Samstag, 23. Mai 2015

Haruki Murakami / Schlaf (1)


Eine Buchbesprechung zur o. g. Lektüre

Das Buch Schlaf ist ein recht dünnes Bändchen von gerade mal neunundsiebzig Seiten und davon gibt es noch jede Menge Illustrationen. Deshalb habe ich es schon längst durch. Bin nur noch nicht dazu gekommen, darüber zu schreiben.

Wer nicht allzu viel wissen möchte, der sollte diese Buchbesprechung einfach überspringen.

Ich habe einfach Lust, der Welt aus diesem Buch vorzulesen …

Zur Erinnerung gebe ich aber noch einmal den Klappentext rein: 
»Es ist der siebzehnte Tag ohne Schlaf.« So beginnt Haruki Murakamis Erzählung von einer Frau, die nachts kein Auge mehr zumacht. Aber es fühlt sich anders an als die quälende Schlaflosigkeit, die sie als Studentin erlebt hat: Jetzt ist sie auf zauberhafte Weise nicht mehr müde. »Ich kann einfach nicht schlafen. Noch nicht einmal ein Nickerchen.«Spätabends, wenn ihr Mann und ihr Sohn im Bett liegen, beginnt sie ein zweites Leben, und die Nächte sind bei Weitem aufregender als ihre gleichförmigen Tage – aber auch gefährlicher. Die Illustratorin Kat Menschik hat den Zauber von Murakamis Erzählung in traumgleiche Bilder gebracht. Auch deshalb ist dieser durchgehend in Duotone (Nachtblau/Silber) gedruckte Band ein guter Grund, nachts wach zu bleiben.
Im Klappentext steht eigentlich schon alles geschrieben und ich versuche, Dinge oder Erlebnisse aus der Geschichte aufzugreifen, die nicht im Klappentext stehen.

Mit dieser Form von Schlaflosigkeit erlebt die Protagonistin und Icherzählerin ein zweites bzw. ein erweitertes Leben.Während sie am Tage ihren Pflichten als Ehe- und Hausfrau und als Mutter nachgeht, strebt sie nachts, während die Welt schläft, einem anderen Leben nach, und zwar das Leben einer ambitionierten Leserin. Aber durch die Auseinandersetzung mit dieser außergewöhnlichen Form von Schlaflosigkeit, die man eher von Psychotikern und Schizophrenen als Schlafstörung kennt, lernt sie Positives abzugewinnen.
Ich habe keine Angst mehr davor, nicht schlafen zu können. Es gab nichts zu befürchten. Nach vorne denken! Ich erweitere mein Leben, dachte ich. Die Zeit zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr früh gehörte mir. Bis jetzt war ein Drittel des Tages vom Schlaf - oder der >>Therapie zur Abkühlung<< wie es hieß - beansprucht worden. Jetzt gehört diese Zeit mir. Niemand anderem, nur mir. Ich kann über diese Zeit so, wie ich will, verfügen. Niemand stört mich, niemand verlangt etwas von mir. Ja, ich habe mein Leben erweitert. Ich habe mein Leben um ein Drittel erweitert.
Diese Frau hat tatsächlich nicht mal Angst, krank zu werden. Denn überall hört man, dass Menschen, die wenig schlafen, ein kürzeres Leben haben und erkranken können.
Das ist biologisch anormal, mag man mir entgegenhalten. Mag sein. Und vielleicht werde ich später diese Schuld, die ich mit der Fortsetzung dieser Anomalie anhäufe, begleichen müssen. Vielleicht wird das Leben diesen erweiterten Teil - den ich mir jetzt im Voraus nehme - später zurückfordern. (…) Aber ehrlich gesagt ist mir das schon egal. Auch wenn ich nach irgendeiner Rechnung früher sterben müsste, ist mir das vollkommen gleich. Sollen Hypothesen doch ihren Lauf nehmen. Ich jedenfalls erweitere jetzt mein Leben. Und das ist großartig. Darin besteht das wirkliche Gefühl. Ich spüre real, dass ich lebe. Ich werde nicht mehr von Alltagspflichten aufgezehrt. Oder zumindest existiert hier ein Teil von mir, der nicht aufgezehrt wird. Genau das verschafft mir dieses sinnliche Gefühl, zu lieben. Ein Leben ohne dieses sinnliche Gefühl mag ewig dauern, doch es ist ohne Bedeutung. Und das weiß ich jetzt.
Es ist viel Zeit vergangen, seit diese Frau das letzte Mal ein Buch gelesen hat. Durch ihre Schlaflosigkeit findet sie nun wieder einen Bezug zu ihren Büchern. Sie liest mit vollem Genuss:
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mein Mann eingeschlafen war, setzte ich mich im Wohnzimmer aufs Sofa, trank einen Cognac und öffnete mein Buch. In der ersten Woche las ich >>Anna Karenina><< dreimal. Mit jedem Lesen machte ich neue Entdeckungen. Dieser ungeheuer lange Roman war voller Enthüllungen und Rätsel. Wie in einer kunstvollen Schachtel enthielt seine Welt kleinere Welten, und diese kleineren Welten enthielten wiederum noch kleinere Welten. Und diese Welten bildeten zusammen ein Universum, und dieses Universum lag da und wartete darauf, vom Leser entdeckt zu werden. Mein früheres Ich hatte nur ein klitzekleines Bruchstück davon zu erfassen vermocht, mein jetziges Ich aber durchschaut und verstand es. Ich verstand genau, was der Schriftsteller Tolstoi sagen wollte, was er dem Leser zu verstehen geben wollte, wie seine Botschaft sich organisch als Roman kristallisiert hatte und was in diesem Roman am Schluss den Schriftsteller selbst übertroffen hatte. Ich konnte alles genau durchschauen.
Aus ihr wurde eine richtige Leseratte. Sie hatte auch guten Grund dazu, denn sie besaß eine Bibliothek, die mit zahlreichen guten Autoren der Weltliteratur ausgestattet war, und sie nun durch ihre Schlaflosigkeit die Bücher nun endlich auch genießen konnte. 
Wie sehr ich mich auch konzentrierte, ich wurde nicht müde. Nachdem ich >>Anna Karenina<< so oft ich konnte, gelesen hatte, nahm ich mir Dostojewski vor. Ich konnte so viele Bücher lesen, wie ich wollte, mich noch so sehr konzentrieren, ich wurde nicht müde.
Ich hatte den Eindruck, dass das Lesen wie ein Aufputschmittel wirkte, das auch ich in abgeschwächter Form kenne.
Schließlich ging der Cognac zu Ende. Ich habe fast die ganze Flasche getrunken. Ich ging ins Kaufhaus und kaufte eine neue Flasche (…). Bei der Gelegenheit kaufte ich auch gleich eine Flasche Rotwein. Dazu ein paar edle Kristalle Cognacgläser. Und Schokoladenkekse.Manchmal wurde ich beim Lesen ganz aufgeregt. Dann legte ich das Buch beiseite und bewegte mich ein bisschen. Ich machte Gelenkigkeitsübungen oder lief einfach ein bisschen im Zimmer rum. Wenn ich Lust hatte, machte ich eine nächtliche Spazierfahrt. Ich zog mir etwas anderes an, holte den City aus der Garage und fuhr ohne bestimmtes Ziel in der Gegend herum. Manchmal fuhr ich auch zu einem der Kettenrestaurants, die die ganze Nacht über geöffnet hatten, und trank einen Kaffee, doch da ich es als anstrengend empfand, anderen Leuten zu begegnen, blieb ich meist die ganze Zeit im Auto.
Das Familienleben dieser Frau läuft eigentlich recht harmonisch ab. Es fließt in festen Bahnen. Und doch hatte ich irgendwie das Gefühl, dass der Roman von Tolstoi etwas in dieser Frau bewirkt hatte, was mit ihrer eigenen Ehe zu tun hat. Nicht, dass sie fremd gegangen ist, nein, aber sie sah nun ihre Ehe ein wenig kritischer als sonst. Da ich aber nicht zu viel verraten möchte, halte ich mich hier lieber bedeckt.

Und was auf diese Frau noch alles zukommen wird, darüber schreibt der Klappentext nicht, und ich ebenso wenig. Damit möchte ich sagen, dass es noch genug zu entdecken gibt.
Als große Bibliomanin ist es mir wichtig, diese Bücherszenen aufzuschreiben.

Der Schluss ist spannend, nicht wirklich voraussehend, aber er ist ein typischer Murakami-Schluss.

Das Buch erhält von mir zehn von zehn Punkten.
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Alleinsein hat nichts damit zu tun, wie viele Menschen um dich herum sind.
(J.R. Moehringer)

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