Samstag, 23. Juni 2018

Liane Cornelius / Ich fühle so tief ich kann (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre  

Gestern Abend habe ich das Buch ausgelesen: Es ist eine ganz andere Form von Literatur gewesen, wie ich sie sonst gewohnt bin ... Das Buch hat psychologischen Tiefgang auf der Ebene von Selbsterfahrung.

Hier geht es zum Klappentext und zu den Buchdaten.

Die Handlung
Man bekommt es in dieser Geschichte mit zwei Menschen zu tun, die in der Kindheit ein schweres seelisches Trauma erlitten haben. Die Icherzählerin Liane, 57 Jahre alt, beschreibt aus ihrer Perspektive ihre gesamte psychische Lebenssituation und in Ansätzen auch die ihres Gefährten. Liane ist körperlich nicht ganz gesund und hat einige schwere Hürden zu überwinden. In kurzen Zeitabständen musste sie sich mehrere Operationen unterziehen. Liane, und sicher jeder andere Mensch in ihrer Lage, stellt sich die Frage, weshalb sie in diesem Alter schon so viele Gebrechen zu erleiden habe? Um die Antwort zu finden, geht sie weit zurück in ihre Kindheit und hinterfragt das Familiensystem, in das sie hineingeboren wurde und sie geprägt hat. Leider erfuhr Liane von ihren Eltern nicht die Liebe, die ein Kind braucht, um gesund aufwachsen zu können. Sehr kühle Eltern, die ihr materiell zwar nichts haben fehlen lassen, allerdings kam die emotionale Zuwendung, die Liebe, viel zu kurz. Liane ist mutig, sie gräbt und gräbt und gräbt tief in ihrer Psyche, um Antworten auf die vielen Fragen zu finden, die sich ihr stellen. Dabei erfährt man ein wenig von der Herkunft der Eltern, und dass auch sie selbst wenig Liebe von ihren Eltern bekommen haben. Dies zu wissen genügt Liane allerdings nicht, denn jeder Mensch sei mit dem Eintreten in das erwachsene Alter für sich selbst verantwortlich, ganz besonders, wenn man eigene Kinder bekommen möchte, um sie nicht mit ihren seelischen Defiziten zu belasten.

Nach den vielen Operationen bekommt Liane häusliche Krankengymnastik verordnet, da sie körperlich stark beeinträchtigt ist. Schon in der ersten Stunde kommen sich Liane und der Physiotherapeut namens Andreas recht nahe. Beide fühlen sich zueinander hingezogen, obwohl sie Lebenspartner haben. Liane ist mit Toni verheiratet, und Andreas liiert mit Laura. Wenn diese Anziehung fast magisch wirkt, dann spielen äußere Differenzen, wie zum Beispiel der Altersunterschied, keine Rolle, denn Andreas ist gerade mal Anfang dreißig, während Lianes Gemahl Toni schon Ende siebzig ist. Liane und Andreas kommen sich mit der Zeit immer näher, bis Liane entdeckt, was die Gründe dieser Anziehung sein könnten? Beide erlitten in ihrer Kindheit ein schweres seelisches Trauma, doch beide gehen unterschiedlich damit um. Während Liane sich intensiv damit befasst, macht Andreas lieber einen großen Bogen um alles, was mit unangenehmen Gefühlen zu tun hat. Es ist Andreas, der Liane von der ersten Behandlungsstunde anfängt zu duzen. Liane macht dies nachdenklich und vermutet dahinter einen Mutter-Sohn-Konflikt. Und in den weiteren Behandlungsstunden werden beide mit alten emotionalen Konflikten konfrontiert. Liane entgeht nichts. Sie ist aufmerksame Leserin ihrer Gefühle, aber auch die von Andreas, der ihre duale Seele zu sein scheint ...

Zwischendrin wird man immer wieder zurück in Lianes gefühlskarge Kindheit geführt, die auch geprägt war von Entwertung und mangelnder Wertschätzung vonseiten ihrer Eltern …

Andreas wird das zu viel, dieses wiederholte Hinterfragen seiner seelischen Blockaden, die er durch Liane widergespiegelt bekommt, und versucht, sich von ihr zurückzuziehen …

Liane ist adipos, und das schon von Kind auf, da sie das Essen unbewusst als ein Hungern ihrer Seele empfunden habe. Sie kompensiert ihren elterlichen Liebesmangel mit dem Essen.

Wie es mit den beiden weitergeht, ob Liane es schafft, sich und Andreas mit Hilfe von Selbstanalysen zu heilen, und woraus Andreas´ erlittener Missbrauch besteht, ist dem Buch zu entnehmen …

Das Schreibkonzept
Das Buch beginnt mit einem Prosavers und endet mit demselben Vers wieder. Eine Identifikation der Icherzählerin mit dem Fluss … Hier wird man etwas vorbereitet, dass der Roman sich mit tiefen Gefühlen beschäftigt. Man findet in dem Buch viele Reflexionen und Gedanken. Dialoge allerdings sind hier recht rar.

Anschließend beginnt der Roman, der auf 395 Seiten aus 31 Kapiteln besteht. Der Schreibstil ist in einer selbstreflektiven Form konstruiert, indem man hauptsächlich in die Perspektiven der Icherzählerin geworfen wird, die ihre Gefühle und ihre Gedanken und die ihres Partners schon fast detektivisch unter die Lupe nimmt …

Ich fühle so tief ich kannCover und Buchtitel?
Das Cover finde ich etwas zu abstrakt, denn es kann alles Mögliche bedeuten, ist aber trotzdem passend, denn man weiß oftmals nicht, was sich in der tiefen, menschlichen Seele so alles verbirgt, wenn man sich auf die innere Reise begibt. Der Buchtitel hat gehalten, was er versprochen hat. 

Ungeklärte Fragen
Dadurch, dass es kein Autorenporträt gibt, konnte ich meine Frage nicht klären, ob die Autorin aus der eigenen Betroffenheit dieses Buch geschrieben hat? Ich vermute eher schon. Außerdem deckt sich der Name der Autorin Liane, ein Pseudonym, mit dem der Protagonistin.

Meine Meinung
Die Auseinandersetzung mit den Abgründen der Psyche und den vielen blinden Flecken eines Menschen fand ich einerseits ganz interessant, andererseits erlebte ich diesen Leseprozess als etwas zu langatmig. Irgendwann hat man genug von den vielen recht persönlichen Psychoanalysen, auch wenn mir bewusst ist, dass die psychologische Auseinandersetzung in dieser Form viel Mut erfordert. Ich verstehe aber auch Menschen, die sich scheuen, an sich zu arbeiten, nicht, weil sie zu bequem sind, sondern weil sie einfach Angst davor haben, in eine Krise zu geraten, aus der sie selbst mit professioneller Hilfe nicht mehr herausfinden. Nicht jeder hat die Kraft dazu, tief, so tief es geht, in sich zu graben, um die Leichen im tiefsten Keller zu bergen. So manche Psychose entwickelte sich bei einigen Menschen durch die Auseinandersetzung mit ihrer Psyche, mit der sie nicht fertig geworden sind. Ein Selbstschutz, der uns von der Natur mitgegeben worden ist, wird häufig aktiviert, und es gut ist, dass es ihn gibt.

Mein Fazit?
Dies ist ein Buch für alle mit einer verletzten Psyche und für die, die Bereitschaft aufbringen möchten, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, um an sich zu arbeiten, damit ein gesundes Leben auch mit Hilfe von Selbstheilungskräften möglich wird. Ein Buch für alle, die auf gedruckten Seiten erfahrbare Psychologie erleben möchten.

Liane Cornelius lässt anhand ihrer Figuren den psychologischen Selbsthilfeprozess vorleben. 

Vielen Dank an die Autorin für das zur Verfügung gestellte Leseexemplar.

Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise)
1 Punkte: Differenzierte Charaktere
2 Punkte: Authentizität der Geschichte
0 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt
2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Neun von zwölf Punkten.
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