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Montag, 20. Januar 2020

Ulrich Ladurner / Der Fall Italien (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Eine andere Form von Buchbesprechung, mehr ein Nachdenken, ein Diskutieren über verschiedene Gedanken und Fakten möchte ich hier hineinbringen, die ich mit Zitaten belegen werde. Ich zitiere nicht nur aus Ulrich Ladurners Buch, sondern auch ein Zitat aus dem Web.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Das Buch hat mich lange beschäftigt und passt wunderbar zu dem Buch, das ich davor gelesen hatte. Ian McEwan, Die Kakerlake. Auch italienische Politiker sind nichts anderes als Kakerlaken. Sie scheinen für mich EU-weit die gefräßigsten Parasiten zu sein. 

Vieles, was der Autor hier in seinem Buch beschreibt, war mir schon bewusst, aber vieles ist mir auch neu, und so konnte mir Ulrich Ladurner zumindest auch die Frage beantworten, weshalb die Italiener wiederholt Berlusconi gewählt hatten. Und weshalb sie nach der Berlusconi-Ära weiterhin auf populistische Parteien zugegriffen haben? Alle Antworten werde ich hier der Länge wegen nicht liefern können, aber zumindest ein paar Anregungen.

Es gibt in Italien derzeit keine anderen Parteien. Der Wolf im Schafspelz, sie alle, die Politiker, versprechen dem Volk ein besseres Leben. Bessere Arbeitsplätze, günstigere Mieten, und wenn sie schließlich gewählt sind, zeigen sie ihr wahres Gesicht.

Ich wusste schon, dass Italiens Regierung korrupt ist, aber ich wusste auch, dass der italienische Mensch nicht die Regierung ist, selbst wenn diese ihre Politiker gewählt haben. Aber es gibt auch in Italien ein sehr differenziertes Wahlverhalten zwischen Passivwählern, Frustwählern, Nichtwählern, Protestwählern etc.

Das Buch hat mich sehr traurig gestimmt, traurig, wie die Gutmütigkeit eines Volkes benutzt und hinters Licht geführt wird, wie mit der Psyche der Menschen gespielt und manipuliert wird. Traurig, dass es keine sauberen Politiker in diesem Land zu geben scheint, keine sauberen Parteien, sodass viele Italiener es leid sind, die Politik meiden und den Zusammenhalt nur noch in der Familie suchen.

Ich habe wirklich die Sorge, dass in Italien erneut der Faschismus ausbrechen wird. Muss ein Krieg kommen, damit das Böse ausgemerzt wird? Das Buch hat mich schon etwas niedergedrückt, aber es beschreibt die Lage, so wie sie ist.

Italien ging es nicht immer schlecht. Italien feierte auch einen wirtschaftlichen und einen sozialen Aufschwung, und zwar nach dem Zweiten Weltkrieg.
Der schnelle Aufstieg Italiens begann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die sechziger Jahre war geradezu ein rauschhaftes Jahrzehnt. Fünfzehn Jahre nach Kriegsende feierte das Land Erfolge auf allen Ebenen. Es begann mit der Olympiade 1960, bei der Italien 13 Medaillen gewann und damit hinter der Sowjetunion und der USA auf Rang drei landete. 1964 wurde die Autostrada del Sole (…) fertiggestellt, die den Norden mit dem Süden verband. (…) Die Wirtschaft boomte, und die Massen konnten sich Konsumgüter leisten. (…) Vergessen waren die Verherungen des Krieges, vergessen die Vereehrungen in den Faschismus. Die Zukunft war ein offenes Feld voller Verheißungen, man musste es nur entschlossenen Schrittes betreten. (2019, 17)

Damals wurden die Politiker noch in die „Schule“ geschickt. Es gab starke Gewerkschaften, große Parteien, eine mächtige Kirche, die ihren Mitgliedern Fortbildungen angeboten hatten, um sie auf die Politik vorzubereiten, doch leider konnte dieser Anspruch auf Dauer nicht aufrecht erhalten bleiben.
Allein zwischen 1945 und 1954 durchliefen 300 000 Mitglieder Ausbildungskurse, die Besten wurden ausgewählt und auf die Parteischule Frattocchie bei Rom geschickt. Aus ihr ging eine Reihe von später bekannt gewordenen Politikern hervor. Die Gewerkschaften hatten ihre eigenen Ausbildungszentren, die ebenfalls viele Persönlichkeiten hervorbrachten, die eine prägende Rolle in der italienischen Nachkriegsrepublik spielten. (18)

Diese stabilen und schönen Zeiten waren nicht von Dauer. In den späteren Jahren wurden die Italiener von ihren Politikern erneut enttäuscht und betrogen. Besonders in der ...
Gegenwart (hatte) kein führender Politiker mehr eine spezifische Ausbildung durchlaufen, die ihn hätte vorbereiten können, denn die Schulen der Parteien und der Gewerkschaften hatten sich fast alle aufgelöst. Es wird offenbar nicht mehr erwartet, dass der Politiker komplexe Probleme intellektuell durchdringt, sie verständlich darlegt und schließlich für Lösungen bei den Bürgern um Zustimmung wirbt. (20)

Das Volk entpuppte sich immer mehr zu einem Wutbürger, viele reagierten desillusioniert, viele sind nur noch misstrauisch, stehen den Medien missmutig gegenüber. Sie erlebten eine massive Deinstrualisierung, den Niedergang der Volksparteien, die Schwächung der Gewerkschaften.
Wer immer ihnen Nachricht überbringt, sie glauben ihm nicht. Sie fühlen sich hintergangen und umgeben von Lügnern und Betrügern. Das Misstrauen sitzt in ihren Knochen und macht sie schwer wie Blei. (22) 
Man fragt sich, wie Berlusconi es geschafft hat, an die Macht zu kommen? Für mich eine ganz klare Sache. Er hat die Medien, die in seiner Hand lagen, manipuliert, und sicher hat er als Milliardär mithilfe von Schmiergeldern Stimmen gekauft. Hier macht sich leider der Italiener, der sich hat kaufen lassen, mitschuldig an diesem politischen Verbrechen.
Als die Italiener 1994 Silvio Berlusconi zum Ministerpräsidenten wählten und ihn dreimal im Amt bestätigten, schüttelte das Ausland den Kopf. Wie konnte ein so kultiviertes Volk einem Illusionskünstler vom Schlage Berlusconis hinterherlaufen? Wie konnten die Italiener ihn immer wieder wählen, trotz seiner zahllosen Skandale und Affären? (22)

In dem Buch werden zudem noch mehrere Gründe benannt. Was ich nicht wusste, ist, dass bei der Einführung des Euros alle Italiener dafür zahlen mussten. Romani Prodi, damaliger Ministerpräsident, führte eine Eurosteuer ein.
Die Regierung zog direkt von den Bankkonten der Italiener Geld, um die Kriterien des Vertrags von Maastricht erfüllen zu können. Somit zahlten die Italiener aus eigener Tasche für den Beitritt zum Euro. Doch die Italiener waren bereit (…) zu zahlen, weil sie mit dem Euro viel Hoffnung verbanden. Europa verlangte es, und die Italiener wollten gute Europäer sein. Sie waren es aus Überzeugung und aus Notwendigkeit, denn sie hatten wenig Vertrauen in die Fähigkeiten der eigenen politischen Klasse. Brüssel sollte die Modernisierung vorantreiben. (23)

Aber mit Europa wurde es nicht besser. Im Gegenteil, der Druck nahm durch Brüssel noch mehr zu und das nutzte der wiedergewählte Berlusconi aus und führte eine Antieuropa – Politik ein und stärkte das Volk, auf die nationalistischen Werte zu vertrauen. Zum Beispiel Italien gehöre den Italienern und nicht der EU. Berlusconi nutzte das geschwächte Selbstvertrauen seiner Landsleute aus.
Mit Ausbruch der Eurokrise 2010 zerstoben diese Hoffnungen. Italien geriet ins Hintertreffen: Die Arbeitslosigkeit stieg, die Kaufkraft sank, die Wettbewerbsfähigkeit ging verloren, der Anteil der Industrieproduktion am Bruttoinlandsprodukt schrumpfte. Es war ein bitteres Erwachen. Und aus Brüssel kamen die ständigen Ermahnungen zum Sparen, zu mehr Disziplin, zu mehr Reformen. Die Italiener sollten so werden wie die Deutschen – doch da das nicht möglich war, entstand das nagende Gefühl des ständigen Ungenügens. Die EU war wie ein strenger Schulmeister, der Italien ohne Unterlass schlechte Noten gab. (…) Erst Jahre später sollte man erkennen, dass Berlusconi keine Ausnahme war, sondern ein Vorläufer-ein frühes Modell von Donald Trump, der 2016 überraschend zum US-Präsidenten vor. Berlusconi lebte das Modell des radikalen politischen Narzissmus vor.  

Dass die Italiener 2002 für den Euro selbst zahlen mussten, das wusste ich nicht. Das erklärt natürlich, dass die Italiener auf Prodi wütend wurden und ihn abgewählt haben, weil sich an der politischen Lage nichts gebessert hatte. Dann die vielen Beschimpfungen aus Brüssel, das waren die Italiener leid. 
Seit der Eurokrise scheinen die Italiener aus deren Blickwinkel wie ungezogene Kinder, die nicht recht wissen, wie man mit Geld umzugehen hat. Sie schmeißen zum Fenster hinaus, was andere hart verdient haben. Diese Vorstellung hat sich, auch dank entsprechender Berichterstattung, tief in die Köpfe, insbesondere der Deutschen, eingenistet. Da ist viel Herablassung im Spiel, viel Besserwisserei und Ignoranz. Die strengen Sparmeister des Nordens sollten aber berücksichtigen, dass andere europäische Länder enorm von der Kreativität, dem Talent und dem Leistungswillen der italienischen Auswanderer profitieren. Es war in erster Linie der viel gescholtene italienische Staat, der diese Menschen ausgebildet hat, bevor sie ins Ausland gingen.

Und trotzdem steht Italien an vierter Stelle, was die Zahlung an die EU betrifft. Noch 2016 zahlte das Land 11,48 % des Bruttoinlandprodukts an die Europäische Union. An erster Stelle steht Deutschland, an zweiter Frankreich, an dritter England, dann kommt Italien. Das allerdings habe ich aus einer anderen Quelle herausfinden können, siehe hier.
Und es gibt noch einiges mehr, was in der Rede vom angeblichen liederlichen Italien untergeht: Laut einer Studie der Europäischen Zentralbank ist das durchschnittliche Vermögen der Italiener fast dreimal so groß wie das der Deutschen, nämlich 173 600 zu 51 400 €. Auch die Schulden in ihrer Gesamtheit – Staat, Familien, Unternehmen – sind geringer als die der Dänen oder Schweden. Der italienische Staat ist arm, die italienische Gesellschaft dagegen reich. Fakten wie diese spielen in der Debatte über Italien nur selten eine Rolle. Sie finden keinen Platz zwischen all den Vorurteilen, die sich längst zu Gewissheiten verfestigt haben. (Ladurner 218) 

Schuld daran sind auch die populistischen italienischen Politiker, die in Brüssel auf den Tisch hauen und so tun, als würden sie im Auftrag des Volkes so agieren. Dabei ist das Volk selbst ganz verzweifelt über die peinlichen Auftritte ihrer Politiker.
Europäische Politik ist eine heikle, mitunter explosive Angelegenheit, weil jede Nation ihre eigene Geschichte hat. (…) Nationalgefühle sind auch mehr als sechzig Jahre nach Gründung der Europäischen Union noch nicht abgekühlt. (219)

Nun kommt ein ganz wichtiger Gedanke, den ich selbst auch habe, und den ich nun herausschreiben möchte, der aber auf alle Länder umgesetzt werden sollte, auf die im Norden geringschätzig geschaut wird:
Nicht nur, aber auch darum ist die Art, wie man übereinander redet, von größter politischer Bedeutung. Europäische Politik hat sehr viel mit gegenseitigem Respekt zu tun. Millionen Italiener fühlen sich in der Europäischen Union nicht respektiert, (…). Die Union, die sie erleben, ist nicht ihre Union, sondern ein Zwangsverein. (…) Es hätte gewiss nicht geschadet, wenn man den Millionen Italienern, die in den letzten Jahren verzweifelt gegen den Abstieg in die Armut kämpften, mit etwas mehr Großzügigkeit begegnet wäre. Es hätte nicht geschadet, wenn man in Brüssel wie auch in Berlin immer wieder darauf hingewiesen hätte, dass die Italiener den Europäern trotz all der Schwierigkeiten immer noch viel geben. Man muss bei solchen Reden die Probleme nicht verschweigen – sie liegen offen auf der Hand: Die Schwächen der Institutionen, die Unzulänglichkeit der politischen Klasse. Das sind die Kernprobleme Italiens. Das italienische Volk leidet darunter ebenso, wie Europa daran Schaden nimmt. (Ebd)

Wie schon gesagt, sollte man diesen Respekt, von dem der Autor spricht, allen Ländern entgegenbringen, die aus einer schwierigen Regierung kommen, und man sollte aufhören, die Menschen darin durch Arroganz und Besserwisserei zu bestrafen. Das hat stark diskriminierenden und rassistischen Charakter. Dass wir in einem Land geboren wurden, in dem es solche Probleme nicht gibt, dafür aber genug andere, ist nicht unserem Können geschuldet. Die Geburt eines Kindes ist wie ein Lotteriespiel. Niemand sucht sich sein Land und seine Eltern aus. Jeder Mensch muss in dem Land, in dem es geboren und seine Wurzeln geschlagen hat, bestmöglich klarkommen.

Probleme gemeinsam angehen, dann findet man auch wieder das Vertrauen der Menschen, die sich abgeurteilt fühlen.

Wieder zurück zu MacEwan und sein neustes Buch Die Kakerlake.
Wenn ich könnte, würde ich dem Schriftsteller Ian McEwan gerne einen Brief schreiben, aber der arme Mann hat sicher andere Sorgen, als sich mit den Sorgen der Italiener zu befassen. Sollen sich die Italiener doch selbst mit ihren Sorgen auseinandersetzen, würde er sicher antworten, und recht hat er. 

Es würde mir schon genügen, wenn Die Kakerlake ins Italienische übersetzt werden würde, deshalb erwähne ich ihn hier, und hoffe, den Italienern auf ihn aufmerksam machen zu können. 

Mein Fazit  
Ein sehr interessantes, bewegendes und ein nachdenkenswertes Buch, das mir viele Antworten liefern konnte. Es hatte mich zwar viele Tage über die politische Lage dieser Nation richtig betrübt, dann aber konnte ich diese Stimmung wieder überwinden und weiterlesen. Und immer wieder kommt mir McEwan mit seinem Buch Die Kakerlake in den Sinn. Wie gefräßig italienische Politiker sein können, wird hier in diesem Sachbuch noch viel deutlicher. Viele Textstellen konnte ich nur markieren, aber nicht herausschreiben, weil sie einfach zu heftig waren. Vieles habe ich aber auch nicht erwähnt, um eine Überlänge zu meiden. Ich empfehle das Buch auf jeden Fall weiter an Menschen, die sich auch für diese brisante Thematik interessieren.

Das Buch habe ich auf der Buchmesse 2019 entdeckt. Und bin recht froh darüber. Ohne die Buchmesse wäre es mir nie in die Hände gefallen.

Klare Leseempfehlung. 12 Punkte.
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Es geht nicht um den Verstand,
es kommt alles aus dem Herzen.
(Tracy Barone)

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Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)