Sonntag, 3. Mai 2015

Lilly Lindner / Da vorne wartet die Zeit (1)

Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre


Das Buch habe ich am Mittwochabend ausgelesen.

Ich bin nun von Lindners Büchern mehr als gesättigt. Habe zwei gelesen und habe beschlossen, mir keine Bücher von der Autorin mehr zu kaufen, obwohl ich sie sehr empfehlen kann.

Das Buch Bevor ich falle hatte mir sehr gut gefallen. Das vorliegende Buch ist auch recht sprachgewandt und fantasievoll, nur die Themen ähneln sich sehr. Oftmals geht es um Personen, die psychisch recht labil sind und davon erlebe ich schon in meinem beruflichen Alltag mehr als genug.

Das vorliegende Buch ist wirklich Geschmackssache, wenn in fast jedem Kapitel irgendeine Figur stirbt. Natürlich, der Tod gehört zum Leben. Aber muss ich denn wissen, wie das Leben eines jeden Menschen endet? 

Aber das Buch besitzt sehr viel Weisheit, Wärme, sehr viel Intelligenz, manchmal auch Witz und Ironie, gepaart mit einer großen Portion Gespür, was die Beschreibung fremder Lebensverhältnisse anderer Menschen betrifft. Man merkt allerdings auch, dass die Autorin sich sehr gut in ihrer Materie auskennt, als habe sie das alles selbst erlebt … Die Geschichten sind alle psychologisch fundiert …

Ich habe mir nun ein Kapitel ausgesucht, das mir besonders gut gefallen hat, und ich nun über dieses schreiben werde.

Zur Erinnerung gebe ich erneut den Klappentext rein:
Die Menschen in der Stadt am Waldrand. Sie leben miteinander, sie leben nebeneinander her, sie sind allein, sie sterben - und doch hängen sie und ihre Schicksale alle zusammen: Der Kriminalpolizist, der einer grausamen Entführungsserie auf der Spur ist, das Mädchen aus gutem Hause mit dem unsagbaren Geheimnis, der weise Forscher der Zeit und die Mutter, die ihre kleine Tochter verliert. Sie alle leben in der Stadt am Waldrand, und sie alle sind mit dem Tod konfrontiert. Und mit der Zeit, die sich in der Unendlichkeit verliert.
Besonders hat mir eine Geschichte gefallen, in der es um eine außergewöhnliche Freundschaft zwischen zwei Menschen geht. Größer kann der Altersunterschied zwischen diesen beiden Menschen allerdings nicht sein.

Ana Davis ist fünfzehn Jahre alt. Als sie den fünfzigjährigen Wissenschaftler kennengelernt hat, ist sie gerade mal sechs Jahre alt gewesen. Sie sind beide Nachbarn, lernten sich über den Gartenzaun kennen und als sie sich beschnuppert hatten, wurden sie recht schnell Freunde. Der Altersunterschied ist, wie schon gesagt, recht groß, und doch haben sich die beiden nicht die Mühe gemacht, die Jahre, die zwischen ihnen liegen, auszurechnen.
Sie haben immer nur das gesehen, was sie verband.Die Frau des Wissenschaftlers hingegen fand die Freundschaft der beiden von Anfang an seltsam. Sie hatte keine Kinder, und sie wusste auch nicht, wie man mit einem Kind umgeht. Sie wollte lieber, dass Ana auf ihrer Seite vom Gartenzaun spielt. Sie konnte einfach nicht verstehen, warum Ana und ihr Mann manchmal stundenlang zusammen auf der Wiese im Garten saßen und einen Vogel dabei betrachteten, wie er auf einem Ast herumspazierte. Aber der Wissenschaftler und Ana hatten einander ins Herz geschlossen, und so konnte die Frau des Wissenschaftlers gar nicht anders, als zu akzeptieren, dass Ana von nun an regelmäßig mit ihrem Mann die Zeit betrachten würde. 
Tatsächlich geht es hier um eine recht besondere freundschaftliche Beziehung, die in unserer Gesellschaft wenig toleriert wird, weil man gleich auf schmutzige Gedanken kommt. Doch auch diese Beziehung hat ihre Zeit, die irgendwann vorübergehen wird … Das stimmte Ana allerdings recht traurig … 
… weil sie  nicht verstehen konnte, warum sie in einer Welt voller Misstrauen und Unsicherheiten aufwachsen musste. Sie hätte gerne das Glück der unvoreingenommenen Freiheit in den Augen ihrer Mitmenschen glitzern gesehen. Sie hätte gerne gewusst, dass alle wissen, dass man nichts und niemanden besitzen kann. Dass man Liebe schenkt und nicht einfordert. Dass man sie lieber auf Händen trägt und nicht hinter sich her schleift. Dass man Liebe achtet: und nicht liebt, um Beachtung zu erhalten.Und dass es unendlich viele Formen der Liebe gibt; genauso wie die endlosen Formen der Lieblosigkeit. Aber von der aufrichtigen Liebe wusste Ana, dass sie unschuldig ist und rechtschaffen - sie äußert sich nicht körperlich, nicht lustvoll, nicht begierig, nicht einschränkend. Sie berührt ein Herz, ohne es zu besitzen. Sie berührt einen Menschen, ohne Besitz von ihm zu ergreifen.Sie aber bereichert die Zeit. 
Die meisten Menschen kennen nur die eine Form von Liebe, die sexuelle und die familiäre Liebe, so auch die Frau des Wissenschaftlers, die, weil sie keine andere Form der Liebe kennt, auf ein Kind eifersüchtig werden muss:
Die Frau des Wissenschaftlers hingegen kannte damals wie heute nur eine einzige Form der Liebe. Und diese Liebe hat keinen besonderen Namen, denn es ist die, die man mit einem Ehevertrag in Anwesenheit von Zeugen besiegelt. Es ist die Art von Liebe, die man garantiert bekommen muss, um an sie zu glauben.Und weil das alles ist, was die Frau des Wissenschaftlers kennt und kennen möchte, weil das alles ist, womit sie umgehen kann, ohne aus sich herauszugehen, kann sie nicht verstehen, dass die Zuneigung, die ihr Mann für das junge Mädchen empfindet, keine Bedrohung für sie ist. 
In ihrem jugendlichen Alter von fünfzehn Jahren spürt Ana so langsam, wie die Freundschaft zwischen ihr und dem Wissenschaftler von der Frau immer mehr in die Enge getrieben wird.
Die Erzählerin dieser Geschichte verurteilt die Frau aber nicht, sie versucht stattdessen, sie zu verstehen:
Denn eigentlich kann die Frau des Wissenschaftlers gar nichts dafür. Sie ist einfach nur so, wie sie ist. Und sie ist in einer kalten und lieblosen Familie aufgewachsen, ohne jemals Zuneigung erfahren zu haben. Außerdem ist sie in eine Zeit hineingeboren, in der Frauen um alles wetteifern - die kleinen Mädchen streiten sich darum, wer die schönste Mutter hat, die großen Mädchen streiten sich über die Farbenpracht ihrer Haarspangen und um die Länge ihrer Kleider, die jungen Frauen streiten sich um die erfolgreichsten Männer und um die erfolgversprechendsten Schönheitsoperationen, und die alten Frauen streiten sich mit sich selbst und übertragen die überschüssigen Differenzen auf die jüngeren Frauen um sich herum. 
Ein bisschen arg überspitzt, aber den Kern trifft es allemal. Die wenigsten Menschen wissen tatsächlich, was Freundschaft ist. Und da, wo sie besteht, wird sie kritisch hinterfragt.
Es gibt keinen Raum, der Freundschaft begrenzt. Es gibt keine Zeit, die Freundschaft berechnet. Und es gibt kein Gesetz, das besagt, dass man nur einen einzigen Menschen lieben darf.  
Die Geschichte endet sehr traurig, ohne alles verraten zu haben:
Ana Davis und der Wissenschaftler der Zeit.
Sie hatten beide ein langes, langes Leben.
Aber nicht nur der Tod trennt unsere Wege.
Manchmal sind es auch einfach die Menschen.
Die zwischen uns stehen.  
Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.
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Alleinsein hat nichts damit zu tun, wie viele Menschen um dich herum sind.
(J.R. Moehringer)

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