieder in einer gekonnten Ausdrucksweise. Ich verweise auf den Brief, den ich nicht zerstückeln kann, da man den gesamten Brief in Augenschein nehmen muss.

Im Juni 1892, kurz vor dem 21. Lebensjahr
Schreibt Proust erneut an Madame Straus. Proust befindet sich in der Prüfungsphase. Anscheinend hat sich die gute Dame über Proust abfällig geäußert.
Bis jetzt habe ich alles bestanden, ich hoffe, es wird auch morgen noch klappen, um Ihnen zu beweisen, dass Sie Unrecht damit haben, mich für faul oder gesellschaftssüchtig zu halten. Ich bin sehr fleißig. Ich weiß sehr wohl, dass es mir wirklich nicht zusteht, mich bei Ihnen zu rechtfertigen. (129)

Proust hat alle seine Prüfungen mit Bravour bestanden. Straus´ Prognosen haben sich nicht erfüllt. Dass Proust zudem noch gesellschaftssüchtig sein soll, sehe ich auch, aber Proust muss, aus meiner Sicht, in die Gesellschaft, um über sie schreiben zu können. Er benötigt das Leben im Außen, weil er dort seinen Stoff für seine spätere Recherche im Inneren finden wird.

Juli 1892, Brief an Robert Dreyfus
Proust moniert, dass der Freund sich in einem Artikel über sie beide lustig gemacht zu haben schien. Nun möchte Proust Unstimmigkeiten in Briefform klären. Er redet über den Schriftsteller Èmile Zola, der politisch an der Macht zu sein scheint und er es auch bleiben würde, da es keine besseren Vertreter geben würde, da die anderen literarischen Parteien über zu wenig Zusammenhalt verfügen. In diesem Brief geht es politisch zu. Aus der Fußnote geht zudem noch hervor, dass Dreyfus einen Artikel im Feuilleton Le Banquet geschrieben haben soll, in dem er sich über die Redakteure, zu denen auch Proust zählt, lustig gemacht habe, denn sie stellten darin Werke ausländischer Autoren vor, von denen Dreyfus nicht viel zu halten schien. Daraufhin erwidert Dreyfus:
Wenn die Zeiten sich wieder aufhellen, werden wir sehen, wer die Weisen sind. (…)Schluss mit Tolstoi, Schluss mit Shakespeare, Schluss mit Maeterlinck. Lasst uns, verdammt nochmal, nach Frankreich zurückkehren!

Proust bezeichnet Dreyfus` Haltung als zu materialistisch. Erst wusste ich nicht, was er mit materialistisch ausdrücken wollte, aber jetzt kommt es mir in den Sinn. Dreyfus scheint in dieser Situation aus Prousts Sicht wenig geistreich zu sein, vor allem auch, dass er namhafte ausländische Autoren ablehnt, ohne sich womöglich mit diesen befasst zu haben.

Telefongespräch mit Anne, Sonntag, 02.06.2019
Viel Neues an gemeinsamen Eindrücken ist nicht erfolgt, außer, dass uns dieselben Textstellen ins Auge geschossen sind. Was ich oben zu Daniel geschrieben habe, war auch Annes Eindruck. Nach wie vor sind die Briefe schwer zu verstehen, solange uns die Antwortbriefe nicht vorliegen. Aber es macht uns immer noch Spaß, und das ist das Wichtigste. Ich denke, man wird mit jedem Brief ein wenig schlauer, und später, nach den Briefen, setzen wir das Lesen mit einer weiteren Biografie fort, sodass sich bis dahin sicher noch manche Lücken wie Puzzleteile schließen lassen.

Meine persönliche Meinung
Ich konnte mich ein wenig in Marcel Proust wiederfinden, da es auch bei mir eine Zeit gab, in der ich mehr geschrieben als gesprochen habe. Neben den vielen Tagebüchern habe ich jede Menge Kurzgeschichten geschrieben, die ich einmal der Stadt Darmstadt eingereicht hatte, da sie für eine Schreibwerkstatt Nachwuchsautor*innen gesucht haben. 12 junge Menschen wurden von über 600 Bewerber*innen ausgewählt, eine davon war ich. Ich befand mich auch lange Jahre in einer Selbstfindungsphase, und ähnlich wie Proust habe ich meine Mitmenschen im Stillen beobachtet und mir viele Gedanken dazu gemacht, obwohl er sich stärker unter die Menschen gemischt hat, als ich es tat. Diese Menschen verarbeitete ich in Kurzgeschichten, surreale und reale Textformen. Ich bin heute noch so, ich achte sehr genau, wie Menschen denken, was sie beschäftigt und was es mit mir selber macht. Man kann sich die Hörner an der Gedankenlosigkeit vieler Menschen abstoßen, aber man entwickelt sich im Gegensatz zu ihnen weiter. Wie Hesse schon sagt, wer nicht in die Welt zu passen scheint, der ist immer nah dran, sich selbst zu finden. Während die meisten anderen in einem gesellschaftlichen System gefangen sind, so habe ich mich innerlich größtenteils davon befreit.

Leider habe ich die Schreibwerkstatt später wieder verlassen, weil ich diese Zeit zum Schreiben nicht mehr hatte. Entweder man ist Schriftstellerin oder man ist es nicht. Man kann das Schreiben nicht mit einem anderen Beruf teilen. Ich habe mich für den anderen Beruf entschieden, weil ich mich verglichen mit Proust nicht für ausreichend begabt hielt, um Schriftstellerin zu werden. Aber das Nachdenken über sich, über Mitmenschen, und vieles andere mehr, hat deswegen nicht aufgehört. Auch ich sauge ähnlich wie Proust Menschen wie ein Schwamm auf. Auch ich habe früher, und tue es heute manchmal noch immer, feingeistig, intellektuelle Menschen idealisiert, weil ich mich zu ihnen hingezogen gefühlt habe.
Und ich benötige viel Zeit, gewisse und unliebsame Erfahrungen mit anderen Menschen im Stillen zu verarbeiten, weil ich in dieser Hinsicht nicht wie Proust bin, allen mein Innenleben zu offenbaren.

Ich freue mich nun auf die nächsten zehn Seiten, und ich bin so neugierig, was Proust noch so manches in mir spiegeln wird.


Sonntag, 26. Mai 2019

Konfliktklärung mit Briefpartnern / Idealisierung

Seite 112 - 122             

September 1888 bis Okt. 1888 (17 Jahre alt)

Der junge Marcel Proust, ein leidenschaftlicher Briefeschreiber, verpasst keine Gelegenheit, sich Briefpartner zu suchen, um sich über sein reges Innenleben mitzuteilen. Er macht sich viele Gedanken über seine Mitmenschen, zieht dabei Literaturfiguren mit ein, dieses Mal aus Le Misanthrope von Molière. Hieraus Alceste, ein Idealist und Menschenfeind, der ohne Heuchelei den Menschen die Wahrheit ins Gesicht sagt. Diese Haltung würde aus einer lächerlichen und schlechten Gemütsverfassung entspringen … Proust schreibt auch immer wieder über die Konflikte, die er mit bestimmten Menschen hat und erschafft sich ein Gedankenkonstrukt, das er in zwei Variablen, x- und y, einteilt. Er schreibt von der Gesamtheit von Freundschaftsphänomenen x und von der Antipathie y.
Und so hat das Zerwürfnis nur die Bedeutung einer Laune, einer Prüfung oder einer Verstimmung, und alles kommt darauf an, sich wieder zu versöhnen. Ist es y, Antipathie, so bedeutet die Versöhnung nichts, und alles ist Zerwürfnis. (113)

Jede Menge Charakteranalyen entstehen dadurch. Er entschuldigt sich bei seinem Freund Robert Dreiyfus, dass er einen ganzen Brief gebraucht habe, um ihm darin seine Theorie darzulegen. Neben seinen tiefen Gedanken zeigt sich Marcel aber auch als ein Plauderer, der gerne über Freunde und aber auch über sich selbst ablästert, allerdings nicht als der Marcel Proust, sondern in dem Mantel einer (literarischen) Figur. Proust bittet Dreyfus, diesen Brief Daniel Halévys zu zeigen, s. u. . Obwohl er von Daniel nicht den Respekt erwiesen bekommt, den er verdient hätte? Angeblich soll ihn Daniel für mall und meschugge halten.

Proust nimmt Reitstunden, und überträgt Begriffe davon in seinen Jargon und erweitert dadurch gekonnt seinen Wortschatz:
Ich erlaube Dir, mein lieber Freund, diesen Brief D. H. zu zeigen, auch wenn er im allerschnellsten Galopp geschrieben ist, denn ich bin die ganze Zeit über von der Uhr vorangepeitscht worden, da ich noch zum Reitplatz muss. (117)

Interessant fand ich Prousts Brief an den neuen Philosophielehrer Alphonse Darlu, der mir ein wenig peinlich gewesen wäre. Gerade mal zwei Tage in der Klasse, wendet sich Marcel per Brief an ihn, da Darlu keine so erfreuliche Ansprache zu den jungen Menschen überbracht hatte. Marcel dagegen fühlt sich zu Darlu hingezogen, bewundert seinen philosophischen Geist und bittet ihn in seinem Brief um eine moralische Konsultation.
Ich habe in den letzten beiden Tagen eine so große Bewunderung für Sie empfunden, dass ich das unwiderliche Bedürfnis empfinde, Sie um einen großen Rat zu bitten, bevor ich das Studium der Philosophie aufnehme. (120)

Proust kehrt in diesem Brief dem Lehrer sein Innerstes heraus. Im Unterricht muss Darlu über eine Erkrankung gesprochen haben, von der nichts ahnend Proust betroffen ist. Dadurch teilt Proust ihm mit, dass er selbst an dieser Krankheit leidet und bittet um ein Gegenmittel. Des Weiteren lässt er den Lehrer wissen, dass er durch seine schwächliche Gesundheit unter einer Bewusstseinsspaltung leiden würde.
Aber mein Leiden ist, auch wenn es einen fast gänzlich anderen Charakter angenommen hat, nicht weniger lebhaft. Es hat sich intellektualisiert. Ich empfinde kein vollständiges Vergnügen mehr an dem, was mir früher ein Genuss war, an literarischen Werken. (120)

Weiter geht es in der Beschreibung seines anderen Ichs, Details sind dem Werk zu entnehmen, 120/121. Das Ende des Briefes fand ich dermaßen persönlich, das würde ich niemals einem Lehrer schreiben, auch wenn ich ihn mögen würde.
Sie werden, wie ich hoffe, Monsieur, meiner außerordentlichen Bewunderung und meiner unendlichen Begier, zu wissen, was Sie davon halten, die Absonderlichkeit und vielleicht auch die Indiskretion verzeihen, die darin besteht, einem Unbekannten derart intime Gedanken anzuvertrauen. (121)

Durch dieses stark Persönliche wirkt der Brief auf mich unheimlich. Weiter geht es im Text:
Aber ich glaube, Sie nach dem wenigen, was ich von Ihnen gehört habe, schon zu kennen. Ich flehe Sie an, in der Klasse nicht die leiseste Anspielung auf diesen Brief zu machen, der für mich so eine Art von Beichte ist. Ihr Schüler und aufrichtiger Bewunderer. (121)

Was ist das für ein Geschleime? Da kringeln sich mir sämtliche Fußnägel hoch. Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
… (>>der bewundernswerteste Lehrer, den ich je gehabt habe, der Mann, der den größten Einfluss auf mein Denken ausgeübt hat (…)<<, doch notiert er einige Jahre später (…) >>Niemand außer Darlu hat Einfluss auf mich ausgeübt, und dieser Einfluss war schlecht.<<(122)

Wie in seiner Recherche kommt er mir auch hier sehr verschwatzt vor. Ein intellektuelles Lästermaul, das sich seelisch vor vielen Menschen nackt macht und sich dann aber wundert, wenn hintenrum über ihn geredet wird.

Telefongespräch mit Anne, Sonntag, 26.05.2019
Auch Anne war der Meinung, dass Proust gerne schwatzt. Sie war eigentlich die erste von uns beiden, die darauf aufmerksam gemacht hat. Ich selbst konnte diese Eindrücke in seinen Briefen erst nicht festmachen, obwohl ich sie gelesen habe, es ist aber so schwer, das Gelesene zu verinnerlichen, wenn einem so gar nicht die Antwortbriefe vorliegen. Nun aber, im zweiten Durchlauf, konnte dieser Charakterzug auch für mich an verschiedenen Textstellen deutlich gemacht werden. Proust kränkt in seiner Ausdrucksweise so manchen Kameraden, davon bleibt auch sein Freund Robert Dreyfus nicht verschont. Proust muss ihn so beleidigt haben, dass auch Robert ihn für recht blasiert hielt, sodass Proust sich genötigt sah, sich mit Schmeichelei und Lobeshymnen bei dem Freund zu entschuldigen. Er verfällt von einem Extrem ins andere. 

In den Briefen bittet er seine Gesprächspartner immer wieder darum, seine Depesche anderen Personen nicht weiterzureichen, sodass wir, Anne und ich, den Eindruck bekommen haben, dass er tief in seiner Seele sich nichts anderes wünscht, als dass sie weitergereicht werden.

Proust weiß, dass er ein fulminanter Schreiber ist und kokettiert mit sich selbst. Er scheint es zu genießen, sich selbst in Szene zu setzen. Ich glaube, er hat es ganz gerne, wenn andere über ihn reden, wenn seine Briefe hochgelobt werden.

Meine persönliche Meinung
Mir kommt Prousts Seele ein wenig hurenhaft vor. Jedem sein Innerstes preiszugeben, finde ich sehr peinlich. Und trotzdem verstehe ich ihn aber auch. Proust, der Vieldenker, er braucht ein Gegenüber, um sich literarisch und geistig entfalten zu können. Er saugt die Menschen auf wie ein Schwamm und macht daraus fiktionale Geschichten. Und das führt zu einem überaus regen Innenleben, dass es schwermacht, sich selbst zu ertragen. Nur die Art und Weise, wie er es tut, wirkt zudem noch sehr impulsiv und versnobt. Ich selbst habe auch in diesen jungen Jahren viel geschrieben. Ich habe über 25 Tagebücher verfasst, wovon ich die Hälfte vernichtet habe. Die andere Hälfte werde ich mit der Zeit noch entsorgen. Auch ich hatte in der Schule die eine oder den anderen Lehrer*in, für die ich geschwärmt habe, die ich ähnlich wie Proust innerlich idealisiert habe aber niemals würde ich meiner Lehrer*in eine Bewunderung dieser Art aussprechen, weil es seelisch gesehen mir viel zu peinlich wäre.

Aber ich hätte Lust, Molières Theaterstück Proust zuliebe ;-) ein zweites Mal zu lesen. Auch ich habe das Stück gelesen, weil ich mich in den Anfängen meiner 20er Lebensjahre mit dem Buchtitel identifizieren konnte. Auch ich hatte mich viele meiner jungen Jahre in der Literatur gesucht. Ich erinnere mich, dass ich mich allerdings am Ende des Stückes doch nicht mit dem Misanthropen habe identifizieren können. Aber die Details weiß ich nicht mehr, weshalb ich das Stück gerne noch einmal lesen würde.

Mein Fazit aus diesen zehn Seiten


Proust probiert sich aus. Literarisch, schauspielerisch (Theater) und sexuell. 


Sonntag, 19. Mai 2019

Konfliktklärung mit Mutter und Daniel Halèvy

Seite 102 - 112             

Mai 1888 bis Sept. 1888 (16 und 17 Jahre alt)

In diesen Briefen ist häufiger zu entnehmen, dass Marcel unter den verschiedenen Beziehungen leidet, die problembehaftet scheinen. Einmal mit seinem Freund Daniel Halévy und auch mit seiner Mutter. Mithilfe der Briefe versucht er, die Konflikte zu klären. Hier ein Auszug aus dem Brief an seinen Freund Daniel. 
Als ich anderntags sah, dass du nicht mehr mit mir sprichst, dachte ich, dass ich dich mit meinem Brief verärgert habe. Es war dumm von mir, ihn zu schreiben, ungeschickt von Dir, Dich darüber zu ärgern (…). Ich konnte Dir nichts sagen. Ich konnte nur darauf warten, dass deine schlechte Laune mir gegenüber verflöge (…). Aber Bizet sagt mir, dass du mir in Wirklichkeit aus einem viel ernsteren Grund, den er so wenig kennt wie ich, böse bist. (102)

Ich habe dann mal zurückgeblättert, zu dem vorletzten Brief, was Proust an seinen Freund geschrieben hat. Ich fand jetzt nichts Anstößiges, außer vielleicht die Thematik mit den Homosexuellen, die Proust versucht zu verteidigen. Wahrscheinlich hat der Freund sich abfällig über sexuell anders geartete Menschen geäußert. Für die damalige Zeit war die Homosexualität eine große Sünde. Die Antwort seines Freundes auf diesen Brief? Die bleibt leider aus. Lediglich in der Fußnote ist zu lesen, dass Daniel Tagebuch führt, und darin über Marcels Schreibstil sich ausgelassen hat. In Wirklichkeit denkt dieser Freund:
Dieser arme Proust ist vollkommen wahnsinnig – man schaue sich nur diesen Brief an (…) Das alles ohne eine einzige Durchstreichung. Dieser Wahnsinnige hat großes Talent, und ich kenne NICHTS, was trauriger wäre und wunderbarer geschrieben als diese beiden Seiten. (104)

Marcel empfindet eine starke sexuelle Affinität zu Jacques Bizet. Marcels Mutter bittet ihren Sohn, sich von dem Freund zu trennen. Als er sich weigert, verbietet sie ihm den Umgang. Es kommt zwischen Mutter und Sohn zu einem heftigen Disput.

Was mir nicht einleuchtet, ist, dass der Vater Marcel gebeten hat, wenigstens vier Tage mit dem Masturbieren aufzuhören. Der Vater soll ihn regelrecht angefleht haben.

Woher wissen die Eltern von seiner Masturbation? Macht er das nicht hinter verschlossener Türe?

Marcel fühlt sich aber nicht nur sexuell zu Bizet hingezogen, sondern auch vom Temperament und vom Geistigen her scheint er eine Seelenverwandtschaft in dem Freund gefunden zu haben.

Proust möchte nicht, dass Bizet in seinem Elternhaus nur als Geächteter toleriert wird. Er schreibt ihm:
Wenn ich es schaffe, (meinen Eltern) zu beweisen, dass Du ein kostbares Wesen bist – an diesem Tag wirst du zu mir kommen und umhegt werden. Und falls dieser Tag niemals kommt, nun, dann werde ich dich extra muros (außerhalb der Mauern, Anm. der Autorin) lieben. Und ich werde ein Café zu unser beider Domizil machen. (103)

In der weiteren Depesche an Bizet bewundert Marcel einerseits dessen Weisheit, die er gleichzeitig aber bedauert. Warum? Dies teilt er ihm darin auch mit. Er bestaunt nicht nur seine lebhaften Gedanken und schreibt ihm daraufhin, dass das Herz Gründe hat, die der Verstand nicht kennt.
Marcel ist aber selbst mit seinen noch 16 Jahren mit viel Weisheit gesegnet. Ich kann verstehen, dass er sich zu Bizet auch intellektuell hingezogen fühlt.

Auf Seite 105 schreibt Proust einen Brief an Robert Dreyfus. In seiner Recherche gibt es die Dreyfus – Affäre. Robert Dreyfus ist auch ein junger Mensch, der noch zur Schule geht. Es gibt auf der Schule einen Lehrerwechsel. Der Französischlehrer Maxime Gaucher verstarb Ende Juli 1888 in den Sommerferien. Hier war Marcel 17 Jahre alt. Der neue Lehrer Monsieur Dauphiné ersetzt den Kollegen am Lycee Condorcet. Dreyfus und Proust besuchen zwar dasselbe Gymnasium aber nicht dieselbe Klasse. Proust versucht, Dreyfus liebevolle Tipps zu geben, wie mit dem neuen Pauker umzugehen ist.

Auch dem Lateinlehrer Cuceval ist Proust aufgefallen. Aber leider eher negativ. Seine Schulaufgaben sahen nicht nach Schulaufgaben aus und wurde von dem Lateinlehrer als Verderber, als dekadent betrachtet, da seine Klassenkameraden es ihm gleichtaten. Aber wie genau sahen diese Hausaufgaben aus? Hat Proust einen Roman geschrieben? Wenn die Klassenkameraden es ihm gleichtaten, kann ich mir vorstellen, was der Lehrer mit Dekadenz gemeint haben könnte, da nicht jeder mit dieser fabulierfreudigen Begabung von Proust ausgestattet ist.

Proust kann sich nicht bremsen zu schreiben. Er entschuldigt sich bei Dreyfus für seine Orthografie und für seine Handschrift aber es dränge ihn wie die Fluten. (Was für ein schönes Bild.) Gegenstand der Diskussion waren zudem auch Literaturgespräche, Artikel von Paul Desjardins, dessen literarische Abhandlungen in der Literaturzeitschrift Revue blue erschienen sind.

Sept. 1888 schreibt Marcel einen Brief an seine Mutter. Der Bruder seiner Mutter namens George Weil, Marcels Onkel, war zu Besuch und Marcel schien dem Onkel auf dem Rückweg zum Bahnhof sein Herz ausgeschüttet zu haben. Ich musste hierbei lächeln, weil Marcel über einen so großen Gesprächsbedarf verfügte, dass er dafür sorgte, dass der Onkel zu spät an den Bahnhof gelangte, damit dieser den Zug verpassen konnte. Sein Herz hatte er aber auch seinem Großonkel, Louis Weil, ausgeschüttet. Hierbei ging es um die Probleme mit seiner Mutter, die er eigentlich lieben würde. Er fühlt sich von dem Großonkel allerdings nicht verstanden, der Marcels Kummer als Egoismus bezeichnet hatte. Verstanden würde sich Proust lediglich von den Bediensteten des Hauses fühlen. Marcel scheint sich ewiglich in dieser Schreib- oder Gesprächsnot zu befinden, dass er sein Herz auch dem Hauspersonal auszuschütten schien, und zeigt, dass er über ein reges Innenleben verfügt.  

19.05.2019 Telefonat mit Anne
Wir sind beide der Meinung, dass es anstrengend ist, die Briefe zu lesen. Da man immer wieder im Lesefluss durch zu viele, wenn auch hilfreiche, Fußnoten unterbrochen wird. Es würde wenig hängen bleiben. Würde ich diese Impressionen nicht aufschreiben, würde ich auch schnell alles wieder vergessen. Mühsam ist auch, dass die Antwortbriefe fehlen, damit man die Eindrücke der Briefepartner*innen mitverfolgen könnte. Es sind also viele Lücken, die entstehen, die ich versuche durch Interpretationen zu ersetzen.

 Es gibt noch sehr viele Namen von Literaten, die uns nicht bekannt sind. Anne und ich befürchten, dass mit der Zeit die Briefe immer schwerer werden. Hoffentlich halten wir durch. Deshalb ist es gut, sich an den Wochenenden nur zehn Seiten vorzunehmen.

Wir haben uns auch über Alfred Dreyfuß, ein französischer Hauptmann jüdischen Glaubens, ausgetauscht, der später noch über die Dreyfußaffäre Thema werden wird.

Fazit
Sowohl Anne als auch mir scheint der junge Marcel ein offenes Buch zu sein. Ein Privatleben in seinem Inneren scheint es nicht zu geben. Selbst Intimitäten teilt er nicht nur seinen Eltern, Großeltern, u.a.m. mit, sondern auch dem Hauspersonal. Besaß er so etwas wie Schamgefühle?

Sonntag, 12. Mai 2019

Jugend, Sexuelle Oerientierung, Schulerfolg

Seite 91 - 101   

Proust-Briefe, 1886 – 1888 (15-17 Jahre alt)
  • -       Geschichtsprüfung
  • -       Sexuelle Orientierung, Homosexualität
Es geht hier sehr politisch zu, die Details hierzu sind dem Buch zu entnehmen. Die Niederlage des Deutsch-Französischen Krieges, 1870/1871. Elsass und weite Teile Lothringen wurden an das Deutsche Kaiserreich abgetreten, das neu gegründet wurde. Napoleon wurde gefangengenommen ...

Auf den folgenden zehn Seiten erfährt man zu dem noch, dass Marcel im Juli 1887 nach Sorbonne reist, um an der Geschichtsprüfung teilzunehmen. Er hat in der Geschichtsklausur fünf Stunden ohne Pause geschrieben. Es scheint eine Generalprüfung gewesen zu sein, in der Schüler*innen sämtlicher Gymnasien sich hier in der Prüfung eingefunden hatten.
Marcels erhielt im Fach Geschichte und Geografie den zweiten Preis.

Sexuelle Orientierung
Im Mai 1888 schreibt Marcel seinem Großvater einen Brief und bittet ihn um 13 Francs. Zehn Francs benötigt er für den Besuch eines Bordells, damit er aufhören würde zu masturbieren und drei Francs für den Nachttopf, den er in seiner Aufregung zertrümmert hatte. Marcels Vater fordert von ihm einen neuen ein. Es war die Mutter, die ihm riet, den Großvater anzupumpen. (Schade, dass man nicht weiß, wie der Großvater auf das Geldanpumpen u.a. reagiert hat).

Im Juni 1888 schreibt er an seinen Freund Jaques, bittet um seine Freundschaft, da er sich von seiner Familie schlecht behandelt fühlen würde. Wenn ich traurig bin ist mein einziger Trost zu lieben und geliebt zu werden.
Ich umarme dich und liebe dich von ganzem Herzen. (99)

Dann folgt ein Brief, in dem Gespräche über Literatur und Theater entnommen werden können. Proust schlägt seinem Freund Daniel Halévy vor, mit ihm zusammen eine Kunstzeitschrift zu gründen ...
Gesprächsstoff Homosexualität (Pédéraste): Marcel findet an der Homosexualität nichts Unanständiges.

Es ist noch nicht klar, wie er sich selbst sexuell entscheiden wird, verteidigt aber homosexuelle Liebende.
Und doch obsiegt im Allgemeinen die Liebe, und sie masturbieren gemeinsam. Aber mach dich nicht lustig über sie, und denjenigen, von dem du sprichst, wenn er denn so ist. Sie sind, alles in allem, Verliebte. Und ich wüsste nicht, warum ihre Liebe unreiner wäre als die gewöhnliche Liebe. (101)

Telefongespräch mit Anne, 11.05.19
Anne und ich waren beide erstaunt über die schulische Leistung, die Marcel erbracht hatte. Auch haben wir uns über die Eltern ausgetauscht, dass die Eltern, oder der Junge selbst ganz offen über die Masturbation gesprochen hat. Wurde er dabei ertappt? Damals zählte das Masturbieren als eine Sünde. Das war sehr fortschrittlich von Eltern- und Großelternseite so offen darüber sprechen zu können.

Dass er die Homosexuellen verteidigt, liegt vielleicht daran, weil er selbst eine Neigung dazu hat, wie im oberen Brief gezeigt wird. Aus der Recherche erinnere ich mich, als der fiktive junge Marcel Männer nachspäht, sich unter das Fenster einer betroffenen Figur stellt, und belauscht das Paar, um herauszufinden, ob sie homosexuelle Praktiken nachgingen.
Die literarischen Gespräche fanden wir beide etwas schwierig, da uns die Autor*innen fremd sind.

Weiter geht’s es nächstes Wochenende.


Prousts Briefpartnerinnen und Briefpartner

Hiermit verlinke ich die Liste von Prousts Briefpartnerinnen. Anne hat sie als Fußnoten Frauen / Fußnoten Männer betitelt.

https://biografischerblog.blogspot.com/search/label/Fu%C3%9Fnoten%20-%20Frauen



Hier ist die Verlinkung zur Namensliste von Männern.

https://biografischerblog.blogspot.com/search/label/Fu%C3%9Fnoten%20-%20M%C3%A4nner


Um die Aktualisierung dieser Listen kümmert sich Anne. 


Sonntag, 5. Mai 2019

Familiärer Austausch

Die ersten Proust-Briefe mit Familienmitgliedern, 1879-1887  

Kindheit und Jugend in den Briefen
Mit den ersten beiden Briefen, April 1879 und Febr. 1881 war Marcel gerade mal sieben und neun Jahre alt, als er sich schon ans Schreiben machte, was ich phänomenal fand. Ein quicklebendiges, neugieriges und fabulierfreudiges Kind, das sich in der Auseinandersetzung mit hoher Literatur und im Umgang mit seinen Mitmenschen befindet. Was mir auffällt, ist, dass sich der kleine, sensible Proust in seinen Briefen hauptsächlich mit Erwachsenen beschäftigt und kaum etwas mit seinen Altersgenossen zu tun hat. Eine reife Seele in einem Kinderkörper? So kommt mir der Kleine vor. Er schreibt hier an seine Großeltern mütterlicherseits Nathé und Adèle Weil. Mit neun Jahren schreibt er seinen ersten Brief auf Deutsch. Mit neun Jahren lernt er auch Deutsch und Latein, 18 Monate bevor er aufs Gymnasium wechselt. Später scheint er ein humanistisches Gymnasium zu besuchen, da er hier auch Altgriechisch und Geschichte lernt. Dadurch wird er mit der griechischen Mythologie vertraut gemacht. Der junge Marcel saugt wie ein Schwamm alles auf, was er literarisch und zwischenmenschlich aufgetragen bekommt. Ein Junge mit so einer immensen Begabung kann unmöglich den Umgang zu Gleichaltrigen gesucht haben.

Auf Seite 87 geht aus dem Brief an die Großmutter hervor, dass er das Briefeschreiben vorzieht, um ihr eine Madame Catusse zu beschreiben, anstatt mit seinen Kameraden Krocket spielen zu gehen.
Mit zehn Jahren liest Marcel schon Dramen und Theaterstücke. Zudem liest er Honoré de Balzac, und Théophile Gautiers und zitiert daraus reichlich in seinen Briefen an die Großeltern.

Ein Faible hat er auch für ältere Frauen, was mir schon in seiner Recherche über die Madame Guermantes aufgefallen ist. Madame Marie-Marguerite Catusse ist hier eine junge Dame im geschätzten Alter zwischen 23 und 25 Jahren. Sie scheint eine Opernsängerin zu sein. Marcel war zu der Zeit 15 Jahre alt, als er ihren Umgang suchte. Die junge Frau ging eine Freundschaft mit Marcels Mutter ein. Der Kontakt mit dieser Frau blieb selbst dann noch bestehen, als seine Mutter 1905 aus dem Leben schied. Madame Catusse blieb eine intime Vertraute von Marcel ...

Eine prächtige Charakterisierung über diese Frau brachte der junge Marcel im Brief an die Großmutter zustande, die aber der Großmutter missfiel. Seine Reaktion dazu:
Ma chère Grand` mère,danke mir nicht für diesen Brief. Seit der Standpauke letzthin habe ich außerdem Angst, erneut gestriegelt zu werden. Aber Madame Catusse hat mir eine kleine Arie versprochen, wenn ich damit anfange, sie für dich zu porträtieren, eine große Arie, wenn ich damit fertig bin, und für alles zusammen alle Arien, die ich will. (2016, 87)

Hier habe ich mich gefragt, was eine Madame Catusse dazu treibt, sich mit einem minderjährigen Jungen abzugeben, doch es scheint wohl die Kunst, die sie beide verbindet, dazu geführt zu haben. Und hierbei zählt der Altersunterschied keine Rolle. Es sind die verwandten Seelen, die sich finden, würde der alte Goethe wohl sagen.

Madame Catusse schienen Prousts literarische Vorlieben und seine Fantasien dazu, Menschen zu beobachten und zu beschreiben, aufgefallen zu haben, zu denen sie sich ein wenig narzisstisch hingezogen fühlt, denn warum sonst möchte sie von dem jungen Proust porträtiert werden? Andere Künstler malen mit Aquarelle, Marcel malt seine Figuren mit der Feder.

Aus dieser Feder wurden schon die ersten Figuren der Recherche geboren. Marcel übt sein Metier über das Schreiben von Briefen, das später übergeht in seinen siebenbändigen Büchern Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Was ist noch aus diesen zehn Seiten zu entnehmen? Proust hat noch einen jüngeren Bruder namens Robert, der auf diesen Seiten nur peripher erwähnt wird, weil Robert noch zu klein ist. Einen Robert gibt es aber auch in der Recherche … Marcels Vater, Adrien Proust, ist Zahnarzt von Beruf.
Marcel beschäftigt sich auch mit anderen Charakteren und lernt den Kollegen seines Vaters Magitot kennen, der aus den Briefen einer Madame Victorine Ackermann, geb. Choquet, Literatin, zitiert:
Um, wie der Burgherr von Auteuil zu sagen pflegt, der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich im Übrigen sagen, dass der Doktor ein sehr gutmütiger Mann ist, sehr offen, sehr natürlich, sehr gebildet, sehr klug. Er hat sich anderntags damit vergnügt, vor einem Publikum höchst devoter Frauen und Ehemänner atheistische und gotteslästerliche Verse einer Madame Ackermann zu lesen und von A bis Z zu beweisen, dass die Religionen menschliche Einrichtungen seien, die den gesellschaftlichen Fortschritt aufhielten (…). (89)

Auf Seite 91 geht hervor, dass Marcels Mutter, Jeanette Weil, ihren Vater bittet, einen Brief vom Enkel sofort nach dem Lesen wieder zu vernichten. Auch hier zeigt sich, dass die Briefe peinlich berühren konnten. Den Brief an eine Madame Antoinette Faure hatte die Mutter sogar selbst zerrissen, angeblich, weil die Schrift zu schlecht sei, aber Marcel vermutet eher politische Motive, die darin beschrieben wurden.

Meine Meinung zu den ersten zehn Seiten, (81-91)
Wie gehaltvoll Marcels Werke sind, sowohl seine Briefe als auch seine anderen Werke, zeigen, wie viel auf diesen zehn Seiten zu entnehmen ist. Wenn ich sie nicht aufschreiben würde, hätte ich das ganz schnell wieder vergessen, denn der Inhalt wird nach dem Lesen im Schreibprozess noch weiter intensiviert und dadurch besser verarbeitet.

Ich finde es schön, dass in den Briefen auch männliche Autoritäten erwähnt werden, wie zum Beispiel den Großvater und den Vater, die mir in der Recherche ein wenig zu kurz gekommen sind.

Ich finde diesen jungen Marcel sehr sympathisch, was später aber bei mir wieder kippen wird, wenn er Menschen von oben herab behandelt und so blasiert daherredet. Man merkt, dass er seine Zeit zu sehr mit Erwachsenen verbringt und sich schon recht früh mit schweren Themen befasst, sodass diese unbeschwerte Kindheit, die er auch hatte, aber einen Schatten abgeworfen zu haben scheint, wenn er als Erwachsener zu altklug erscheint.

Ich bin so neugierig auf die weiteren Briefe, und so lassen wir das Ganze noch weiter in uns sacken.

Marcel Proust ist für mich in der Literatur, was ein Wolfgang Amadeus Mozart in der Musik ist, denn auch Mozart begann schon recht früh zu musizieren; er komponierte im Kindesalter auch erste Musikstücke. 

Telefongespräch mit Anne, 05.05.19
Ich habe mit Anne telefoniert, und ich bin richtig froh, dass auch sie die Briefe interessant findet. Wir haben unsere gemeinsamen Eindrücke geteilt. Anne hat zudem herausgefunden, dass Marcel Prousts Mutter deutsche Jüdin ist. Das hatte ich nämlich auch vermutet, da die Mutter mit Mädchennamen Weil heißt. Dass Proust Jude war, das ließ sich schon aus der Recherche herauslesen. Anne und ich waren beide erstaunt darüber, wie früh der kleine Marcel schon begonnen hatte, sich literarisch auseinanderzusetzen. Seine Ausdrucksweise faszinierte uns einerseits, doch aus der Feder eines Zehnjährigen wirkte sie ein wenig zu reif. Lange Briefe erstaunten uns, aber auch die kurzen, die aus einem Vierzeiler stammen, sind sehr einfallsreich. Was wir als mühselig empfunden haben, sind die vielen Unterbrechungen durch die Fußnoten. Positiv haben wir erlebt, dass die Fußnoten nicht hinten in einem gesonderten Glossar abgedruckt sind, sondern noch auf derselben Seite, am Ende eines Schreibens. Uns beschäftigt noch die Frage, weshalb Marcel Proust seiner fiktiven Figur aus der Recherche seinen Namen vergeben hat? Wir hoffen auf eine Lösung durch die Briefe.

Am 06. Mai 2017 hatten wir begonnen zu lesen. Ich kopiere mal unsere ersten Leseeindrücke rein, ich zitiere:

Erster Eintrag von 06.05.2017
Ich habe mit den Briefen begonnen, ich habe allerdings aus dem ersten Band erst die Chronologie geschafft, die relativ umfangreich ist. Die Briefe daraus beginne ich nächste Woche mit meiner Lesepartnerin Anne-Marit zu lesen. Aus der Chronologie konnte ich viel Interessantes entnehmen, ein paar wenige Fakten möchte ich auch hier festhalten, Weiteres ist meiner separaten Buchbesprechung zu entnehmen.

Wie den meisten bekannt ist, ist Marcel Proust Asthmatiker gewesen. Dadurch hat er permanent den Tod vor Augen gehabt, musste jede Menge Anfälle über sich ergehen lassen. Solche Asthmaanfälle sind schon erschreckend, wenn man sich vorstellt, dass einem die Luft wegbleibt und man zu ersticken droht. Durch seine Atemwegserkrankung ist Proust tatsächlich nicht alt geworden. Er starb mit 51 Jahren (1871-1922).
Als er noch lebte, quälte ihn die Sorge, er würde vorzeitig sterben, ohne seine Recherche beendet zu haben. Außerdem hatte er Angst, seine vielen Briefe, die teilweise sehr persönlich sind, würden veröffentlicht werden, kaum dass er tot sei. Ich denke mir dabei, dass er selbst die Wahl hatte. Er hätte die Briefe vor seinem Tod verbrennen können. Aber er tat das nicht, also stand er einer Veröffentlichung ambivalent gegenüber.

Worunter er noch litt, war sein Ruf. Nicht wenige bezeichneten ihn als einen Snob. Darüber musste ich so schmunzeln, denn auch ich zähle mich zu den Leser*innen, die ihn für arg blasiert hielten, siehe im oberen Text. Interessant, dass ich mit dieser Charakterisierung nicht alleine dastehe.

Sorgen bereitete ihm auch, dass die Leser*innen zwischen dem fiktiven und dem realen Marcel nicht unterscheiden könnten. Diese Sorge ist berechtigt, denn ich selbst stellte mir wiederholt die Frage, weshalb Proust dem Protagonisten aus der Recherche denselben Vornamen verpasst hatte? Nicht nur die Leser*innen sind vor diese Herausforderung gestellt, die beiden Marcels auseinanderzuhalten. Auch er, Marcel Proust, der Vater des fiktiven Marcels, muss selbst vor dieser schweren Aufgabe gestanden haben, beide Marcels auseinanderzuhalten. Wie kann er einen fiktiven Marcel kreieren und gleichzeitig Abstand gewinnen zwischen den beiden gleichen Namensträgern?

In seinen siebenbändigen Büchern gibt es sehr wohl Parallelen zu seinem eigenen Leben. Dies zeigt mir, dass es ihm nicht gelungen ist, sich als realer Marcel von dem fiktiven Marcel zu distanzieren. Warum aber war es ihm so wichtig, seinem Protagonisten seinen Namen zu verpassen? Vielleicht gibt es in den Briefen eine Antwort dazu, denn er muss sich ja etwas dabei gedacht haben.