Montag, 30. September 2019

Proust und sein Erfolg als Ruskin-Übersetzer

Weiter geht es mit Proust-Briefen von Seite 301 - 312.  

Nach einer kurzen Proust-Pause geht es nun weiter. Man erfährt nebenbei aus der Fußnote, wann Prousts Großeltern mütterlicherseits gestorben sind, denn im zweiten Brief geht es um einen Todesverlust, den sein Freund zu verwinden hat. Der erste Brief geht an einen Herrn namens Alfred Vallette, an dem Proust seine Übersetzung zu Ruskins Werk geschickt hat.

Alfred Vallette, Verlag Mercure
27.11.1902, Marcel Proust ist hier 31 Jahre alt

Alfred Vallette ist der Verleger von Prousts Manuskript zu Bible d´Amiens. Zur Erinnerung: Proust arbeitet hier als Übersetzer. Er hat das oben genannte Buch von dem englischen Kunsthistoriker John Ruskin ins Französische übersetzt. John Ruskin hatte hier über das Christentum in Frankreich und über den Bau der Kathedrale Notre-Dames d´Amiens im 13. Jahrhundert geschrieben, weshalb Proust dieses Buch unbedingt übersetzen wollte. Der Verleger hatte Prousts Manuskript jedoch abgelehnt.
Und wieder habe ich mit Genuss gelesen, wie Proust sich geschickt zu widersetzen wusste.
Sie lehnen also meine Arbeit Bible d´Amiens ab, und, offen gestanden, ich verstehe nicht, warum. Selbst wenn Sie, wie Sie sagen, gesondert publiziert ohne Bedeutung bliebe, hätte eine solche Veröffentlichung ohne materielles Risiko, denn die Kosten würde ich übernehmen, für den Mercure nichts Ehrenrühriges. Denn schließlich handelt es sich um ein schönes, unbekanntes und einzigartiges Werk. Glauben Sie, dass der Mercure einen Fehler beginge, wenn er einen Ruskin herausbrächte, der darüber hinaus nach Meinung vieler der Schönste aller Ruskins ist? Ich sage Ihnen das in aller Aufrichtigkeit, denn unter allen Ruskins habe ich eben diesen für eine Übersetzung auserwählt. Und ich behaupte, dass, wenn man auch nur einen Ruskin übersetzen wollte, gerade dieser, auch wenn er nicht der schönste wäre, veröffentlicht werden muss. Denn er ist der einzige, der von Frankreich handelt, von der Geschichte Frankreichs und gleichzeitig von einer französischen Stadt und der französischen Gotik. Und ginge es auch nur darum, dem Leser zu gestatten, sich selbst ein Bild zu machen, denn es ist immerhin leichter, nach Amiens zu fahren als nach Verona oder Padua. Und das berührt uns immerhin mehr. (…) Ich glaube, ich hatte Ihnen auch einen Abschnitt (…) aus dem Buch von Monsieur Brunhes zitiert, in dem dieser sagt, dass, wenn uns Franzosen ein Buch von Ruskin etwas anginge, es die Bible d´Amiens sei, das einzige, in dem es um unsere Geschichte und um unsere Baudenkmäler gehe.
(305)

Ich habe mal auf die Landkarte geschaut und Amiens liegt ganz oben im Norden Frankreichs.

Proust hatte mit seinem Widerspruch Erfolg. Interessant fand ich, dass er für die Kosten der Publikation selbst aufkommen wollte. Aus der Fußnote geht allerdings hervor, dass sein Buch schließlich zu normalen Honorarbedingungen veröffentlicht wurde. Es wurde zwischen dem Verlag und Proust Konditionen vereinbart, die im Vertrag festgelegt wurden. Des Weiteren geht aus der Fußnote hervor:
Mit demselben Argument (Übernahme der Kosten) versuchte er später, einen Verleger für die Veröffentlichung von „Du coté chez Swann“ zu gewinnen. (306)

Ist das manipulativ gemeint? Aber ich glaube, Proust wäre wirklich für die Kosten aufgekommen. Heute werden Autor*innen, die ihr Buch in einem Selbstverlag herausgeben, als Indie Autor*innen bezeichnet. Zu Prousts Zeiten wären solche Bücher eher als Eitelkeitsdruck bezeichnet worden.

Schön, dass Proust es geschafft hat, sein Buch auf den Markt zu bringen. Ich freue mich für seinen Erfolg, wo er doch so dafür gekämpft hat.

Der nächste Brief beschäftigt sich mit der Trauer seines Freundes, dessen Mutter verstorben ist. Der Brief ist so ergreifend, dass ich unbedingt daraus zitieren möchte. Wie empathisch Proust auf seinen Freund zu sprechen scheint, hat mir sehr imponiert.

An Antoine Bibesco, Prousts Liebhaber?
Dezember 1902
Mon petit Antoine,
sosehr ich auch die ganze Zeit über an Deinen Schmerz gedacht und ihn mir auf grausame Weise vorgestellt habe, war es doch für mich ein neuer Schlag, so als ob ich zum ersten Mal klar Deine Verzweiflung empfunden hätte, als ich Deinen armen Brief erhielt, als ich Deine kleine, völlig veränderte Schrift erblickte, fast unkenntlich mit ihren verkleinerten, eingeschrumpften Buchstaben, Augen gleich, die durch vieles Weinen ganz klein geworden sind. (…) Ich weiß, dass Du just in dem Augenblick nach Paris kommen wirst, da ich es verlassen werde, und das betrübt mich. Oder vielmehr, es betrübt mich nicht, denn dann werde ich Paris eben nicht verlassen, was immer auch geschehen mag, und es wenigstens so einrichten, einen guten Monat lang in der Nähe meines armen, lieben Antoine zu verbringen, um mit ihm zu weinen, oder eher, um nicht zu weinen, um zu versuchen, ihn wieder ans Leben zu fesseln. Um liebenswürdig und ritterlich zu sein, kurz, um alles zu tun, was in meiner Macht steht. (308)

Diese Empathie, die Proust seinem Freund entgegenzubringen weiß, finde ich phänomenal. Nur wenige Menschen schaffen es, dieses Verständnis für einen anderen in sich aufzubauen, wenn eine wichtige Bezugsperson stirbt. Die meisten kommen mit Floskeln, wie z. B. dass der Tod zum Leben gehören würde, oder man gibt dem Trauernden das Gefühl, zu schwach zu sein, wenn er seinen Verlust (ungewollt) so offen zeigt. Hierbei ist Proust wirklich ganz anders. Er findet einen Weg zum Herzen seines trauernden Freundes, wie er es selbst so schön ausdrückt, und bettet den Freund tief in seine mitfühlenden Gedanken ein.

Proust schreibt dem Freund von der Trauer seiner Mutter, als ihre eigenen Eltern 1890 und 1896 verstarben:
Als Mama ihre Eltern verlor, war es, wie ich mich erinnere, ein solcher Schmerz für sie, dass ich mich heute noch frage, wie sie hat weiterleben können. Obwohl ich sie doch täglich und stündlich sah, habe ich sie einmal angerufen, als ich nach Fontainebleau gefahren war. Und durch das Telefon erreichte mich plötzlich ihre kleine, gesprungene Stimme, die für immer anders war, als ich sie bisher gekannt hatte, wie verletzt, rissig und schrundig, und als ich aus dem Hörer die blutenden und zerschlagenen Stücke auffing, empfand ich zum ersten Mal qualvoll, was auf immer in ihr zerbrochen war. Mit deinem Brief geht es mir ähnlich, man spürt aus ihm Deinen unermesslichen Widerwillen zu schreiben, sowohl von Deinem Schmerz zu sprechen, wie über ihn zu schweigen. (307)

Aber Proust versucht gleichzeitig, den Freund wieder an das Leben zu binden. Nebenbei erfährt man von den Heiratsplänen von Prousts jüngerem Bruder Robert, in dem er darüber seinem Freund berichtet. Aus der Fußnote ist zu entnehmen, dass die Hochzeit von Robert Proust und Marthe Dubois-Amiot am 03.02.1903 stattfand.

Meine Gedanken
Mich hat Prousts Empathie sehr fasziniert, wie liebevoll er seinem trauernden Freund aus der Ferne Nähe zu vermitteln versucht hatte. Wenn solche Menschen mich thematisch in eigener Sache mit oberflächlichen Floskeln abspeisen, dann war es das letzte Mal, dass ich mit diesem Menschen über meine Trauer gesprochen habe. Derzeit bin ich wegen meiner schwer kranken Mutter als Trauernde selber betroffen, und dann tut es gut, eine empathische Freund*in an der Seite zu haben. Aber ich ziehe es dann doch lieber vor, alleine diesen Pfad der Trauer zu gehen, wenn es mir an solch einer Partner*in fehlt.

Telefongespräch mit Anne
Wir haben uns darüber ausgetauscht, wie versiert Marcel Proust mit seinem Verleger korrespondiert hat, dass er es dann schließlich doch noch geschafft hat, ihn von einer Veröffentlichung seines Ruskin Manuskripts zu überzeugen, und zwar ohne finanzielle Eigenbeteiligung. Nicht nur, dass sein Manuskript letztendlich angenommen wurde, erfolgreich war er auch, dass er für die Publikation Geld bekam.

Gewundert haben wir uns aber, als wir erfahren haben, dass Prousts Großeltern verstorben sind, dass Proust so wenig darübergeschrieben hat, wo er eigentlich jemand ist, der über alles schreibt, was ihm das Leben aufträgt.

Weiter geht es nächstes Wochenende von der Seite 312 bis 321.

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Unser aller Schicksale sind vermutlich geschaffen, 
um gelebt, nicht aber um verstanden zu werden.
(Marcel Proust)

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