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Montag, 23. November 2020

Raffaella Romagnolo / Dieses ganze Leben (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Was soll ich zu dem ausgelesenen Buch schreiben? Die Lorbeeren teile ich ganz gerne schon gleich in meinen ersten Zeilen meines Vorspannes aus. Aber dieses Buch hat mich eigentlich nach meiner Anfangseuphorie mehr ermattet. Zu viele komplexe Themen auf wenigen Seiten.

Als ich mich gestern Abend mit Anne über das Buch ausgetauscht hatte, Anne war damit längst durch, sind in mir tiefere Gedanken noch gar nicht zu greifen gewesen. Ich konnte sie erst am nächsten Tag, also heute, aus mir herauslocken, sodass ich sagen kann, dass ich das Buch im Nachhinein dennoch als relativ gelungen empfunden habe, wenn sich auch eine gewisse Differenziertheit an Personenbeschreibung vermissen ließ, wie ich dies später noch begründen werde.

Im unteren Teil habe ich eine kleine kritische Diskussion angeknüpft und dabei auch Romagnolo mit Ferrante verglichen. Immerzu ist aus mir heraus während des telefonischen Austauschs mit Anne ein Freudscher Versprecher herausgerutscht. Immer wieder vertauschte ich unbewusst Romagnolo mit Ferrante, bis ich mich hinterfragt hatte, was mir diese Versprecher sagen wollten? Tatsächlich konnte ich darauf eine hilfreiche Antwort finden, die ich anderen Leser*innen nicht vorenthalten möchte.

Wer nicht zu viel im Vorfeld über den Inhalt erfahren möchte, weil man das Buch selbst lesen möchte, so bitte ich, sich nur die Buchvorstellung oder die Handlung vorzunehmen. 

Hier geht es zum Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
In dieser Handlung bekommt man es in retrospektiver Form mit einer italienischen Familie aus Piemont zu tun, die aus vier Genrationen besteht. Doch die Held*innen dieser gegenwärtigen Familiengeschichte sind Paola De Giorgi, 16 Jahre alt, deren jüngerer Bruder Ricardo aber auch deren Schulfreunde Antonio und Philippo Ferrari als Nebenfiguren. Paolo und Ricardos Eltern sind wohlhabend. Hier wird Geld verschwendet, wo anderswo hart dafür gearbeitet werden muss. Der Vater leitet eine Baufirma des Familienunternehmens seiner Frau Monica namens Costa Costruzione und ist von Beruf Bauingenieur. Paolas Mutter war eigentlich die Vorstandsvorsitzende dieses Betriebes, bis ihr Mann diese Rolle von ihrem Vater zugetragen bekommen hatte ... Beide Geschwisterkinder De Giorgi sind anders als der Durchschnitt der Kinder. Ricardo ist körperlich schwerbehindert und geistig etwas retardiert, obwohl dieses Kind Schach spielt. Auch zeigt er autistische Züge. Ricardos Behinderung passt nicht in dieses fadenscheinige Familienidyll. Und auch Paola scheint vor allem für die Mutter körperlich zu unattraktiv, zu plump, zu unperfekt zu sein, da sie nicht dem Schönheitsideal entspricht. Für ihr Alter und ihre Größe ist sie eigentlich noch normalgewichtig, aber ihre Mutter gibt ihr das Gefühl, fettleibig zu sein. Paoloa ist 1,74 m groß und wiegt 75 Kilo. Außerdem leidet sie unter ihrem Pferdegesicht ... Paola ist eine reflektierte Jugendliche, kommt dadurch mit ihren oberflächlichen Schulkameradinnen nicht zurecht. Auch bei ihren Eltern eckt sie durch viele Fragen an, stößt an Mauern, versucht, Tabus aufzubrechen, als z. B. plötzlich die Carrabinieri vor ihrer Haustüre steht ... Sie spürt, dass das Familienglück mit Geheimnissen und Lebenslügen überschattet wird. Sie vergleicht ihre Familie mit der von Antonio, der aus armen Verhältnissen kommt. Antonio wohnt in einem sozialen Brennpunkt, der sich Margeritensiedlung nennt. Diese Siedlung, die in Wirklichkeit PEEP (Piano, Edilizia Economica Popolare) heißt, verabscheut Paolas Mutter, was für die Jugendliche auf Unverständnis stößt ... Der Vater kommt abends spät nach Hause und zieht sich in sein Arbeitszimmer zurück.

Das Hauptgeschehen spielt sich in der Gegenwart, im Zeitalter der sozialen Netzwerke wie Facebook und Co ab.

Ähnlich wie im Vorgängerbuch Bella ciao bekommt man es auch hier mit einer kühlen und liebesarmen Familie zu tun.

Zwischen Paola und Antonio entwickelt sich eine leise Liebesbeziehung ... Paola fühlt sich zu ihm hingezogen, da er anders ist als ihre anderen Schulkamerad*innen.

Die Autorin reißt in ihrem Buch recht sprunghaft viele Problempunkte an, die ich mal aufgelistet habe, weil ich unmöglich auf alle Themen eingehen kann, ich es aber gerne würde. Sie behandelt darin:

-   Häusliche Gewalt gegen Frauen in der ersten und zweiten Generation

-   Patriarchisches Gesellschaftssystem bis zur dritten Generation / Ungleiche Verteilung der Geschlechterrollen

-   Korruption

-   Illegale Geschäfte mit der Giftmüllentsorgung

-   Gegensätze Armut / Reichtum und Standesunterschiede aus den verschiedenen Generationen

-   Identitätsprobleme der jungen und der älteren Generation

-   Tabus

-   Fehlgeleiteter, gesellschaftlicher Wandel

-   Realitätsverzerrung / Realitätsflucht

-   Jugendliebe aus der zweiten und der vierten Generation mit Standesunterschieden

-   Sozialrassismus und patriotischer Rassismus

Eine zu starke Überfrachtung von Problempunkten, die vom Schreibstil her nicht bis zum Schluss ausgehalten wurden.

Welche Szene hat mir nicht gefallen?
Das waren ein Haufen Szenen, die ich zum Teil im Groben gerne zusammenfassen möchte. Insgesamt scheint es hier um eine italienische Familie zu gehen, die ihre Probleme von Generation zu Generation weitergegeben hat, anstatt sich ihnen zu stellen, um sie zu bekämpfen. Ganz häufig zieht die Autorin Parallelen zu den Fantasyromanen Harry Potter und Herr der Ringe zurate. Wer diese Romane kennt, weiß, wie intensiv die Kämpfe gegen das Böse ausgetragen wurden. Ganz häufig flechtet die Autorin Aragorn in ihren Erzählmustern mit ein, der als ein Symbolträger für königlichen Mut steht. Er bekämpft das Böse samt dem Schwert, packt es an der Wurzel ... Aus Harry Potter wird der Weasley Junge Ron erwähnt, der bei einer Schlacht zusammen mit Hermine Voldemorts letzten Horkrux zerstört. Im Gegensatz zu diesen mutigen Kriegern scheint die Familie De Georgi in einem Status quo oder viel mehr einem Dornröschenschlaf verfallen zu sein. Die Familienmitglieder ertragen lieber ihr unerträgliches Schicksal, indem sie die Realitäten z. B. durch Shoppen und Erfüllung von Schönheitsidealen … ausblenden, als sich einem Kampf zu begeben, der sie von dem Bösen befreien könnte. Zu groß ist die Angst vor dem Statusverlust …

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Besonders gut hat mir gefallen, dass Antonios jüngerer Bruder Philippo keine Scheu vor Ricardos Behinderung hatte. Beide Kinder gingen eine Freundschaft ein und spielten gerne miteinander Schach und so trafen sie sich regelmäßig und heimlich zu Hause bei Antonio. Kinder sind doch häufig die größeren Lehrmeister*innen verglichen zu vielen unreifen Erwachsenen, wenn man bedenkt, dass Ricardo lange Zeit vor der Gesellschaft versteckt wurde.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Es waren die Kinder Paola, Ricardo, Antonio und dessen jüngerer Bruder Philippo. Die Rumänin Nina war die einzige Sympathische von den Erwachsenen.

Welche Figur war mir antipathisch?
Die gesamte italienische Erwachsenenwelt ist mir übel aufgestoßen. Diese Oberflächlichkeit und diese Verlogenheit fand ich widerlich. Statt Probleme anzupacken, um sie zu lösen, werden sie erfolgreich verdrängt, >denn Shopping, Paoletta, ist die einzige Medizin<. Aus der Sicht der Großmutter.

Meine Identifikationsfigur
Keine.

Cover und Buchtitel
Das Mädchen auf dem Cover soll sicher Paola De Giorgi sein. Aber ein

Pferdegesicht hat sie hier nicht. Sie wirkt eigentlich recht hübsch und ansehnlich. Paola scheint durch die Mutter irgendwie in einer pubertären Wahrnehmungsverzerrung zu stecken. Erst dachte ich, dass dieses Pferdegesicht nur als eine Art Stimmung einer Jugendlichen dargestellt wird. Die innere Wahrnehmung, die durch die Mutter hineingelegt ist, macht aus Paola keine glückliche Jugendliche. Aber da sie auch von ihren Mitschüler*innen als Die Dicke mit dem Pferdegesicht verspottet wird, scheint sie tatsächlich etwas entstellt zu sein. Aber warum gibt das Cover dies nicht her? Will man die Leserschaft nicht verschrecken? Schade, dass man den Leser*innen immer schöne
Bildchen anbieten muss, um die Leselust zu stimulieren. Ich bin somit wieder neugierig auf das Originalcover geworden, das mich aber noch viel 
weniger angesprochen hat als das von Diogenes.

Und der Buchtitel? Dieser geht mehrmals aus dem Kontext hervor. Dieses ganze Leben übernommen aus dem Italienischen. Was machen wir aus unserem Leben? Wie füllen wir es aus? - war eine Frage, die sich mir aus dem Kontext heraus gestellt hat.

Zum Schreibkonzept
Dieser Familienroman ist auf 268 Seiten gepackt. Bevor es in die Familie geht, befinden sich auf den ersten Seiten eine Widmung und zwei einleitende Verse verschiedener Dichter. Das Buch ist nicht in Kapitel gegliedert. Es beginnt mit dem Monat April der Gegenwart. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der 16-jährigen Paola. Am Schluss findet man eine Anmerkung und die übliche Danksagung.

Ein paar kritische Gedanken

Was fand ich besonders an diesem Buch?
Besonders fand ich an diesem Buch, dass die mittellosen Kinder Antonio und Philippo in der Schule Klassenbeste waren und sie das Gymnasium besuchten. Endlich mal ein ins Deutsche übersetzter italienischer Roman über ärmere Kinder, die nicht als bildungsunwillig dargestellt wurden. Antonio sollte nach dem Abitur zur Uni wechseln und ging während der Sommerferien einer Aushilfstätigkeit nach, um etwas Geld dazuzuverdienen.

Besonders fand ich auch, dass die Figuren in ihrer äußerlichen Erscheinung wie Haar- und Augenfarbe durchmischt waren.

Besonders fand ich auch viele unterschiedliche Geschichten anderer Genres zum Vergleich, um die Probleme der Figuren zu verdeutlichen bzw. um ihnen den Spiegel vorzusetzen. Neben den Figuren aus den beiden Fantasieromanen denke ich hierbei auch an die Geschichte von Ciccio Kopflos. Dieses Einfließen jener Geschichten fand ich kreativ sehr gelungen. Allerdings ist unser Menschenleben kein zurechtgestrickter Fantasieroman, in dem man die Fäden der Figuren dahin lenken und strecken kann, wo man sie haben möchte. Im wirklichen Menschenleben bleibt vieles unberechenbar und unvorhersehbar. 

Realitätsüberprüfung
Der Rassismus zwischen den Nord- und den Süditaliener*innen ist heute weitestgehend nicht mehr anzutreffen, während bei Romagnolo die Süditaliener*innen noch immer mit dem abwertetenden Schimpfwort als terrone bezeichnet werden, die einen Status ähnlich wie Flüchtlinge aufgedrückt bekommen. In der Form, dass sie z. B. wieder zurück nach Hause gehen sollen. Aber dennoch finde ich es gut, dies zum Thema zu machen. Rassismus ist in Italien nach wie vor verbreitet, meist aber Menschen gegenüber, die aus anderen Kontinenten kommen. Andersherum gibt es aber auch recht viele Italiener*innen, die sich für diese Menschen sogar einsetzen.

Zu dem Rassismus den Landsleuten gegenüber habe ich verschiedene Südländer*innen befragt, die im Norden des Landes ihren Wohnsitz haben. Sie klagten über keinerlei Diskriminierungen etc. Sie fühlen sich gleichbehandelt.

Das hat mich gefreut zu hören, weil es ja doch Entwicklungen zu geben scheint. Aber gewisse Vorurteile wird es auch immer geben, das ist mir bewusst, dass sie bei einigen Menschen, wie überall auch, nicht auszurotten sind.

Auch behinderte Menschen werden nicht mehr von der Gesellschaft versteckt, sondern in der Gesellschaft integriert. In den Schulen werden behinderte Kinder inkludiert. Was verkauft uns Romagnolo für ein italienisches Menschenbild? Behinderte Menschen haben es in diesem Land nicht besser und auch nicht schlechter als woanders in Europa auch. Behinderte Menschen werden je nach Grad der Behinderung sogar in verschiedenen beruflichen Sparten eingesetzt. Schlechtenfalls bilden sie eine Parallelgesellschaft, wie sie auch in Deutschland anzutreffen ist. Auch in Deutschland ist die Inklusion längst kein abgeschlossener Prozess.

Italien war immerhin eines der ersten Länder, das behinderte Menschen in den 1970er Jahren aus Isolier- und Verwahrstationen befreit hat … In belletristischer Literatur, die ins Deutsche übersetzt werden, tauchen diese und andere Entwicklungen des Landes nicht auf, hierbei muss man auf Fachbücher oder auf Biografien zugreifen, was ich sehr schade finde, weil diese Art von Büchern von vielen nicht gelesen werden. 

Hier ein Link zur Behandlung von behinderten Menschen in Italien.

Was hat mir gefehlt?
Mir haben erwachsene Figuren mit differenzierteren Charakterstrukturen gefehlt. Überall auf der Welt gibt es verschiedene Menschentypen, die ihr (kompliziertes) Leben unterschiedlich in die Hand nehmen. Auch in Italien gibt es jede Menge Kämpfernaturen, die sich nicht mit ihrem durch die Geburt verschrienen Schicksal einfach zufriedengeben und gestalten daraus das Bestmögliche. Auch in Italien gibt es Menschen, die komplett andere Wege gehen als die Figuren in diesem Roman. Diese Art von Menschen haben mir hier einfach gefehlt. Neben dem Bösen hat mir das Gute gefehlt. 

Mitunter auch fehlende Vorbilder
Ein anspruchvolles Buch, das nicht nur zur reinen Unterhaltung dient, sollte auch positive Vorbilder aufleben lassen und nicht ausschließlich über abschreckende Figuren schreiben. 

Romagnolo und Ferrante im Vergleich
Ist Romagnolo vielleicht die Antwort auf Ferrante? Das erweckt den Eindruck, wenn man Ferrante naiv liest und man Romagnolo mit ihr vergleicht. In den Familien beider Romane gibt es wenig differenzierte Charaktere unter den Erwachsenen, während bei Ferrante die Menschen durch ihren existentiellen Kampf von Grund auf als böse, dumm und als gewaltsam triebgesteuert dargestellt werden, so könnte man bei Romagnolo glauben, dass sie das sind, weil sie sich nicht mit ihrem Schattendasein befassen. Diese Figuren packen in beiden Romanarten das Übel nicht an der Wurzel, um es herauszureißen und bleiben ewig in ihrem Leid und in dem Bösen gefangen … Wären wirklich alle Menschen dort gleich, könnte man das auch tatsächlich so glauben und so hinnehmen. Sie sind aber nicht alle gleich. Das habe ich schon als Kind begriffen, dass die Welt überall unterschiedliche Charakterformen hat, selbst dann noch, wenn man einer homogenen Gesellschaft angehört. Überall auf der Welt gibt es gute und weniger gute Menschen. Und das ist nicht mal abhängig vom sozialen Hang und Rang der verschiedenen Gesellschaftstypen eines Landes. Warum sollte das in Italien denn anders sein?

Eine italienische Apokalypse
Wie bei Ferrante ist auch dieses Buch von einer Apokalypse gezeichnet, und ich mich frage, wie es kommt, dass Italien nicht längst dem Untergang geweiht ist? Irgendwas Gutes muss es auch in diesem Land geben, wenn das Böse so mächtig ist, das am Ende sich selbst auffressen müsste. Mit einem Lupenblick suchte ich vergeblich nach gesunden Erwachsenen … Ich suchte vergeblich nach der zweiten Seite der Medaille, was ich sehr schade fand.

Deshalb weigere ich mich, dieses einseitige italienische Menschenbild anzunehmen, auch wenn mir die Probleme dort durchaus bewusst sind. Aber sie haben auch Stärken. Mir wurde immer wieder von Italiener’innen versichert, dass ich nach Italien kommen sollte und italienische Bibliotheken aufsuchen müsste, wenn ich über ein differenzierteres Italien lesen möchte. Warum werden diese Bücher nicht ins Deutsche übersetzt? Ich bin der italienischen Sprache leider nicht mächtig genug, um diese Bücher verstehen zu können. Aber ich freue mich, dass ich Zugang zu diesen Menschen habe und ihnen Fragen stellen kann, die mir helfen, sie mit differenzierten Antworten zu füllen.

Mein Fazit
Absolut ein beachtenswerter Roman für kritische Leser*innen. Für Unkritische hinterlässt das Buch leider wieder ein nur sehr einseitiges und klischeehaftes, stereotypes italienisches Gesellschaftsbild, das die Menschen auf ihre Schwächen und Probleme reduziert. Da ich dieses Bild durch deutsche Medien aber schon von Kind auf nur zu gut kennenlernen musste, bin ich reichlich gesättigt davon, daher hat es für mich nun die Konsequenz, von übersetzter italienischer Belletristik auf Biografien umzusatteln. In guten Biografien bekommt man es mit Tatsachenberichten zu tun. Mit Oriana Fallaci war ich z. B. mehr als positiv überrascht. Diese fiktiven Romane, die über Jahrzehnte hinweg eine einseitige italienische Lebenswelt darstellen, muss ich leider immer wieder hinterfragen, weil sie mir durch ihre Undifferenziertheit so wenig glaubhaft erscheint.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Da ich von der Autorin den historischen Roman Bella ciao gelesen habe, der mir viel besser gefallen hat, bin ich auf die neue Romagnolo durch den Diogenes Verlag aufmerksam geworden.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere
1 Punkte: Authentizität der Geschichte; künstliche oder glaubwürdige Erzählweise
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
1 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus 
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein

Acht von zwölf Punkten.

Vielen herzlichen Dank an den Diogenes Verlag für fas Leseexemplar. 

Hier geht es zu Annes Buchbesprechung.

Hier  geht es zum Vorgängerwerk Bella ciao.

________________

In jedem Land gibt es gute
und weniger gute Menschen.
Die Welt ist bunt,
das liegt schon in der Natur der Schöpfung.

Gelesene Bücher 2020: 23
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86

Ich lese mit Verstand und mit Herz!
Um die Welt, Menschen und die Tiere
besser zu verstehen.

Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)

Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

„Bäume haben Wurzeln, doch Menschen haben Beine, und der liebe Gott wird sich schon bei der Einrichtung der Welt auf diese Weise etwas gedacht haben. Im Grunde sind wir nicht dazu da, ortsfest wie ein Baum zu leben“.
(Denis Scheck im Interview mit Iris Wolf, aus ARD-Buchmessenbühne 2020)

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)

 

Freitag, 20. März 2020

Ian McEwan / Liebeswahn (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre 

Nun habe ich meinen achten McEwan beendet und ich kann gar nicht sagen, welcher mir am besten gefallen hat. Welcher mir partout nicht zugesagt hat, weil er mich nicht überzeugen konnte, gab es nur einen. Auf meinem Blog habe ich den Autor als Leseprojekt laufen, und alle Rezensionen sind hier abrufbar.

Obwohl ich bewusst keine Krimis und auch keine Psychothriller lese, es sei denn, dass sich der Lesestoff in diese Richtung entpuppt, ohne dass man vorgewarnt wurde, muss ich dann Ausnahmen machen. Meistens bekommt man es in diesem Genre mit grausamen Szenen zu tun, ganz häufig brutale Tierszenarien, wie auch bei Liebeswahn aber hier nur vereinzelt. Aber ich habe diese schnell wieder verdrängt und vergessen.

Bei Krimis und Psychothrillers halte ich mich immer kurz, um inhaltlich nicht zu viel von der Spannung preiszugeben. Mal schauen, was ich hier zusammenbekomme, ohne zu viel zu verraten.

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Der Held dieser Geschichte ist Joe Rose. Er ist von Beruf ein naturwissenschaftlicher Schriftsteller, Physiker, und lebt mit seiner Lebensgefährtin namens Clarissa Mellon. Clarissa ist Hochschuldozentin. Sie unterrichtet Linguistin und englische Literatur. Sie und Joe leben in einem Apartment im Norden Londons. Sie sind beide ein glückliches Paar, bis das Schicksal ihre Beziehung unter eine schwere Prüfung stellt.

Joe und Clarissa befinden sich auf einem Picknick, als sie mitbekommen, wie ein großer Ballon, der mit Helium gefüllt ist, und in dem sich ein Kind in dem Korb befindet, technisch gesehen in Schwierigkeiten gerät. Joe und andere Männer, die sich in der Nähe befanden, rennen zu dem Ballon, um das Kind zu retten. Neben dem Korb, an ein Tau festhaltend, befand sich der Großvater des Jungen, der versucht, Herr der Lage zu werden, verliert aber selbst die Kontrolle. Die Retter klammerten sich an das Seil, um den Ballon auf die Erde zu bugsieren, doch irgendwas ging schief, sodass er unaufhaltbar wieder nach oben trieb. Nun hatten auch die Helfer die Kontrolle verloren. Nach und nach ließen sie sich zu Boden fallen, außer John Logan, der einfach nicht rechtzeitig loslassen konnte, weil er unbedingt das Kind retten wollte. Logan stürzt, als der Ballon schon zu hochgestiegen war, und kommt dadurch ums Leben.
Joe leidet durch Logans Tod unter Schuldgefühlen.
Ich hatte das Seil losgelassen. Ich hatte geholfen, John Logan zu töten. (2000, 49)
Nach dem Sturz lernt er noch am Unfallort Jed Parry kennen, seinen Stalker, und wird ihn nicht mehr los. Parry bekennt seine Liebe zu ihm, die allerdings in keine sexuelle Richtung geht, eher in eine obsessive religiöse …

Welche Szenen haben mir nicht gefallen?
Die Szenen mit der Polizei fand ich grausam, als Joe sich hilfesuchend an sie wendet. Aber die Sicherheitskräfte schätzen den Zwischenfall mit Parry nicht als bedrohlich ein. Von zu starken objektiv infizierten Fragen wird es für die Profis schwierig, auf Joes Nöte einzugehen.

Die Szenen mit Clarissa fand ich ebenfalls deprimierend, die ähnlich wie die Polizeibeamten reagiert. Auch sie nimmt ihren Partner nicht für voll, und strickt daraus ein psychisches Leiden, das von ihm ausgehen würde ...

Welche Szene hat mir besonders gut gefallen?
Dass am Ende die Abrechnung kam.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Keine.

Welche Figur war mir antipathisch?
Clarissa Mellon.

Meine Identifikationsfigur
Joe Rose.

Cover und Buchtitel
Das Cover ist selbsterklärend. Der Buchtitel ist sehr gut getroffen.

Zum Schreibkonzept
Auf den 356 Seiten ist das Buch in 24 Kapiteln gegliedert. Die Geschichte ist aus mehreren Perspektiven erzählt. Am Ende gibt es einen Anhang, den ich nur quergelesen habe, da ein Teil davon aus einer Begriffsklärung besteht. McEwan geht auf den klinischen Fachbegriff Clérambault-Syndrom ein. Da ich beruflich aus der Psychiatrie komme und mir der Begriff vertraut ist, habe ich ihn im Buch nicht weiter vertiefen müssen. Aber für andere Leser*innen kann dieser Part des Buches hilfreich sein. Es folgt ein Fallbeispiel. Im Anschluss gibt es eine Erörterung, dann eine Schlussbetrachtung, die aus zwei Teilen besteht. Die Handlung wird aus Jeds Ichperspektive beendet, als er Joe seine Sichtweise in einem Brief offenbart. Leider kann ich hier keine Details nennen, sonst nehme ich den anderen Leser*innen die Spannung weg. Das ist der Nachteil bei Krimis und Psychothrillers, dass man keinen Satz zu viel schreiben darf. Obwohl ich hier aus Parrys Brief gerne herauszitieren würde.

Meine Meinung
Das Buch ist kein typischerer Psychothriller, dafür ist er nicht spannend genug, aber spannend von der Konstruktion der menschlichen Psyche her. Der Focus ist hier mehr auf menschliches und psychologisches / psychiatrisches Verhalten gesetzt, was sehr wohl mit realistischen Fällen verglichen werden kann. Hierbei hat der Autor über seinen Stoff sehr gut recherchiert. Mit dem Ende war ich allerdings nicht ganz zufrieden, da er im Anhang gepackt war. Hier erfährt man erst, was mit Parry passiert ist.

Mein Fazit
Sehr lesenswert. Mit bester Empfehlung.

Wie ist das Buch zu mir gekommen?
Ich habe selber beim Diogenes Verlag eine Anfrage gestellt. Vielen herzlichen an die Pressereferentin Susanne Bühler für die Zusendung dieses Leseexemplars.

Meine Bewertung

2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (sachlich, fantasievoll, distanziert)
2 Punkte: Differenzierte, facettenreiche Charaktere 
2 Punkte: Authentizität der Geschichte; 
2 Punkte: Erzähl-und Schreibstruktur, Gliederung vorhanden 
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein.

12 von 12 Punkten


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Jeder kann die Welt mit seinem
Leben ein wenig besser machen.
(Charles Dickens)

Gelesene Bücher 2020: 06
Gelesene Bücher 2019: 29
Gelesene Bücher 2018: 60
Gelesene Bücher 2017: 60
Gelesene Bücher 2016: 72
Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.

Es lebe die menschliche Vielfalt in Deutschland und überall.
(M. P.)


Samstag, 14. Dezember 2019

Tracy Barone / Das wilde Leben der Cheri Matzner (1)

@ Canva / Pixabay
Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Gleich vorneweg gesagt; das Buch ist dermaßen interessant geschrieben, dass ich Mühe hatte, es für eine Lesepause mal wegzulegen. Jede Figur war faszinierend, so viel Facette, so viele Geschichten in einer einzigartigen Familie, die sich in keine Schublade pressen lässt. 

Hier geht es zum Klappentext, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Die 16-jährige drogenabhängige Miriam bringt in einem Armenkrankenhaus ein Kind zur Welt. Gleich nach der Geburt befreit sich Miriam von ihrer Infusion, verlässt die Klinik und lässt aber ihr Kind zurück. Der gleichaltrige Billy Beal, der in der Klinik Sozialstunden ableistet, nimmt das Kind zu sich, um es nach Hause zu den Eltern zu bringen. Billys Mutter versorgt das Kind, bis eine neue Elternschaft gefunden werden konnte. Es ist das Jahr 1962, im August.

Die Uhr um ein paar Jahre zurückgedreht, Ende der 1959er Jahre, lernen wir die Italienerin Carlotta D´Ameri kennen, Kurzform Cici, die in Varese ausgewachsen ist. Auf einer Mailänder Messe lernt sie ihren zukünftigen 32- jährigen jüdischen Mann Solomon Matzner kennen, der von Beruf Doktor der Medizin ist. Es scheint Liebe auf den ersten Blick zu sein, beide fühlen sich wie magisch zueinander hingezogen. Cici ist erst 18 Jahre alt, als sie sich bereit erklärt, nach großen familiären Konflikten durch den Stiefvater ihre Familie und ihr Land zu verlassen, um mit Solomon nach Amerika auszuwandern, damit sie dort mit ihm ein neues und glücklicheres Leben beginnen kann. Innerlich klagt Cici ihre Mutter an, die nach dem Tod ihres geliebten Vaters mit einem anderen Mann eine Zweckehe eingegangen ist.

1962 wird die junge Cici schwanger und freut sich auf ihr Kind. Doch leider stellen sich ihr im August 1962 schwere Komplikationen ein und musste notoperiert werden. Das Kind wurde chirurgisch geholt, aber es starb wenige Stunden danach im Brutkasten. Dazu kommt, dass Cici die gesamte Gebärmutter entfernt bekommen hat, und sie keine eigenen Kinder mehr bekommen kann. Sie erleidet einen schweren psychischen Zusammenbruch, als ihr die schlechten Nachrichten übermittelt wurden.

Zuhause igelt sich Cici ein, und verweigert jeglichen Kontakt zur Außenwelt und zu ihrem Mann. Durch ihren tiefen seelischen Schmerz neigt sie zu Autoaggressionen. Solomon erträgt es nicht, und versucht seiner Frau zu helfen, indem er ihr ein Kind kauft.

Es ist das Kind von Miriam, an das er durch einen guten Anwalt kommt. Die Familie Beal erhält Geld für das Baby, und das nicht zu knapp. Solomon tut alles, um seine geliebte Frau wieder zurückzubekommen. Und tatsächlich, das Kind bringt eine Wende in Cicis Leben, doch aber nicht für Solomon. Durch den Verlust ihres eigenen Kindes erdrückt Cici das Adoptivkind mit all ihrer Liebe. Sie lebt nur noch für das Kind und vernachlässigt dabei ihren Ehemann. Neue Konflikte sind dadurch vorprogrammiert.  
Du bist nicht nur Mutter, du bist auch Ehefrau. Ich war zuerst da, und ich sollte an erster Stelle stehen. (231)

Das Mädchen bekommt den Namen Cheri, und es spürt recht früh, dass in ihrer Familie etwas nicht stimmt. Solomon baut eine recht kühle Beziehung zu Cheri auf. Unbewusst macht er sie für den Liebesverlust seiner Frau verantwortlich. Und von der Mutterliebe fühlt sich Cheri erdrückt ... Auf einem Italienausflug zu Cicis Familie erfährt Cheri im Alter von acht Jahren, dass sie ein Adoptivkind ist.

Im Laufe ihrer Jugend begibt sich Cheri durch die Konflikte ihrer Eltern immer wieder in die Rebellion. Sie lehnt das spießige Leben ihrer Eltern ab und flieht immer mehr in ihre eigene Welt. Sie fängt an, sich für Menschen zu interessieren, die keinen geraden Weg gehen, wie z. B. Junkies, Prostituierte, Kriminelle, etc., da Cheri dieses überpriviligierte Leben ihrer Eltern einfach nur satthat. Später ergreift sie den Beruf als Polizistin und glaubt, dies gegenüber ihren Eltern aus einer Protestreaktion heraus tun zu müssen. Später studiert sie Religionswissenschaften und altorientalische Philologien und bringt es mit Ende dreißig zu einer Professorenstelle, in der sie sich als Frau allerdings schwer durchschlagen muss …

Cheri führt eine Ehe mit Michael, der auch seine eigenen Wege zu gehen scheint. Kinder konnten sie trotz medizinischer Hilfen nicht bekommen, und so blieb der Kinderwunsch unerfüllt, wobei Cheri gar nicht weiß, ob sie wirklich Kinder haben wollte. Cheri führt einen lebenslangen Kampf mit ihrem Leben und begibt sich auf eine lange Suche nach einem Platz in dieser Welt. Sie glaubt, dass die Weichen dieses Kämpferlebens schon in der Kindheit durch ihre Adoptiveltern gelegt wurden.

In ihrer Kindheit, als sie erfuhr, dass sie ein Adoptivkind ist, fing sie an, ihre leiblichen Eltern zu idealisieren. Die Suche nach diesen fand aber erst sehr viel später statt …

Welche Szenen haben mir nicht gefallen?
Der Rassismus wurde in allen Breiten deutlich, mal eher latent und mal ganz offensichtlich. Cici, die als junges Mädchen sich im Nebensatz abfällig über Sizilianer*innen geäußert hat, erinnert nochmals an den Rassismus, den Italien mit seinen eigenen Landsleuten zwischen Nord und Süd begeht, der von der italienischen Regierung bis heute noch weiter forciert wird. Und dann sind in Amerika Solomos Eltern, die ihn aus der Familie verstoßen hatte, da er zum Katholizismus konvertiert ist und eine Schickse geheiratet hat. Nicht zu vergessen Cookie, eine schwarze Bedienstete der Matzners, die für wenig Geld in den Dienst dieser Familie getreten ist, wobei Cookie noch Glück hatte, da Solomon ihr im Alter eine Rente zugesichert hatte. Und auch der Rassismus gegen Juden musste Cheri in der Arbeit bei der Polizei immer wieder über sich ergehen lassen.
Cheri war es gewohnt, für eine Jüdin gehalten zu werden. In ihrem früheren Leben als Polizistin (…) hatte man sie als >Bagel-Schlampe< und Schlimmeres verhöhnt, doch sie hatte darauf verzichtet, sich damit zu wehren, dass sie keine Jüdin sei. Dies hätte impliziert, dass der Antisemitismus ihrer Kollegen nur deshalb verwerflich war, weil er auf falschen Annahmen über ihre Person beruhte. (125)

Des Weiteren fand ich die Szene mit Cicis Stiefvater dermaßen brutal, dass sie mich noch lange beschäftigt hat. Der Stiefvater, der mittlerweile ein alter Mann geworden ist, betritt ohne Begrüßung den Raum, in dem sich die achtjährige Cheri ohne ihre Mutter befand. Er ging auf das Kind zu, packt es an der Schulter, und ohne sich ihr vorzustellen, weist er ihr gestikulierend, mit ihm mitzukommen. Er händigt Cheri eine Kinderpistole aus. Er nahm Cheri mit auf die Jagd. Sie musste mit ihm ohne Pause einen langen Waldweg zurücklegen. Der Großvater schoss auf Vögeln und zeigte dem Kind die Technik, bis es die Anweisung erhielt, nun auch auf einen Vogel zu schießen.

Als Cici erfuhr, dass ihr verhasster Stiefvater das Kind mit auf die Jagd nahm, beschimpfte sie ihn, bis sie schließlich mit Cheri verärgert wieder abgereist ist.

Weil Cici wie ein Junge gewirkt hatte, und nicht so adrett wie ein Mädchen gekleidet war, behandelte der alte Mann das Kind auch wie einen Jungen. Er wirkte wortkarg, kalt und hartherzig, so wie damals, als ihre Mutter diesen Mann geheiratet hatte. Aber Cheri fand das ganz toll und war stolz, dass sie einen Vogel erlegen durfte und sie die harte Tortur hat über sich ergehen lassen können, ohne schlapp gemacht zu haben.

Aber Vorsicht, nun bitte nicht mit dem Zeigefinger auf Italien zeigen, das angeblich auf ihre traditionellen Rollenmuster bestehen würde. Wir befinden uns hier Anfang der 1970er Jahre. Ich selbst war auch in diesem Alter wie ein Junge gekleidet, und ich wurde deshalb an meiner deutschen Schule diskriminiert. Als wir in den Sommerferien für sechs Wochen nach Italien gereist sind, hat mich niemand meines Aussehens wegen beschimpft.

Welche Szenen haben mir besonders gut gefallen?
Darüber musste ich lange nachdenken. Beeindruckt haben mich Szenen der Selbsterkenntnis, die auch bei Cici erfolgt sind.
Sie hatte einen so großen Teil ihrer Liebe und Energie in die Mutterschaft investiert, weil sie es besser machen wollte als ihre Mama. Sie hatte nur ein Kind und glaubte, es sei genügend Platz in ihrem Herzen. Aber es war nicht genug für Sol übrig geblieben, das ist ihr inzwischen klargeworden. Wie jung sie damals noch war! Und wie ahnungslos. (407)

So wie Cheri innerlich gegen ihre Eltern rebelliert hat, so hatte auch Cici Groll gegen ihre Mutter gehegt.
Cicis Papa war gestorben, als sie noch klein war, aber sie erinnerte sich an den Gesichtsausdruck ihrer Mutter an dem Tag, als es geschah, ein Ausdruck, der sagte, dass die Welt niemals wieder dieselbe sein und sich nie wieder sicher anfühlen würde. Sol hatte Cicis Welt sicher gemacht. (410)

Cheri war wütend auf ihre Mutter, da sie sich wirtschaftlich von ihrem Vater abhängig gemacht hat. In diese Fußstapfen wollte Cheri niemals treten und so tut sie alles, um ihr Leben als eine emanzipierte Frau souverän zu meistern und sich niemals von dem Gehalt eines Mannes abhängig machen zu wollen. Sogar in ihrer Ehe gibt es einen Rollentausch, da ihr Mann Michael durch seinen Künstlerberuf sehr wenig verdient hatte.

Welche Figur war für mich eine Sympathieträgerin?
Cookie. Ohne große Bildung ist sie eine so weise Persönlichkeit, die mir wirklich sehr imponiert hat. Sie half Cici und auch Cheri immer mal wieder aus ihren Krisen heraus. Als Cheri psychisch zusammenbricht und in ein tiefes Loch fällt, weil ihr Mann Michael an einem schweren Krebsleiden verstorben ist, konnte Cici, die weit weg von der Tochter wohnte, am Telefon keinen Zugang zu ihr finden, und so beschließt sie, zu ihr zu reisen. Cookie gibt Cici daraufhin folgenden Rat, weil sie Angst hatte, ihre Tochter seelisch nicht erreichen zu können:

Wenn sie nicht reden will, setzt du dich einfach zu ihr und bist still. Dein Kind bleibt immer dein Kind, egal, wie alt es ist. Du sollst da nicht hinfahren, um von dir zu reden, mit den Händen zu fuchteln und rumzujammern. Fahr einfach hin und sei ihre Mutter. (2019, 388)

Welche Figur war mir antipathisch?
Cicis Stiefvater.

Meine Identifikationsfigur
Ich habe mich episodenhaft fast in jede Figur widerspiegeln können. Das macht das Menschsein aus, so denke ich mir. Es ist schon möglich, sich in jedem Menschen zu finden, wenn man nur will.

Cover und Buchtitel
Wer ist die Person auf dem Cover? Eigentlich müsste das Cheri Matzner sein, aber nach meinem Gefühl ist das eher Cici. Den Buchtitel finde ich nicht wirklich passend. Ein wildes Leben hat Cheri keineswegs gehabt. Zusammen mit ihren Eltern eher ein sehr, sehr trauriges Leben.

Zum Schreibkonzept
Auf den fünfhundert Seiten befindet sich zu Beginn eine Widmung, auf der darauffolgenden Seite folgt ein Zitat von Leo Tolstoi aus der Anna Karerina. Danach gibt es einen recht kurzen Vorspann im Telegrafenstil zum Geburtstag von Cheri, was sich alles in der Welt an diesem Tag, 5.08.1962, ereignet hat.
Der Roman besteht insgesamt aus vier Teilen. Jeder Teil ist spannend konstruiert, und man wird immer wieder in verschiedene Welten geführt. Am Schluss wird man wieder im Telefegrafenstil daran erinnert, was sich neben Cheris Geburt an diesem Tag in der Welt ereignet hat. Es gibt einen kurzen Abschlussbericht, was sich für mich wie ein Epilog gelesen hat.

Meine Meinung
Als ich das Buch ausgelesen hatte, gab es sehr viele Eindrücke und Gedanken, die dieses Buch in mir ausgelöst hat, über die ich schreiben wollte. Und viele schöne Zitate wollte ich einbringen, und habe mich schließlich dagegen entschieden, um anderen Leser*innen nicht zu viel vorwegzunehmen. Einerseits finde ich es schade, weil ich sehr gerne über meine Eindrücke schreibe, weil es schön ist, später, nach ein paar Jahren, daran erinnert zu werden. Ich schreibe nicht gerne, was andere Rezensent*innen schreiben und ich mag auch nicht von anderen beeinflusst werden. Aus diesem Grund liebe ich persönliche Buchbesprechungen.

Mein Fazit
Mit diesem Buch wird man erinnert, dass jede Familie anders ist. Jede Familie hat ihre Facetten, ihre eigenen Tabus und Geheimnisse. Sie zu kategorisieren oder sie in eine Schublade pressen zu wollen, das hat auch Cheri irgendwann begriffen, dass man damit nicht weiterkommt, wenn man versuchen will, sie zu verstehen.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
2 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen,Vorurteilen, Klischees und Rassismus
1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Elf von zwölf Punkten.

Eine ganz klare Leseempfehlung.

Vielen herzlichen Dank an den Diogenes-Verlag für das Leseexemplar.
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Es geht nicht um den Verstand,
es kommt alles aus dem Herzen.
(Tracy Barone)

Gelesene Bücher 2019: 29
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Gelesene Bücher 2017: 60
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Gelesene Bücher 2015: 72
Gelesene Bücher 2014: 88
Gelesene Bücher 2013: 81
Gelesene Bücher 2012: 94
Gelesene Bücher 2011: 86


Der Mensch ist mehr als nur die biologische Erbmasse.
Er ist, was er innerlich denkt und fühlt.
(M. P.)
Die Herkunft eines Menschen
Die Wurzeltheorie verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, und dies nur, weil sie eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.
Es lebe die Vielfalt.
(M. P.)