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Sonntag, 19. April 2020

Seelische Krise

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit den Seiten 466 und 469 bis 481 

Durch Prousts schwere Erkrankungen und durch den Tod seiner Mutter im September 1905, wo 1903 schon der Vater an einem Hirnleiden verstorben ist, und zuvor die Großeltern mütterlicherseits, erleidet er eine seelische Krise auch durch den Tod seines Onkel. Proust bewundert den Erfolg anderer Mitstreiter, bei denen die Probleme sich in Wohlwollen aufzulösen scheinen. Er schreibt neidvoll an

Geneviève Strauß
21.07.1906, hier ist Proust 35 Jahre alt
Seltsam zu denken, dass das Leben, sowenig es sonst einem Roman gleicht, dies ausnahmsweise einmal tut. Ach, wir alle haben in den letzten zehn Jahren viel Kummer, viele Enttäuschungen, viele Qualen durchgemacht. Und für niemanden von uns wird die Stunde schlagen, in der unser Kummer in Freudenrausch, unsere Enttäuschungen in unverhoffte Erfolge und unsere Qualen in köstliche Triumphe verwandelt werden. Ich werde immer kränker sein, die Wesen, die ich verloren habe, werden mir immer mehr fehlen. (466)

Eigentlich mag ich Neid absolut nicht, obwohl jeder mal in eine neidvolle Phase geraten kann, aber hier, in diesen Zeilen, schmerzt mich Prousts Kummer sehr, weil er durch seine Erkrankungen, durch seinen Verlust wichtiger Familienmitglieder*innen tatsächlich vom Leben stark gebeutelt ist.
Alles, was ich mir vom Leben erträumen konnte, wird mir immer unerreichbarer sein. Aber für Dreyfus und Picquart ist es nicht so. Ihr Leben wurde wie in Märchen und Fortsetzungsromanen >von einer guten Fee geleitet<. Denn unsere Trauer beruht auf Wahrheiten, physiologischen Wahrheiten, menschlichen und emotionalen Wahrheiten. Ihre Leiden beruhen auf Irrtümern. Selig die Opfer von Justizirrtümern oder Ähnlichem. Sie sind die einzigen Menschen, für die es Vergeltung und Wiedergutmachung gilt. (Ebd.)

Aus der Fußnote ist dazu zu entnehmen:
Das Kassationgericht revidierte in einem Beschluss vom 12. Juli 1906 das Urteil von Rennes gegen Dreyfus. Daraufhin stimmten die Abgeordneten am 13. Juli für zwei Erlasse: Der erste erkannte Dreyfus`Unschuld an und gliederte ihn wieder in die Führung der Armee ein; der zweite rehabilitierte Picquart und beförderte ihn in den Rang des eines Brigadegenerals. (469)

Dass er neidvoll auf Picquart blickt, kann ich irgendwie nachvollziehen aber gegen Dreyfus, der politisch geplagt war, fehlt mir hierfür doch das tiefere Verständnis.
Wenn ich daran denke, was für eine Mühe ich hatte, Picquart auf den Mont Valérien, wo er gefangen gehalten wurde >>Les Plaisirs et les jours<< zukommen zu lassen, habe ich fast keine Lust mehr, ihm jetzt >>Sésame et les Lys<< zu schicken. (466)

Der Tod scheint kein Ende zu nehmen. Ein Jahr später, nachdem die Mutter an einer Urämie verstorben ist, verstirbt auch der Onkel, der Bruder der Mutter, an dieser grausamen Erkrankung.

Vier Wochen später schreibt er noch mal an dieselbe Dame:
Ich fühle mich seit zwei Tagen so schlecht, dass ich Ihnen nicht schreiben kann, ich will Ihnen nur sagen, dass ich wegen der Krankheit meines Onkels nicht abreisen konnte und deswegen in Versailles in den Réservoirs Quartier bezogen habe und prompt krank geworden bin. (471)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Proust, der gerade in die Ferien aufbrechen wollte, richtete sich stattdessen in Versailles ein, um seinen schwer erkrankten Onkel Georges-Denise Weil oft in Paris besuchen zu können (dieser starb am 25. August). Prousts Gesundheitszustand erlaubte es ihm schließlich nicht, seinen Onkel mehr als einmal zu besuchen, und er konnte nicht einmal dem Begräbnis beiwohnen. Zu Beginn seines Aufenthalts glaubte er wohl noch, er würde seinen Onkel jeden Tag (…) aufsuchen können, sobald er sich eingerichtet und von der Reise erholt hätte. (470f)

Auch durch den Tod seines Onkels fühlt sich Proust stark mitgenommen. Er schreibt an

Marie-Marguerite Catusse
Anfang September 1906
Mein armer Onkel war zu diesem Zeitpunkt äußerst krank, deswegen bin ich nicht weiter fortgefahren und hatte doch Paris nur verlassen, weil ich gehofft hatte, dass die Veränderungen mir ermöglichen würde, wieder vor die Tür zu kommen, was seit so vielen Monaten nicht der Fall gewesen war, und so meinen Onkel zu besuchen, was ich kein einziges Mal konnte. Als er im Sterben lag, bin ich hingegangen, ohne dass er mich wiedererkannte, und ich war derart krank von dieser Reise, dass ich nicht zu seiner Beerdigung gehen konnte, obwohl ich es unbedingt wollte. Er starb an derselben Krankheit wie Mama, einer Urämie, die ich ihm seit Jahren vorausgesagt hatte und die vielleicht hätte verhindert werden können, wenn man auf mich gehört hätte. (473)

Auch seine Mutter wollte nicht wahrhaben, wie schwer krank sie war, und hat jede Behandlung abgelehnt, bis es schließlich zu spät war.
Die Form war nicht dieselbe wie bei Mama, er hatte nicht diese Art von Lähmung, er war nie beim Sprechen behindert, dafür hatte er zwei Monate lang Höllenqualen gelitten, da diese Urämie (…) auf die Muskeln geschlagen ist, er konnte keine Bewegung machen, ohne zu schreien. (Ebd.)

Proust hatte sich intensiv mit der Erkrankung seines Onkels befasst. Er konnte sehr gut die unterschiedliche Auswirkung zwischen die seiner Mutter, und die seines Onkels benennen.
Was ich jetzt sagen werde, ist schrecklich, aber körperliches Leiden bedeutet für meine arme Mama so wenig, niemand kann ihre bewundernswerte Tapferkeit in Zweifel ziehen, im Gegenteil, sie fand in ihrem starken Herzen derart unerschöpfliche Kräfte, seelische Qualen durchzustehen, dass ich nicht weiß, ob ich für sie nicht am Ende Schmerzen vorgezogen hätte, die ihr körperlich zugesetzt, aber nicht wie die Sprachstörung und die Lähmung die Vorstellung aufgezwungen hätten, dass sie zum Tode verurteilt war und mich bald verlassen würde. Ich weiß, was ich sage, klingt barbarisch, aber ich, der seit ihrem Tod keine Stunde ohne den Versuch verbracht hat nachzuempfinden, was sie seit ihrer Rückkehr aus Evian denken und leiden mochte, erlebe dabei derartige Qualen, dass ich körperliche Schmerzen für sie tausendmal vorgezogen hätte, die ihr, wie ich weiß, so wenig bedeutet haben. (475)

Ich bin sicher, dass er meint, was er sagt, aber ich glaube, dass er körperliche Schmerzen stark unterschätzt. Körperliche Schmerzen können nämlich Menschen in den Wahnsinn treiben, je nach dem, von welcher Erkrankung sie ausgehen.
Ich weiß wohl, dass es alle, angefangen bei mir selbst, körperliches Leiden fürchterlicher ist als seelisches, aber nur, weil ich feige und egoistisch bin. Und Mama war frei von Feigheit und Egoismus in einem Ausmaß, das fast übermenschlich ist. (Ebd.)

Ich habe mich wiederholt gefragt, woher er das wissen kann? Was ein Mensch innerlich durchleidet, kann niemand mit Bestimmtheit sagen, da niemand in das Innenleben eines anderen hineinsehen kann. Dadurch, dass die Mutter vom Sprechen her beeinträchtigt war, könnte ich mir vorstellen, dass Proust ihre Stimme, ihre Worte vermisst hatte. Aber Krankheiten sind rigoros, sie kennen keine Kompromisse und gehen auch keinen Deal mit den kranken Menschen ein.

Den nächsten Brief fand ich rührend, als Proust die Ohrringe seiner Mutter an eine Arztfrau zu vermachen versucht. Mutig, dass er es schafft, sich von Gegenständen zu trennen, die seiner Mutter wichtig waren. Aber es macht auch Sinn, die Dinge an Lebenden weiterzugeben, damit diese an anderen Personen weiterleben können, statt sie in einer Schatulle aufzuheben.

An Dr. Ladislas Landowski
26. September 1906
Chér dokteur,
 Würden Sie uns, Robert und mir, als Fürsprecher dienen wollen, und Madame Landowska bitten, diese kleinen Ohrringe anzunehmen, die Maman gehört haben? Ich habe sie eigentlich nie ohne diese Ohrringe gesehen, und wir empfänden es als zu grausam, uns von ihnen zu trennen, wenn es uns nicht andererseits ein wohltuender Gedanke wäre, sie künftig in Besitz einer Frau zu wissen, für die Maman eine tiefe Sympathie empfand. (476f)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass Dr. Landowski ein Schüler von Prousts Vater gewesen ist.

Nun würde mich und Anne noch interessieren, ob die Dame das Erbe angenommen hat oder nicht? Ohrringe, die man ein Leben lang getragen hat, sind etwas Intimes, das ist, wie die Haut einer anderen Person zu tragen. Aber das werden wir nie erfahren, da uns die Antwortbriefe dazu fehlen.

Auf der nächsten Seite werden Möbel gerückt, oder rausgeschmissen, Proust weiß nicht so recht, wohin mit der großen Einrichtung, die seine Eltern hinterlassen haben, und er aus dem Elternhaus ausziehen möchte. Interessant finde ich, dass Prousts Eltern viele farbige Möbel gehabt hatten, was ich persönlich sehr liebe. Dadurch, dass die Prousts sehr häufig umgezogen sind, und das Haus, in dem sie zuletzt gelebt hatten, abgerissen wurde, kann man diese Möbel größtenteils in keinem Proust-Museum besichtigen. Soviel ich weiß, konnte in Paris nur ein einziges Möbelstück gerettet werden, und das war Prousts Bett, das in einem Museum untergebracht und zu besichtigen ist. Durch diese verflixte Corona-Krise musste meine Proust-Reise im April dieses Jahres storniert werden, sodass ich vorerst nicht mehr dazu komme, auf Prousts Spuren zu wandeln. Deshalb habe ich Lust, mir diesbezüglich eine Textpassage aus seinem Brief herauszuschreiben.

An Genevève Strauß
Anfang Oktober 1906
Da ich gezwungen war, mich von der rue de Courcelles zu trennen, habe ich seit über einem Monat täglich Wohnungen suchen lassen, und mein Zögern, meine Ängste, meine in die Wege geleiteten und dann im Moment der Unterzeichnungen rückgängig gemachten Mietvereinbarungen haben mir den ganzen Schlaf geraubt, ich habe kaum die Kraft, Ihnen zu schreiben. Letzten Endes konnte ich mich nicht dazu entschließen, in einem Haus zu leben, das Mama nicht gekannt hat, und so habe ich dieses Jahr als Übergangslösung eine Wohnung in unserem Haus am boulevard Haussmann als Untermieter genommen, wo ich oft mit Mama zum Abendessen war, wo wir zusammen meinen alten Onkel in dem Zimmer sterben sahen, das ich bewohnen werde. (478)

Das müssen kostbare Möbel gewesen sein, wie man auf der Seite 480 entnehmen kann.

Welch eine Unruhe, dieses ständige Umziehen. Selbst in der Wohnung, in der er als Untermieter billig leben wird, ist das Wohnen zeitlich begrenzt.

Telefongespräch mit Anne
Anne hat sich die Frage gestellt, weshalb Proust billige Mietwohnungen suchen lässt? Ist er doch nicht so wohlhabend, wie man dies glauben möchte? Weshalb muss er auf jeden Cent achten? Eigentlich ist er wohlhabend, ich denke schon, sagte ich, dass die Eltern ein Vermögen hinterlassen haben, das mit dem Bruder Robert geteilt ist. Nur, wo ist das Vermögen hin? Wir wissen, dass Proust schlecht mit Geld umgehen kann. Aber kann man innerhalb eines Jahres das gesamte Kapital veräußert haben? Auch hier haben wir eine Lücke, die wir entweder aushalten müssen, oder aber sie wird sich mit der Zeit anhand anderer Briefe noch füllen.

Weiterhin sind wir gespannt, wie Proust sein Leben ohne seine Mutter bewältigen wird. Derzeit befindet er sich noch in tiefer Trauer, vermisst seine Mutter schmerzlichst. Gewundert haben wir uns, dass er Probleme hat, in eine Wohnung zu ziehen, mit der er noch nicht mit der Mutter darin gewohnt hatte.

Unsere Frage außerdem: Wer sorgt für ihn, wenn er so schwer krank ist? Es gibt eine Magd, die auch über den Tod der Eltern hinaus in Prousts Haushalt hantiert.

Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 482 – 492.

Nachtrag, 27.04.2020
Die Seiten von 482 - 429 haben Anne und ich gelesen, aber da es wieder hauptsächlich um die Möbelproblematik geht, da Proust einen Umzug plant, ist meine Buchbesprechung hierzu recht kurz geworden, die ich nicht posten werde. Oder ich knüpfe sie mit der nächsten Buchbesprechung. Mal schauen wie es passen wird.


Weiter geht es nächstes Wochenende von Seite 492 bis 502.

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Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Sonntag, 5. April 2020

Marcel Proust und die Trauer um seine verstorbene Mutter

Foto: Pixabay
Weiter geht es mit den Seiten von 434 bis 458  

Dieses Mal greife ich auf die letzten zwanzig Seiten zurück, da ich letztes Mal meine Stichpunkte einfach unter den Tisch habe fallen lassen, sodass ich total vergaß, was ich mir notiert hatte. Das passiert mir immer, wenn mein Kopf zu voll ist mit noch anderen Gedanken. Deshalb hole ich dies hier nun nach.
Als die Mutter von Proust gestorben ist, haben Anne und ich uns gefragt, wie es nun mit ihm weitergehen wird? Schafft er ohne seine Mutter ein selbständiges Leben zu führen?
Er schreibt an

Anna de Noailles
Ende Sept. 1905
Sie nimmt mein Leben mit sich hinweg, so wie Papa das ihre mit sich hinweggenommen hat. (Heute habe ich sie noch bei mir, tot zwar, aber noch kann ich sie mit meiner Zärtlichkeit bedenken. Und dann werde ich sie nie wieder haben. (434)

Die Zeitung Figaro machte Jeanne Prousts Tod mit einem Nachruf öffentlich. In der Fußnote ist zu entnehmen:
Der Figaro vermeldet am Mittwoch, dem 27. September 1905 (…) den Tod von >Madame Adrien Proust geb. Weil, Witwe des Professors an der Medizinischen Fakultät (…). Sie verstarb in Paris, rue de Courcelles, im Alter von 56 Jahren. Die Trauergemeinde versammelt sich im Hause der Verstorbenen. Die Beisetzung findet statt auf dem Friedhof Père-Lachaise. Die Dahingegangene war die Mutter des bekannten Schriftstellers Marcel Proust und des Doktors Robert Proust.< (435)
Diese Traueranzeige hat mich tief berührt, allerdings habe ich mich an dem Begriff Die Dahingegangene ein wenig gestört ... Der Friedhof Pére-Lachaise ist mir bekannt. Ich bin häufig schon dort gewesen, da ich hier in der Vergangenheit einige andere Künstler aufgesucht hatte. Damals kannte ich die Proust – Familie überhaupt noch nicht, weshalb ich einen weiteren Abstecher in diese Gefilde unternehmen werde. Ich hatte dieses Jahr eine Reise eine Woche nach Ostern gebucht, die ich allerdings wegen der Corona -Epidemie wieder stornieren musste.

Marcel Proust hat den Tod der Mutter nicht wirklich verwinden können und lässt sich dadurch im Dezember desselben Jahres in ein Sanatorium einweisen, wo er auch Schreibverbot verordnet bekommt, an das er sich nur sehr schwer halten kann.
Er schreibt

An Marie Nordlinger
6. Dezember 1905

Monsieur Marcel Proust befindet sich zur Behandlung in ein Sanatorium, wo es ihm untersagt ist, zu schreiben, aber Mademoiselle Mary soll wissen, dass er jederzeit voller Hochachtung, Dankbarkeit und Zärtlichkeit an sie denkt.

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Nach einigem Zögern hatte Proust sich Anfang Dezember (…) in das private Sanatorium des Doktor Sollier in Boulogne-sur-Seine (Bolognas Billancourt) (…) begeben. Er blieb dort bis zur letzten Januarwoche 1906. Trotz des Schreibverbots schickte Proust aus dem Sanatorium kurze Briefe an Robert de Billy und Louisa de Monard (…). Das vorliegende Schreiben an Marie Nordlinger ist nicht unterzeichnet, die Handschrift konnte nicht identifiziert werden. (435)

Ich denke, dass Proust den Brief an Marie Nordlinger von einer anderen Person hat ausfertigen lassen. Das Schreiben ist in der dritten Person geschrieben. Da er schon durch seine eigenen multiplen Erkrankungen vom gesellschaftlichen Leben eingeschränkt ist, kann ich mir sehr gut vorstellen, dass ein Schreibverbot für ihn wie eine schwere Strafe aufgefasst wird. Die Briefe waren für ihn damals das Tor zur Welt, das nun hier geschlossen wurde. Aber ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass das viele Briefeschreiben die Gesundheit noch weiter beeinträchtigen kann. Das kenne ich aus eigener Erfahrung, als ich in meinen jungen Jahren selbst viel geschrieben hatte, wühlte mich das Schreiben immens auf. Ich selbst trage vom vielen Schreiben sogar eine Narbe am linken Mittelfinger mit mir herum.

In einem späteren Brief an seinem Cousin, im Juni 1906, erfährt man, dass Proust nach dem Sanatorium sechs Monate lang sein Bett nicht habe verlassen können. Eine sehr lange Zeit, die ihn regelrecht gebeutelt hatte.
Aber Sie wissen vielleicht, dass ich nach Mamas Tod ein Sanatorium aufsuchen musste. Danach bin ich hierher zurückgekommen, habe aber mein Bett oder mein Schlafzimmer in den letzten sechs Monaten nicht verlassen können. (452)

Aus der Fußnote ist zu entnehmen:

Anspielung an seinen vorigen Brief an Robert Dreyfus, wo Proust über das Wort >glücklich< schreibt:
Seit Mamas Tod hat dieses Wort keinen Sinn mehr für mich (…). (458)  

Weiter geht es nächstes Wochenende von 459 - 469.
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(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

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Sonntag, 22. März 2020

Marcel Proust und seine kranke Mutter

Weiter geht es mit den Seiten von 423 bis 434 

Marcel Proust ist noch immer krank, und sicher immens gebeutelt, dass er als ein großer Gesellschafter in gesunden Tagen keine einzige Party verpassen möchte, so ist er jetzt dazu verdammt, sich zurückzuhalten und das Bett zu hüten. Seine multiplen Erkrankungen führen ihn in eine  langwierige Zwangsisolation. Wer Proust kennt, der kann sich schwer vorstellen, dass er monatlich nur eine Stunde ausgeht. Hinzu kommt seine plötzlich schwer erkrankte Mutter, die ihm große Sorgen bereitet.

An Robert Dreyfus
Mitte Mai 1905, noch ist Proust 33 Jahre alt
Ich gehe ungefähr einmal im Monat für eine Stunde aus und liege danach eine Woche im Bett, habe Fieber, ganz zu schweigen von meinen Asthma-Anfällen. Was meinen Freund angeht, so kann ich Dich, wenn es dienlich sein sollte, nur brieflich mit ihm in Verbindung setzen. (423)

Aber Proust macht das Beste daraus. Er weiß sich zu Hause geistig zu betätigen. Das zeigt die große Anzahl seiner Briefe.
Ich hoffe, das Leben ist Dir hold und dass Du das Glück in fruchtbarer Arbeit findest. Meinerseits bin ich zurzeit, da Du Dich so liebenswürdig danach erkundigst, nicht allzu unglücklich. Ich schaffe es, ein wenig zu arbeiten – außer seit meinen entsetzlichen Anfällen – und führe ein sehr sanftes Leben, das aus Ruhe, Lektüre und einem ganz arbeitsamen Zusammensein mit Mama besteht. (424)

Auf den folgenden Seiten erkrankt allerdings auch seine Mutter seit zwei Wochen an einer schweren Harnvergiftung. Proust ist besorgt, verzweifelt, sie verweigert sogar seit zwei Wochen die Nahrung, während die Mutter sehr unvernünftig mit ihrem Leiden umgeht. Er schreibt an eine Freundin.

An Geneviève Straus
25.09.1905, Proust ist hier 34 Jahre alt
Sie ist gegenwärtig in einem entsetzlichen Zustand. Mama, die uns so sehr liebt, begreift nicht, wie grausam es von ihr ist, sich nicht behandeln lassen zu wollen. Sie ist schon mit einer akuten Urämie nach Evian gefahren, von der niemand etwas ahnte und die sich erst in Paris herausgestellt hat, denn in Evian selbst war sie nicht zu bewegen, eine Analyse durchführen zulassen. Während ich allein mit ihr in Evian war, musste ich zu meinem Kummer und trotz allen Zuredens mitansehen, wie sie auf dem Höhepunkt ihrer Schwindelanfälle schon am frühen Morgen in den Salon des Hotels hinunterging und sich dabei auf zwei Personen stützen musste, um nicht zu stürzen. Trotz ihrer Schwäche, von deren Ausmaß Ihnen allein schon die Tatsache, dass sie seit zwei Wochen nichts mehr zu sich genommen hat, eine Vorstellung zu geben vermag, lässt sie sich auch weiterhin jeden Morgen wecken, waschen, peinlich genau ankleiden, was Gift für sie ist. (433)

Schon kompliziert. Die Erkrankung nicht einsehen zu wollen, und ich mich beim Lesen dieser Zeilen gefragt habe, ob sich Madame Proust für unsterblich hielt? Nun wird mir auch klar, wieso Prousts Eltern die Ernsthaftigkeit seiner eigenen Erkrankung so wenig in Betracht haben ziehen können. Die Krankheiten scheint man in diesem Haus sehr leichtfertig hingenommen zu haben. Mir scheint, dass Jeanne Proust wie eine Pubertierende bockt, da sie nicht einmal einen Arzt an sich heranlassen möchte.
Und unmöglich, sie dazu zu bringen, ein Medikament zu nehmen oder etwas zu essen. (…) Immerhin geht es seit gestern etwas besser, nur ganz geringfügig, doch der Arzt (sofern Mama seine Besuche zulässt), versichert uns, dass Mama, sollte sie die Krise überwinden, wieder zu ihrer alten Gesundheit zurückfinden wird. Mir fällt es schwer, das zu glauben. (…) Ich habe mir immer gewünscht, nach ihr zu sterben, damit ihr der Schmerz erspart bliebe, mich zu verlieren. (Ebd)

Marcel Proust hat sich durch seine eigene schwere Erkrankung bereits in jungen Jahren mit Leben und Tod befasst. Sein Wunsch, nach seiner geliebten Mama zu sterben, um ihr den Trauerschmerz zu ersparen, ist sehr außergewöhnlich. Aber der Sohn erkennt ohnehin, dass sein Leben ohne seine Mutter ebenso qualvoll empfunden werden kann, besonders, weil er auch bis zum Schluss eine enge Bindung zu ihr gehalten hatte, obwohl er mittlerweile durch und durch zu einem erwachsenen Mann herangewachsen ist. Es war seine Mutter, die ihn an kranken Tagen am meisten versorgt hatte.
Aber ich weiß nicht, ob ihre Angst bei dem Gedanken, vielleicht von uns zu gehen, mich, der ich so unfähig dazu bin, allein im Leben zurückzulassen, oder vielleicht eingeschränkter, gebrechlicher noch weiterzuleben, ihr vielleicht noch größere Qualen bereitet. (433)

Die Mutter überlebt die Krankheit bedauerlicherweise nicht und stirbt mit 56 Jahren an den Folgen ihres Leidens. Aus der Fußnote ist zu entnehmen:
Wie Marcel Proust am selben Tag an Robert de Billy schreibt, (…) war seine Mutter an einer Urämie (...) erkrankt. Sie stirbt knapp zwei Wochen später, am 26. September, in Paris. (432)

Telefongespräch mit Anne 
Wir haben nicht nur aber hauptsächlich über Prousts kranke Mutter gesprochen. Anne nannte sie die sture Kranke, passte zu meiner Interpretation die bockige Pubertierende. Jeanne Proust nahm ihr Leiden zu leichtfertig hin, was sie letztlich in den Tod führte. Sie hätte mit zeitiger und richtiger medizinischer Behandlung genesen können. Anne und ich sind neugierig, wie Marcel nun sein Leben fortsetzen wird, nachdem seine wichtigste Bezugsperson nur noch auf dem Friedhof zu finden sei. Wir haben uns beide daran erinnert, wie sehr Prousts Erkrankung von den Eltern auch auf die leichte Schulter genommen wurde, mit dem Vorwurf, er würde seine Leiden zu arg hochspielen. Anne zeigte sich betroffen darüber, dass die Mutter zwei Wochen lang die Nahrung verweigert hatte und hat versucht, sich in sie hineinzuversetzen. Wie ist das, zwei Wochen lang nichts zu essen und nichts zu trinken?, war ihre Frage. Als gesunder Mensch ist das auch schwer vorstellbar. 

Auch sprachen wir über die intellektuellen Gespräche, die Proust mit seinen Briefpartner*innen weiterhin führte. Probleme zeigten sich wiederholt mit Robert de Montesquiou, und lässt sich darüber in einem Brief an Maurice Duplay aus. Montesquiou hatte Marcel ein Fragment aus seinem neuen Buch vorgelesen. Montesquiou bat Proust, sieben Personen seiner Wahl für eine Lesung einzuladen. In einem Brief hatte Proust gebeten, noch weitere Personen hinzuzufügen, mitunter auch Maurice Duplay einzuladen, wies der Schriftsteller ab, da dies den Charakter seiner Lesung verändern würde. (426f). Uns beiden, Anne und mir, wird dieser Montesquiou immer unsympathischer. Siehe auch letzte Briefe, letzte Buchbesprechung.

Weiter geht es nächstes Wochenende auf den Seiten von 434 – 447.

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Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)


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Sonntag, 15. März 2020

Der kranke Marcel Proust und die Enttäuschung zu seinen Mitmenschen

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Weiter geht es mit den Seiten von 412 bis 422 

Endlich gibt es mal wieder Ausschnitte aus dem Buch, die ich gerne festhalten und herausschreiben möchte, auch wenn es seit den letzten zwanzig Seiten immer wieder um Prousts chronische asthmatische Atemerkrankung geht, die seine Lebensqualität richtig einschränkt, sodass auch sein gesellschaftliches Leben in Mitleidenschaft gerät. Mich und Anne hat erstaunt, dass seine schwere Erkrankung selbst bei seinen Freunden nicht für voll genommen wird. Wenn schon die Eltern die Erkrankung nicht ernstnehmen, wie sollen das Fremde tun? Neben seiner Erkrankung leidet Proust seelisch massiv an der Reaktionen seiner Mitmenschen, wenn er krankheitsbedingt Lesungen oder andere intellektuelle Veranstaltungen absagen muss, und stattdessen das Bett hüten muss.

An Robert de Montesquiou
April 1905, hier ist Proust 33 Jahre alt

Der Schriftsteller Montesquiou ist mit Proust sehr nah. Wir vermuten, dass zwischen ihnen beiden auch ein sexuelles Verhältnis besteht, siehe Textstelle weiter unten. Proust ist erbost, dass Montesquiou kein Verständnis für seine eingeschränkte Lebensform hat erübrigen können. Mancher Federzug stimmte uns schon sehr betroffen, wie folgende Zeilen, in der Proust die katholische Kirche anprangert, die Krankheit als Folge einer schweren Sünde begriffen hatte:
Sie sind, Monsieur, grausamer als die grausamsten katholischen Theologen, die uns erklärten, dass wir unsere Krankheiten als Strafe für unsere Verfehlungen anzusehen hätten. Sie verlangen, dass wir die Krankheit selbst schon als eine Verfehlung betrachten und dass wir nicht nur physisch unter unseren Beschwerden leiden, sondern ihretwegen auch ein schlechtes Gewissen haben sollen, und dass diese Leiden, wiewohl unvermeidlich und schon schmerzlich genug, auch noch schuldhaft seien. Ich gestehe, dass in Ihrem Brief auch etwas steht, an das ich mich zwinge, nicht zu denken (…). Ich weiß sehr wohl, dass es einer Reihe von Leuten rechtens vorkäme, wenn man mich das ganze Jahr nicht zu Gesicht bekäme, nur weil ich an diesem oder jenem Tag krank und zu nichts in der Lage bin, und die andernfalls sagen: >Sieh einer an, wenn´s darum geht, sich zu amüsieren, sind Sie ganz gut beieinander. < Aber, dass Sie mir fast dasselbe sagen und dabei nicht bedenken, dass ich, wenn ich denn für die Dinge, die mir die größte Freude bereiten, gesundwerden könnte, das schmerzt mich sehr.
Der Schriftsteller hatte Lesungen gehalten, an denen Proust nicht teilnehmen konnte, was den Freund narzisstisch gekränkt haben muss. Die Traurigkeit Prousts:
Wann werde ich dem Menschen begegnen, der für mein wirkliches Leben, für meine innersten Empfindungen ein wahrhaftes Verständnis aufbringt und der, nachdem er mir angesehen hat, wie ich, da ich leidend war, das größte Vergnügen versäumte, mich eine Stunde danach (…) in den banalsten aller Gesellschaften erblickt, auf mich zutritt und in aller Aufrichtigkeit sagt: >Was für ein Glück, dass Ihr Anfall vorüber ist!< (413)
Proust vermisst die seelische Fürsorge besonders bei seinem Freund.
Sie können sich nicht vorstellen, welch nervliche Erschöpfung den Kranken befällt, der sich von jemandem, den er liebt, falsch beurteilt fühlt und der spürt, wie seine harmlosesten Ablenkungen gegen ihn ausgelegt werden. (414)

An Geneviève Straus
Ende April 1905

Proust spricht sich bei der Freundin Genevière Straus über seine Enttäuschung mit Montesqiuou aus.
Ich bin vollkommen erschlagen von Montesquoius Briefen. Jedes Mal, wenn er einen Vortrag hält, ein Fest gibt (…), will er nicht einsehen, dass ich krank bin, und vorher gibt es Mahnungen, Drohungen, Besuche von Yturri, der mich wecken lässt, und nachher Vorwürfe, weil ich nicht gekommen bin.
Die Eitelkeit der Künstler, die keine Ausnahmen, nicht mal durch eine ernste Erkrankung, zulassen kann. Mangelndes Verständnis, mangelnde Empathie, weil die eigenen Interessen ganz oben stehen. Was hat Proust denn nur für Freunde?, so fragen wir uns.
Ich glaube, man könnte noch genesen, wenn nur >die anderen< nicht wären. Aber die Erschöpfung, zu der sie uns treiben, die Ohnmacht, ihnen die Leiden begreiflich zu machen, die manchmal einen Monat lang die Folge der Unvorsichtigkeiten sind, die man begeht, um das zu tun, was sie für ein Vergnügen halten, all das ist der Tod.
Ich persönlich finde das Lesen dieser Zeilen psychisch betrachtet recht anstrengend, denn ich stelle mir diesen kranken Proust vor, der permanent herausgefordert wird, sich bzw. seine Erkrankung zu erklären. Schwierig, gesund zu werden, wenn einem das Umfeld in einer destruktiven Form permanent herausfordert.

Auf der Seite 417 bringt Proust ein kritisches Liebes-Dichtvers von Sainte-Beuve und überträgt ihn auf die Situation mit seinem Partner Montesquiou:
Das Erschreckende ist, dass man hieran ersieht, wie egoistisch die Liebe ist. Sobald der Liebhaber tot ist, ist alles vorbei, da man ja nichts mehr von ihm zu erwarten hat (was im Übrigen nicht für alle gilt.)
Hier habe ich mit Proust mitgetrauert. Die Enttäuschung, sich von liebenden Menschen verstoßen zu fühlen, weil diese nicht bereit sind, die ernste Lage des anderen zu begreifen. Hierbei scheint Montesquious Selbstliebe größer zu sein als die Liebe zu seinem Partner. 

Telefongespräch mit Anne
Anne hat sich dieselben Zitate angestrichen, die ich mir herausgeschrieben habe. Auch, weil sie so eindeutig sind. Sie war ebenso wie ich von der Verständnislosigkeit von Prousts Mitmenschen erstaunt, die man aber auch auf die heutige Zeit übertragen könne. Auch bei uns werden bestimmte chronische Erkrankungen wie z. B. Adipositas oder psychische Behinderungen nicht für voll genommen. Bezogen auf Proust dachten wir, dass er sich ein neues Umfeld suchen müsse, was wohl nicht so einfach zu bewerkstelligen sei. Freunde finden, die beides in sich tragen; Intellektualismus und Empathie.

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Wie schön ist doch ein Leben, das mit der Kunst beginnt
und bei der Moral endet.
(Marcel Proust)


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Dienstag, 10. September 2019

Astrid Lindgren / Ronja Räubertochter

Klappentext  
In neuem Gewand: Ronja Räubertochter! Die Geschichte der Freundschaft zwischen Ronja, Tochter des Räuberhauptmanns Mattis, und Birk, dem Räubersohn aus einer verfeindeten Sippe, erschien 1982 und wurde seitdem in 41 Sprachen übersetzt und weltweit über 10 Millionen Mal verkauft. Jetzt erscheint der Klassiker in einer modernen Anmutung mit farbigen Illustrationen von Katsuya Kondo.

Autorenporträt
Oetinger schreibt über die KinderbuchautorinAstrid Lindgren wurde am 14. November 1907 als Astrid Anna Emilia Ericsson auf dem Hof Näs nahe der Kleinstadt Vimmerby in Småland geboren. Mit ihren drei Geschwistern Gunnar (1906-1974), Stina (1911-2002) und Ingegerd (1916-1997) verlebte sie eine glückliche Kindheit auf dem Bauernhof ihrer Eltern Hanna und Samuel August Ericsson. 
Nach ihrem Schulabschluss 1924 begann sie ein Volontariat bei der Tageszeitung "Vimmerby Tidningen". Während dieser Ausbildung wurde sie, 18 Jahre jung und unverheiratet, schwanger - zur damaligen Zeit ein Skandal. Trotzdem weigerte sie sich, den Vater des Kindes, den Chefredakteur der Zeitung, zu heiraten, und zog daraufhin nach Stockholm. Eine Zeit der Einsamkeit brach für sie an. Ihren Sohn Lars gebar sie, wie viele Schwedinnen es in ähnlicher Situation taten, in einer Kopenhagener Klinik, die keine offiziellen Meldungen über Geburten weitergab. In den nächsten drei Jahren wuchs der Junge in einer dänischen Pflegefamilie auf, während sie selbst eine Ausbildung zur Sekretärin absolvierte.
In diesem Beruf trat sie 1928 eine Stellung im "Königlichen Automobilclub" an, wo sie ihren zukünftigen Ehemann, den späteren Direktor Sture Lindgren kennenlernte. Kurz bevor die beiden 1931 heirateten, holte Astrid Lindgren ihren Sohn Lasse zu sich nach Stockholm, der zuvor ein Jahr bei ihren Eltern in Näs gelebt hatte. Nach der Hochzeit zog die kleine Familie in die Vulcanusgatan mit Ausblick auf den Vasapark in Stockholm. Nach der Geburt ihrer Tochter Karin 1934 blieb Astrid Lindgren zunächst einige Jahre zu Hause, bis sie 1937 als Stenografin eines Kriminologen wieder in das Berufsleben einstieg. Das dort erworbene Fachwissen brachte sie später, ab 1946, in die drei Detektiv-Romane über Kalle Blomquist ein.
Astrid Lindgrens erstes Buch entstand jedoch schon viel früher. Als ihre Tochter Karin 1941 einmal krank zu Bett lag, bat sie ihre Mutter, sie solle ihr von "Pippi Langstrumpf" erzählen, einem außergewöhnlichen Mädchen, dessen Namen sich Karin spontan ausgedacht hatte. Weitere drei Jahre sollten vergehen, bis Astrid Lindgren das Manuskript zu diesen Geschichten fertiggestellt hatte und 1944 dem ersten Verlag, dem Bonniers Verlag, anbot. Prompt kam es zurück. Jahre später gab der dafür verantwortliche Verleger zu: "Ich hatte selbst kleine Kinder und stellte mir mit Entsetzen vor, was passieren würde, wenn sie sich dieses Mädchen zum Vorbild nähmen." Die Autorin hatte jedoch ihren Spaß am Schreiben entdeckt und beteiligte sich gleich darauf mit ihrem nächsten Buch am Wettbewerb des Verlages "Rabén & Sjögren" und erhielt den zweiten Preis. Daraufhin versuchte Astrid Lindgren bei diesem Verlag ihr Glück mit Pippi Langstrumpf, bekam den ersten Preis eines erneut ausgeschriebenen Wettbewerbs und erreichte im Nu eine immense Leserschaft. Es folgten weitere Preise sowie eine Anstellung als Lektorin im Kinderbuchbereich, den sie bis 1970 leitete. 
In Deutschland erschien das Buch "Pippi Langstrumpf" erstmals 1949 und bildete den Anfang und Durchbruch des Kinderbuchprogramms des Verlags Friedrich Oetinger. In den darauffolgenden Jahren entstand eine besondere Freundschaft zwischen dem Verlegerpaar Friedrich und Heidi Oetinger und der Schriftstellerin, die ihre gesamten Werke in Deutschland über den Hamburger Verlag verbreiten ließ.
Dazu gehören Bücher wie die über die Kinder aus Bullerbü, Michel und Madita, die das idyllische Leben ihrer schwedischen Kindheit beschreiben, aber auch Geschichten mit gewagten Themen wie Tod und Sterben. "Die Brüder Löwenherz" zum Beispiel lösten nach Erscheinen eine große Diskussion über die Angemessenheit dieses Themas für Kinderbücher aus. Nichtsdestotrotz feierten gerade dieses Buch und auch seine Verfilmung besonders bei den Kindern große Erfolge.
Astrid Lindgren hat rund 90 Bücher, Drehbücher und Theaterstücke verfasst, die in in rund 100 Sprachen übersetzt wurden. Längst gehören ihre Märchen, Erzählungen, Romane und Bilderbücher zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur. Alle zeugen von dem besonderen psychologischen Einfühlungsvermögen der Autorin in die Welt eines Kindes und treten für positive Werte wie Toleranz und Mitgefühl ein. Für ihr Werk erhielt Astrid Lindgren im Laufe der Zeit unzählige Preise, unter anderem den Alternativen Nobelpreis, den Deutschen Jugendbuchpreis (heute: Jugendliteraturpreis), den UNESCO Book Award, die Große Goldmedaille der Schwedischen Akademie und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Darüber hinaus wurde sie, basierend auf einer Volksumfrage, von der Tageszeitung Aftonbladet zur Schwedin des Jahrhunderts gekürt.
Neben ihrer Tätigkeit als Autorin und Lektorin engagierte sie sich intensiv für die Rechte der Kinder, Gewaltlosigkeit und den Tierschutz. So schrieb sie über eine neue Steuergesetzgebung der Sozialdemokraten als literarischen Protest das Märchen "Pomperipossa in Monismanien". Damit trug sie 1976 maßgeblich, nach 40 Jahren Macht, zur Abwahl der sozialdemokratischen Regierung bei. Auch 1985 führte ihr großer Einsatz zum Erfolg: Nach heftigen Debatten wurde in Schweden ein neues Tierschutzgesetz verabschiedet. Einen nicht unmaßgeblichen Anteil daran hatten die Zeitungsartikel, die sie zusammen mit der Tierärztin Kristina Forslund veröffentlichte und die in dem Buch "Meine Kuh will auch Spaß haben" (deutsche Übersetzung bei Oetinger 1991) zusammengefasst wurden.
Mit ihrem Alters- und Abschlusswerk "Ronja Räubertochter", das 1981 in Schweden erschien, beendete Astrid Lindgren ihre aktive Karriere als Schriftstellerin. Ihren Lebensabend verbrachte sie in ihrer Wohnung in der Dalagatan 46 im Vasaviertel in Stockholm, wo sie seit 1941 lebte und am 28. Januar 2002 verstarb. Heute trägt ihr Wohnhaus das Hinweisschild: Astrid Lindgrens Hem 1941-2002.
           (Renate Kusche/gm)

Mehr über Astrid Lindgren: www.astrid-lindgren.de

Weitere Informationen zu dem Buch
·         Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
·         Verlag: Oetinger Verlag; Auflage: 61 (1. Februar 1981)
·         Sprache: Deutsch
·         ISBN-10: 9783789129407

Hier geht es zur Verlagsseite von Oetinger.


Meine Leseerfahrung

Ich fand dieses Märchen nicht schlecht, obwohl es mich erst zum Ende hin richtig gepackt hat. Da ich dieses Buch mit Anne gelesen habe, verlinke ich meine Seite mit Annes Buchbesprechung. Sie hat eigentlich alles Wichtige benannt, sodass ich den Inhalt nicht wiederholen möchte und mache es kurz, indem ich nur ein paar Eindrücke von mir niederschreiben werde.

Ich fand viele Märchenfiguren für uns so untypisch, aber typisch für die nordigen Länder wie Schweden, Finnland, Norwegen und Dänemark.

Aber trotzdem hat mich die Thematik an Romeo und Julia erinnert. Die beiden Räuberbanden Mattis und Borka waren verfeindet, während das Mattismädchen Ronja und der Borkajunge Birk Freunde wurden, begann auf beiden Seiten der elterliche Druck, weshalb ich an Romeo und Julia gedacht habe, nur etwas kindlicher im vorliegenden Märchen. Die Freundschaft dieser beiden Kinder brachte doch eine ganz wichtige Veränderung hervor … Ich möchte nicht zu viel verraten, weshalb ich nur in Andeutung schreibe.

Wie Ronja es schafft, dass beide Räuberbanden zusammen kommen, ist dem Buch zu entnehmen.

Was mir gar nicht gefallen hat, ist, dass die Kinder Tierfelle wie z. B. Eichhörnchenfell  trugen. Das ist für mich ein No-Go. Man könnte ja sagen, die Tiere leben in Freiheit und sterben auf der Jagd der Menschen, besser als im Schlachthaus zu sterben, aber mir geht es gar nicht mal um die Menschen, die im Wald leben und vielleicht keine andere Wahl haben, als Tiere zu erlegen, um sich mit den Tierhäuten einzukleiden. Aber diese Räuber bestehlen Menschen, sie würden auch Kleider stehlen, dadurch müssten sie nicht den Tieren das Fell abzuziehen. Ich weiß, dass die nordigen Länder sehr viel Fleisch konsumieren. Sie essen sogar Bären. Tja, am kommenden Dienstag begebe ich mich nach Schweden, und habe so Manches im Reiseführer gelesen.

Kindern würde ich das Töten von Tieren und das Tragen von Tierfellen niemals vorleben. Dieses Blutvergießen wird wohl nie aufhören. 

Ansonsten fand ich das Märchen nicht schlecht.

Wer mehr wissen möchte, hier der Link zu Annes Blogbeitrag.  Sie hat eine gesamte Buchbesprechung zustande gebracht. 
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