Wieder jede Menge Gedanken zu seinem Pariser Roman.
Proust bittet die
Briefpartner*innen immer wieder um Stillschweigen, da er befürchtet,
auf Ideenräuber zu stoßen und ausgeplündert zu werden 💓.
An
Alfred Vallette
Mitte August 1909, Proust 38 Jahre alt
Dieser Brief hatte
übrigens die Besonderheit, wenn schon leider höchst belanglos, so doch zugleich
äußerst vertraulich zu sein. Ob meine Vorschläge Ihnen zusagen oder nicht, ich
bitte Sie, Sie wenigstens in einem Punkt geheim zu halten. Sie werden gleich
sehen, warum. Ich beende ein Buch, das trotz seines vorläufigen Titels gegen
Saint Beuve, >Erinnerungen an einem Vormittag< ein echter Roman ist, und
zwar in manchen Teilen ein höchst unsittlicher. Eine der Hauptfiguren ist ein Homosexueller.
Und ich zähle darauf, dass Sie dies buchstäblich geheim halten. Würde es vor Erscheinen
des Buches bekannt, dann würden zahlreiche treu ergebene und furchtsame Freunde
mich bestürmen, nur ja darauf zu verzichten. Außerdem denke ich mir, dass in alldem
(mit Verlaub!) Neues steckt, und ich möchte nicht von anderen ausgeplündert
werden. (607)
Auch an Geneviève Straus spricht er über sein umfangreiches
Buch, das er ihr als beendet bekannt gibt. Damals war ihm selbst noch nicht
bewusst, dass zu diesem Band noch sechs weitere Folgen anschließen sollten.
An Geneviève Straus
Mitte August 1909
Cabourg
Ich möchte nicht, dass Sie die schon oft
geäußerten, aber diesmal vielleicht ernster zunehmenden Drohungen allzu ernst
nehmen, glaube jedoch, dass Sie mich dieses Jahr recht häufig in Paris sehen
werden. Und zuvor werden Sie mich lesen - und zwar mehr, als Ihnen lieb ist - denn
ich habe vor kurzem ein langes Buch begonnen - und beendet. Leider hat die
Reise nach Cabourg meine Arbeit unterbrochen, und ich muss mich erst wieder daransetzen.
Vielleicht erscheint ein Teil davon in Fortsetzungen im Figaro, aber nur ein Teil.
Denn es ist zu unschicklich und zu lang, als dass man es insgesamt
herausbringen könnte. Aber ich möchte damit zu Ende, ans Ziel kommen. Wenn
alles fertig ist, bleibt noch viel umzuarbeiten. (611f)
Da
ich ja alle Bände dieses Pariser Romans gelesen habe, finde ich es jetzt
richtig spannend an der Entstehung, wenn auch nur geistig beteiligt zu sein.
Es fühlt sich gut an zu erleben, wie diese Größe an Kunstwerk entstanden und welche
Entwicklung es durchlaufen ist.
In
der Fußnote geht hervor, dass es hier schon Zyklen zu Swanns Liebe zu erkennen
gab. Ich denke, dass Proust selbst noch nicht ahnte, dass seine Arbeit sich zu einem
Jahrzehnte langes Werk entpuppen wird.
In
diesem Brief werden auch Weisheiten ausgetauscht. Und darüber, wie sich sein
Schriftstellerfreund Robert de Montesquioi sich in Paris neu eingerichtet haben
soll, und bringt einen Vergleich mit Romanen.
Wir glauben, wir sind hübscher Häuser
überdrüssig, weil alles gleich ist und uns langweilt. Aber damit steht es wie mit
den Romanen, wir sind sie leid bis zu dem Tag, da ein originelles Buch
erscheint, das uns wieder aufnahmebereit und leselustig macht. Ich bin sicher,
dass die ganze ausgesuchte geschmackvolle Einrichtung Ihnen sehr gefallen würde
und dass es ihm große Freude machen würde, sie Ihnen zu zeigen. Denn er hat die
ganz schlichte Natur wahrer Künstler, und wenn nur sehr wenige Menschen ihm
gefallen können, so gefällt ihm an diesen wenigen alles. Sie kennen La Bruyères
Ausspruch: >Mit geliebten Menschen zusammen sein, mit ihnen sprechen, nicht
mit ihnen sprechen - das bleibt sich gleich, wenn man nur mit ihnen zusammen
ist< (ich zitiere sehr ungenau). Das ist leider ein Vergnügen, das ich nicht
habe, ich bin nie mit den Menschen zusammen, die ich liebe. in Paris habe ich
wenigstens den Trost, nicht mit denen zusammen zu sein, dich ich nicht liebe, in Cabourg
habe ich ihn nicht. (612)
Damit
äußert Proust auch seine Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Kontakten,
weshalb er Jean de La Bruyère dabei zitiert. Der französische Moralist und
Schriftsteller Jean de La Bruyère ist 1645 in Paris geboren und 1696 in
Versailles gestorben.
Proust
sehnt sich nach geliebten Menschen. Ich denke immer noch, dass ihm seine 1905 verstorbene
Mutter sehr stark fehlt. Sie war ihm einfach eine seelische Stütze, sowohl in
seinen geistigen Aktivitäten als auch wenn er krank war.
Zurück zu seinem Pariser Roman, über den er mit einem weiteren Freund spricht und zeigt, wie groß sein
Bedürfnis ist, sich darüber mitzuteilen. Und auch hier bittet er um Vertraulichkeit.
An
Georges de Lauris
Anfang Dezember 1909
Was die
Diskretion betrifft, so können Sie sehr gern sagen, dass ich Ihnen den Anfang
meines Buches zu lesen gegeben habe, und falls jemand finden sollte - worauf
ich mir keinerlei Hoffnung mache!-; dies sei ein exklusives Privileg, so
erklärte und betone ich nur allzu gern meine Vorliebe für Sie. Worum ich Sie
bitte, ist, dass sie weder das Thema noch den Titel weitererzählen, kurzum
nichts, was Einblick verschaffen könnte (…). Aber außerdem will ich weder
bedrängt noch belästigt, weder erahnt noch überholt, weder kopiert noch
kommentiert, weder kritisiert noch geschmäht werden. Wenn mein Denken und sein
Werk vollendet hat, wird immer noch Zeit sein, der Dummheit der anderen das
Feld zu räumen! (618f)
Was meint Proust damit? Ist sein Werk nur gut, wenn
er auf positive Stimmen stößt, und dumm sind die Leser*innen, die es kritisch
beäugen? Wie kritikfähig ist Proust selbst?
Wenn ich an meine eigenen Schreibtexte denke, war
ich mein strengster Richter gewesen, der mir dadurch viel Kraft geraubt hat, bis ich das Schreiben aufgeben musste. Rückblickend
betrachtet hätte es mir gutgetan, mit einem liebevolleren Blick darauf zu
schauen. Bei Proust denke ich allerdings ganz häufig, dass er zu geschwollen
daherredet. Viel zu viele Worthülsen, wo ich mir mittlerweile nicht mehr sicher
bin, ob er sie auch wirklich ernst meint. Im Grunde will er immer nur Gutes
über sich reden hören. Psychologisch betrachtet grenzt dieser Charakterzug
schon gewaltig an Selbstsucht, ohne seine Schreibkunst schmälern zu wollen.
Weiter geht es hoffentlich nächstes Wochenende von
Seite 630 - 640.
__________________
Proust
Zitate
Man kann nur über das
gut schreiben, was man liebt. (Marcel Proust zitiert
Ernest Renan)
Kennzeichen wahrer Originalität ist,
über ein nichtssagendes Thema nichts zu sagen.
(Brief an Georg de Lauris)
Es genügt, mit den Menschen zusammen zu sein, die man liebt; man
kann träumen, mit ihnen sprechen, nicht mit ihnen sprechen, an sie denken, an
unwesentlichere Dinge denken, in ihrer Gesellschaft ist das alles gleich. Wenn
man mit den Menschen zusammen ist, die man liebt, ist es ganz gleich, ob man
mit ihnen spricht oder nicht. (Marcel Proust zitiert Jean de La Bruyère)
Ein Buch, das nach Leben und Menschlichkeit schreit
Ich habe viel über
dieses Buch schon während des Lesens nachgedacht, dass ich gerne darüber schreiben
möchte. Es ist mit so vielen Post it beklebt, dass es mir zeigt, mit wie viel
Facetten mich diese Lektüre doch begleitet hat. Ich werde leider nicht alle
Buchseiten bearbeiten können und stehe vor einer schwierigen Entscheidung.
Es gibt so viele
Szenen, die mich innerlich beschäftigt haben, dass ich sie unbedingt hier
festhalten möchte. Wie soll man sonst über ein Buch sprechen, wenn man so viele
Gedanken unterdrücken muss??? Ich schreibe gerne, und ich denke gerne, das bin
ich, wenn ich mich durch eine so gute Lektüre wie diese ausdrücken darf und
mir keine Verbotsschilder aufgesetzt werden. Schweigen kann ich später in meinem
Grab, wenn mein Leben vorbei ist. Ich lese, also bin ich …
Wer inhaltlich im
Vorfeld nicht so viel erfahren möchte, bitte ich nur die Buchvorstellung zu
lesen, mit der man sich hier weiter unten verlinken kann ... Wer aber Dinge
über Italien lesen möchte, die bislang weitestgehend unbekannt waren, lade ich
zum Weiterlesen ein. Es bleiben trotzdem noch viele wichtige Punkte übrig, die
ich hier unerwähnt gelassen habe.
Ich nutze durch
Romagnolo die Gelegenheit, zu ihrem Buch an mein Wissen anzuknüpfen, das ich
durch verschiedene Fachbücher zu Italien mir erworben habe.
Und am Ende der Buchbesprechung verlinke ich zu einem amerikanischen Spielfilm mit dem Titel Im Teufelskreis der Armut, den man sich kostenlos anschauen kann.
Hier geht es zum
Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den
Buchdaten.
Die Handlung Die Handlung gebe ich sprunghaft wieder, wie ich dies beim Lesen erlebt habe.
Die Heldin dieses epochalen Familienepos ist Giulia
Masca, die als ganz junges Mädchen schwanger von zu Hause ausgebrochen ist. Sie
hat all ihre Ersparnisse zusammengekratzt und sich auf ein Schiff nach Amerika
begeben. Geschuldet war die Flucht nicht der Schwangerschaft, sondern dem
Partner Pietro Ferro, der sich mit einem anderen Mädchen namens Anita Leone
zusammengetan hat. Pietro und Giulia kennen sich seit frühster Kindheit und
waren sicher, wenn sie groß sind, würden sie gemeinsam in den Bund der Ehe
treten ...
Die Handlung beginnt in New York, als Giulia über
ihre Vergangenheit im italienischen Piemont reflektiert. Es ist das Jahr 1946.
Giulia ist 1901 von zu Hause abgehauen, ohne ein Sterbenswörtchen der Mutter zu
hinterlassen. Der Vater, der unter einer Alkoholsucht litt, kam ums Leben, als Giulia gerade mal acht oder neun Jahre alt war. Die
Handlung bewegt sich in der Erzählweise im Wechsel zwischen Borgo di Dentro und
New York ...
Das Schicksal wollte es anders. Giulia ging nun
nicht die Ehe mit Pietro ein, sondern mit einem nach Amerika eingewanderten
Italiener namens Libero Manfredi, der doppelt so alt ist wie Giulia selbst. Während
Manfredi vorurteilslos sich dem jungen schwangeren Mädchen annimmt, wird Giulia
von dessen Familie als Hure verspottet … Als Giulias Kind auf die Welt kommt,
nimmt Manfredi diesen Sohn wie einen eigenen an und gibt sich als seinen Vater
aus. Manfredi ist Krämer von Beruf. Er ist ein Illiterat, hat nur Rechnen
gelernt. Als Krämer hat er es dennoch geschafft, sich in Amerika durch mehrere
Läden einen Namen zu machen. Verkauft werden viele italienische Produkte.
Pietro ging hingegen die Ehe mit Anita ein, die zur
selben Zeit schwanger wurde wie Giulia. Beide junge Frauen fühlten sich zu
Pietro hingezogen, nur wusste die ahnungslose Giulia dies nicht.
Als sie wortlos verschwand und sie nicht
wiedergefunden werden konnte, plagten Anita und Pietro stille Schuldgefühle.
Auch Anita
bringt einen Sohn zu Welt, der den Namen Nico erhält ...
Ihren Mann Pietro
verliert Anita im Zweiten Weltkrieg. Später auch ihren Sohn, indem er von deutschen Soldaten tödlich verletzt wurde.
Giulia ist aber durch die Flucht auch der Armut und
der harten Arbeit entronnen. Sie stammt wie viele ihrer Landsleute aus
ärmlichen Verhältnissen, die weder lesen noch schreiben konnten. Die Reichen im
Land übten Druck auf die Kleinen aus und ließen für einen Hungerlohn für sich
arbeiten. Trotz der Schulpflicht wurde Giulia nach drei Grundschuljahren von
der Bildungseinrichtung genommen, um zusammen mit ihrer Mutter in einer
Seidenspinnerei zu arbeiten. Durch die Ausbeutung der Arbeitskräfte sind die
Menschen unzufrieden und es kommt zu schweren politischen Unruhen und Krawallen.
Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, nach Freiheit und Gleichheit, nach
Barmherzigkeit ist groß, wofür die Menschen bereit waren zu kämpfen…
Giulia fragt sich häufig, ob sie mutig war, einfach
auszubrechen oder war sie nur zu feige, ihre Konflikte zu klären und auszutragen?
Nach über vierzig Jahren kehrt Gulia mit ihrem
erwachsenen Sohn Michele für drei Wochen nach Piemont zurück und hofft, ihre
Mutter, Pietro und Anita wieder zu sehen …
Welche Szene hat mir nicht gefallen? Es waren recht viele Szenen, die mich beim Lesen sehr
traurig und nachdenklich gestimmt haben. Ich entscheide mich für drei folgende Episoden,
die ich hier gerne niederschreiben möchte.
Episode 1- Giulias Bruch mit ihrer Nation und der Mutter Sehr traurig fand ich den plötzlichen Abbruch
Giulias zu ihrer Mutter. Giulia selber ist mit ihrem Gewissen geplagt, weshalb
sie nie den Namen ihres Mannes hat annehmen können. Sie trug auch nach der
Heirat noch ihren Mädchennamen Giulia Masca.
>Ich
bin nicht du, Mama< Hat sie es deshalb nie geschafft, sich ganz als Giulia
Manfredi zu fühlen, oder auch einfach als Giulia? War sie zu sehr damit
beschäftigt, mit Assunta zu streiten, sogar aus 6500 km Entfernung? Zu viel
Wut. >Mama, hörst du mich? Ich bin nicht du!< (2019, 193)
Giulia hatte versucht, von Amerika aus erneut
Kontakt zur Mutter aufzunehmen, hat ihr ein Foto ihres Sohnes geschickt, eine
Einladung und Geld, damit sie sie in Amerika besuchen könne. Assunta Masca war
so gekränkt, dass sie die Briefe unbeantwortet ließ, sie nahm lediglich das
Geld heraus, um damit für ihr späteres Begräbnis zu sparen.
Im Laufe der Jahre musste die mittlerweile Identität
geplagte Amerikanerin erkennen, dass ihre Mutter einen harten Überlebenskampf
führen musste. Giulia begann zu verstehen, dass die Mutter keine böse Natur
war, sondern nur arm.
Assunta
hat getan, was sie konnte, das weiß Giulia jetzt. Es gibt keine Rechnungen zu
begleichen, es gibt nichts zu verzeihen. Alle tun wir unser Bestes. (514)
Einen schönen Satz hat Romagnolo geschrieben, den
ich unbedingt festhalten möchte, der allen anderen Familien Mut machen soll: Familie heißt, füreinander da sein.
Leider finden die meisten Zerwürfnisse ganz besonders in Familien statt, die häufig
bis zum Tod unversöhnt bleiben, wie ich dies aus meiner psychiatrischen
Berufspraxis von meinen Klient*innen heraus kenne und erfahren habe. Auch die Seniorenheime
sind voll von alten Menschen, bei denen der Kontakt von den Kindern aus
unterschiedlichsten Gründen abgebrochen wurde, und so vereinsamen die alten
Leute vor sich hin. Ebenso im Freundeskreis gibt es Fälle dieser Art.
Episode 2 – Libero Manfredis depressive Krise Giulias Mann sollte einberufen werden, der Zweite
Weltkrieg war ausgebrochen. Libero Manfredi bestand die medizinische
Untersuchung nicht, da er Analphabet war und wurde als imbezil eingestuft. Er
wurde dadurch ausgemustert und wieder zurückgeschickt. Er fiel in eine schwere
depressive Krise, lag apathisch im Bett, verlor jegliches Interesse am Leben.
Giulia ging das sehr nahe und meinte, dass niemand das Recht habe, einfach
stehen zu bleiben, „denn Gehen heißt Leben“. Gehen heißt Leben und das Beste
aus seiner Lage machen …
>Niemand
hat die Freiheit, einfach stehen zu bleiben, nicht wahr, Miss Liberty?<
(131)
Keine Wertschätzung vonseiten Amerika, das bekannt
ist als das Land der Freiheit und der unbegrenzten Möglichkeiten, wofür die
Freiheitsstatue steht, vor der Giulia ihren Gedanken nachgeht. Dass Manfredi
trotz der Bildungsarmut dennoch ein erfolgreicher Geschäftsmann wurde, galt in
Amerika nicht als nennenswerter Erfolg.
Episode 3 – Pietro Ferro im Krieg Pietro ist im Krieg und ist kriegsmüde und sehnte
sich nach seiner Frau Anita. Er möchte ihr einen Brief schreiben, und es fehlen
ihm aber die richtigen Worte. Es fällt ihm schwer, ihr zu schreiben, wie es ihm
wirklich geht, wie schrecklich dieser Krieg doch sei. Er möchte seine Frau
nicht beunruhigen. Im Graben liegt ein toter deutscher Soldat. Pietro findet
bei ihm einen Liebesbrief an dessen Frau. Er ist angetan von seinen Worten und
möchte am liebsten diesen Brief stehlen und seiner Frau schicken. Aber da stehen
auch Worte von Vaterlandsliebe, die Pietro am liebsten auslöschen würde, da er dieses
Gefühl selbst nicht kennen würde.
Diese Episode hat mich tief berührt, dass der
italienische Soldat betäubt vom Krieg einen Brief stehlen wollte, die Worte
stehlen, die der deutsche Soldat an seine Frau gerichtet hatte. Und die These
zur fehlenden Vaterlandsliebe, wo doch viele hier denken, dass die
Italiener*innen alle stolz auf ihr Land aufsehen, was aber in Wirklichkeit
nicht stimmt. Weiter unten habe ich geschrieben, warum die Italiener*innen
Identitätsprobleme haben. Nicht nur wegen der schwachen italienischen Regierung
seit eh und je …
Welche Szene hat mir gefallen?
Es gibt zwei Episoden angelehnt an Zitate …
Episode 1 – Giulias Schulerfolg – Die Anerkennung ihrer Familie
Am
letzten Schultag stehen sie alle beide draußen. Er nüchtern, rasiert, in
sauberem Hemd, sie im Sonntagskleid, mit glänzenden Stiefelchen und einem
Schildpattkamm im Haar. Es sind noch andere Eltern da, wegen der Zeugnisse. Sie
setzten sich zu dritt auf die Stufen, Giulia in der Mitte. Sie liest ihnen vor:
Drei, Zwei, viele Einsen, doch die beiden sahen sie zweifelnd an.
In
dem Augenblick tritt Primo Leone mit Anita an der Hand zu ihnen. Er will die
Noten sehen, wirft einen raschen Blick darauf, macht große Augen, um sie zu belustigen,
und drückt ihr zum Schluss die Hand, wie es unter den Großen Brauch ist:
>Meine Hochachtung, Signorina Masca. Sogar in Rechnen eine Eins!<
Die
Piazetta leert sich, auch der Herr Lehrer (…) geht davon, nickt ihrer Mutter zu
und zieht vor dem Vater den Hut. Als sie allein sind, holt Erminio Masca ein
größeres Päckchen aus der Tasche. >Zur Feier des Tages<, sagte er. >Du kannst doch
so gut rechnen, teil es gerecht auf.<
Auf
ihren Knien faltet Giulia das Päckchen auseinander und zählt im Kopf
siebenundzwanzig glasierte Haselnüsse. Dann sagt sie ganz leise, als wäre der Lehrer
noch dabei: > ja, ist teilbar<, und macht drei Häufchen von je neun. Sie
ist so aufgeregt, dass sie nicht einmal herausbringt: > Bitte sehr, nehmt
Euch.< Sie blickt auf das greifbare Ergebnis aus Zuckerglasur, mustert aus
dem Augenwinkel die gerade Linie des frisch gestutzten Schnurrbarts ihres
Vaters und die Handschuhe, die die Mutter aus der Kommodenschublade gefischt
hat, um ihre verunstalteten Finger zu verbergen: (Die Finger waren durch die
harte Arbeit in der Seidenraupenspinnerei entstellt, Anm. d. Verf.) Sie möchte
für immer so bleiben, in diesem Augenblick vollkommenen Glücks, während die
Menschen, in ihre Geschäfte und Gedanken vertieft, ahnungslos vorübergehen.
Doch dann hat Assunta einen Handschuh ausgezogen, Erminio Masca hat sich eine Haselnuss
genommen, und alles war zu Ende. (345)
Obwohl die darauffolgenden Sätze den Tod des Vaters ankündigen,
woran, ist im Kontext nicht festgelegt, fand ich diese Szene, den Schulerfolg
durch die Eltern mitgetragen zu haben, als eine zwar nur kurzlebige Glückseligkeit,
dennoch wunderschön. Ich habe noch lange daran gezehrt. Zu schön, sich
vorzustellen, wie sich die Eltern für die Tochter rausgeputzt haben. Und dass
der eigentlich alkoholisierte Vater doch einen sehr weichen Kern besaß, wie man
dies bei vielen männlichen Alkoholikern beobachten kann. Sie trinken aus purer
Verzweiflung durch schwierige Lebensumstände, mit denen sie nicht fertig werden.
(336)
Episode 2 – Der weinende Arzt und die Vergebung Doktor Costa muss im Beisein von Anita, die durch
die Todesfälle in ihrer Familie schon vorbelastet ist, Pietros älteren Bruder
Achille Ferro, der den italienischen Partisanen sich angeschlossen hatte und von
den Feinden erwischt und übelst zugerichtet wurde, eine Todesspritze setzen
lassen, um diesen von dem Leid zu erlösen, da er nicht mehr zu retten war. Der
Arzt konnte auch Anitas Sohn Nico nicht mehr retten, was ihm zu schaffen macht.
>Glauben
Sie mir? Sie müssen mir glauben, Anita< Schwarzhemd, Kniehosen. Die
Arroganz. Anita bringt keine Antwort heraus.
Der
Arzt schlug die Hände vors Gesicht. >Es tut mir leid, es tut mir leid, es
tut mir leid<, schluchzte er, und Anita begreift, dass dieses Weinen alles
enthält, was der Arzt nicht mit Worten ausdrücken kann: seine Jugend und die
von Nico, die Entscheidungen, der Zufall, das Schicksal.
Sie
tritt zu ihm, nimmt seinen Kopf zwischen die Hände, und er klammert sich an
ihre Rockschöße.
Seine
Schultern beben. Sie lässt ihn sich ausweinen, streicht über seine schütteren
Haare. Auch Nico wären sie ausgegangen, alle Ferros bekommen früh kahle
Schläfen. Sie denkt an die jungen Widerstandskämpfer, zu denen der Arzt nachts
hinaussteigt, um sie zu behandeln. Dutzende. Sie denkt an Gatto und an Hamlet.
Kleine Tränen der Erleichterung rollen über ihre Wangen. Ihr wird leicht ums
Herz, sie fühlt, wie der Hass, der sich in all den Jahren abgelagert hat, sich
auflöst, wie angetrocknete Seife und fortgespült wird. Ist das die Vergebung,
von der die Pfarrer sprechen? Dieses unvermutete Vermächtnis füreinander, diese
Verbindung zwischen dem, der vergibt, und dem, dem vergeben wird? (492)
Welche Figur war für mich Sympathieträgerin? Am Ende waren es Anita und Giulia, aber auch Giulias
Sohn Michael und Libero Manfredi. Auch Adelhaid fand ich sympathisch, die sich
als Frau für Politik interessierte. Sie sich in Männerkleidung begab, um für
das Land mitzukämpfen.
Welche Figur war mir antipathisch? Alfonso Risso, der hinterhältig war und mit einem
Fußtritt einen Hund der Leonis getötet hat.
Meine Identifikationsfigur Es hat lange gedauert, bis ich mich in eine der
Figuren habe spiegeln können. Ich sah mich anfangs in Anita, doch erst am Ende
war ich mir sicher, dass sie es ist, deren Namen ich hier festhalten möchte.
Anita Leone-Ferro.
Cover und Buchtitel Den Titel Bella
ciao fand ich unpassend. Besser finde ich den Originaltitel Destino –
Schicksal.
Bella ciao ist nichtsagend, auch wenn der Titel auf der Seite 509 in
die Nationalhymne gepackt wird, sodass ich im Internet mir die gesamte
Nationalhymne runtergeladen habe, und habe dort allerdings nirgends etwas von
„Bella ciao“ entnehmen können. Das Cover von der Büchergilde finde ich etwas zu
bunt, aber die Idee, beide Staaten, Italien und Amerika, auf den Kopf zu
stellen, soll die Gegensätze aufzeigen, finde ich künstlerisch gelungen, wenn
es aber auch viele Gemeinsamkeiten gibt, die man auch mal ruhig in den Fokus hätte
rücken können.
Das Cover von Diogenes finde ich für mich
ansprechender, wobei die Figur darauf sicher die Hauptfigur Giulia Masca
darstellen soll. Aber warum dunkelhaarig? Giulia hat blonde Haare und blaue
Augen. Überhaupt fand ich es schön, dass die Figuren im Buch bunt waren, es gab
auch Rothaarige. Figuren mit blauen
und grünen Augen, große und kleine Italiener*innen.
Warum dürfen Italiener*innen nicht blond … und hellhäutig sein? Warum halten ausländische
Verlage so an diese Stereotypen fest? Selbst meine Herkunftsfamilie, die nicht
aus dem Norden Italiens kommt, ist bunt gemischt. Viele Blondhaarige, viele mit
blauen und grünen Augen, nicht alle haben schwarze Augen bzw. schwarze Haare. Warum
darf Vielfalt im Süden nicht sein? Sowohl im Auftreten als auch von der Genetik
her werden sie immer als Exoten dargestellt. Ein Schwarz-Weiß-Bild, das ich in
meiner Familie nicht bestätigen kann. Hell ist der Norden Europas, dunkel der
Süden. Doch auch der Norden ist bunt und ist keineswegs nur hell. Es wird ein
Wunschbild kreiert, wie man sich wünscht, wie Menschen aus anderen Ländern
auszusehen haben. Und diese Bilder sind fest in den Köpfen der Leser*innen programmiert.
Man verbindet damit auch bestimmte Verhaltensweisen, wie z. B. Heißblütigkeit,
u. a. negative Attribute.
Verbrecher und Kriminelle werden zum Beispiel meist
dunkelhaarig dargestellt. Die Hellen werden häufig als sanft und sensibel beschrieben.
Ich bin froh, Romagnolo gelesen zu haben, denn in ihrem Roman gibt es auch
weinende, italienische Männer. Selbst in meiner Familie gibt es sehr sensible
Männer, die in belastenden Situationen durchaus Tränen vergießen können. Nicht
alle sind hart gesottene Machos. Aber will man solche Männer? Hier in
Deutschland werden sie als Weicheier beschimpft.
Woher mein kritischer Blick? Durch mein Hauptstudium
der Erziehungswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt, als ich
damals neben meinen anderen Nebenfächern auch das Fach der Migrationspädagogik
mitbelegt hatte, wurde uns Student*innen der Blick geschärft, Bilder in der
Literatur, auch durch Wort und Schrift gegenüber den Personenbeschreibungen
kritisch anzugehen. Selbst in Schulbüchern ist häufig versteckter Rassismus
verbreitet. Kinder werden frühzeitig geimpft, in dem sie Migrant*innen mit bestimmten Mustern im Wir und Ihr-Modus dargestellt bekommen, die zusätzlich ausgrenzende Wirkungen erzeugen sollen. Türken wurden in Schulbüchern häufig der
Berufsgruppe Müllabfuhr, Türkinnen waren Putzfrauen, Italiener waren
Pizzabäcker, etc. während Deutsche in akademische Berufe gepackt wurden. Dies
ist sicher auch ein Grund, weshalb sich keine italienischen Akademiker*innen in
Büchern zu Italien finden lassen, die von deutschen Autor*innen geschrieben werden.
Es ist schwer, sich mit diesen stereotypen Bildern im Kopf z. B. eine*n italienische Wissenschaftler*in etc. vorzustellen.
Zum Schreibkonzept Das Buch ist auf den 518 Seiten in drei Büchern mit
insgesamt neun Kapiteln gegliedert. In manchen Kapiteln findet man weitere
Überschriften, die thematisch aufgebaut sind. Die Erzählform hat
reflektierenden Effekt. Außerdem besitzt die Lektüre eine gut verständliche Sprache.
Manchmal allerdings bedient die Autorin auch Fäkalbegriffe, die wahrscheinlich
gewollt sind, um die Misere Italiens besser verdeutlichen zu können. Für Scheiße hätte man aber auch den Begriff
Kot einsetzen können. Hätte für mich denselben Effekt, klingt nur nobler. Aber diese
primitiven Begriffe sprengen keineswegs den Rahmen.
Auf der ersten Seite schenkt uns die Autorin zwei
wunderschöne einleitende Verse zu ihrem Roman.
Auch findet man zu Beginn jedes neuen Buches einen
Stammbaum der Familien Leone, Masca und Manfredi. Separat dazu Namen anderer
Figuren. Am Ende des Buches ist eine Anmerkung der Autorin abgedruckt, die beschreibt,
wie sie zu ihrem Erzählstoff gelangt ist.
Meine
Meinung Nach dem Ende des
Buches weiß ich noch nicht mit absoluter Sicherheit zu sagen, wie ich zu der
Autorin Raffaella Romagnolo stehen soll, die immerzu von Italien spricht, aber
die Grenzen bis nach Piemont gezogen sind. Es gibt noch nicht einmal die
Hauptstadt Rom, in der von dort aus seit der Staatsgründung von 1861 sämtliche
politische Fäden gesponnen wurden. Vor dieser Zeit war Italien in mehreren
Staaten gesplittet. Florenz hatte zum Beispiel eine eigene Festung, fremd war
jeder, der nicht dieser Bastion angehörte. Durch die gewaltigen Machtkämpfe aus
anderen europäischen Länder wie z. B. das Eindringen durch Österreich in den
Norden, der Süden wurde sogar von arabischen Ländern fremdbesetzt, haben sich
die vielen italienischen Kleinstaaten zusammengetan und gründeten ein großes
Staatsgebiet, um sich gegen die Fremdherrschaft oben wie unten besser schützen
zu können. Aber eine Liebe zwischen diesen Staaten konnte als ein geeintes
Italien nie wirklich erworben werden. Zu groß waren die Vorurteile, zu groß der
Ressentiment unter den vielen kleinen Staaten, die zu einem einzigen Volk
Italiens hätten zusammen wachsen sollen …
Wenn auf diesen
Buchseiten mal über eine Figur aus Süditalien geschrieben wird, dann eher auf
eine recht abfällige und rassistische Form durch die Romanfigur Giulia Masca.
Es herrschen hier dieselben rassistischen Vorurteile, wie man sie von anderen
Ländern zu Italien her kennt. Giulia befindet sich in Manhattan, als sie
folgenden Gedanken spinnt:
In der Wohnung im 1. Stock wohnen jetzt
acht kürzlich angekommene Kalabresen, vielleicht auch neun, Mrs. Giulia Masca
ist sich nicht sicher Sie vermehren sich rasch. Ungebildete Italiener,
Analphabeten mit zu vielen Kindern (…), (37).
Klagte sie doch über
die Bildungsarmut ihres eigenen Landes, auch ihre Mutter war Analphabetin, ihr
Mann Manfredi ist es, hackt sie nun auf die Süditaliener, ohne zu wissen, was
das tatsächlich für Leute sind. Das war oder ist sogar noch italienischer Alltag zwischen
Nord und Süd und dies hat Romagnolo in dieser einzigen Szene sehr gut darstellen können.
Auch Äußerlichkeiten verwenden Norditaliener*innen dieselben Stereotypen wie die Deutschen. Die Süditalien*innen werden alle als dunkelhäutig und schwarzhaarig abgebildet. Dabei sind sie durch das milde und heiße Klima eher sonnengebräunt.
Auf nur 518 Seiten ein
Familienepos über italienische Geschichte zu schreiben, finde ich für jemanden, der
sich mit dieser Materie nur wenig auskennt, eine Überfrachtung. Zu große
Zeitsprünge hin und her, während Menschen, die in dem Land groß geworden sind
und in der Schule italienische Geschichte gelehrt bekommen haben, es
sicher leichter haben, sich in dem Buch historisch zu orientieren. Mir hat in der
Erzählstruktur mitunter ein Zeitraffer gefehlt. Mitten im Text bekommt man
völlig unerwartet mit einer anderen Epoche zu tun und dann wieder mit anderen
Figuren aus den verschiedenen Stammbäumen, die aber alle miteinander verbunden waren.
Auf die
Weltwirtschaftskrise, die in den 1920er und 1930er-Jahren in Amerika
grassierte, so wie auch die Bankenkrisen, die Schuldendeflation … erwähnte die
Autorin kaum. Amerika ging es zu dieser Zeit existenziell auch sehr schlecht.
Viele Amerikaner*innen nagten ähnlich wie die Italiener*innen am Hungerstuch
...
Das Buch hat dennoch
mein Interesse geweckt, dass sich in mir eine innere Lust entwickelt hat,
weitere Bücher zur Geschichte Italiens zu lesen. Der italienische Faschismus
ist mir durch den deutschen Nationalsozialismus vertraut, aber nicht nur auf
Piemont bezogen. Ich habe dazu viele Fachbücher gelesen, aber keine
belletristischen Romane, die es in Italien zuhauf gibt, wie ich mir habe sagen
lassen. Leider werden zu wenige davon ins Deutsche übersetzt.
Doch im Nachhinein fand ich das
Buch sehr gut. Diese Kühle, die die Autorin in die Seelen ihrer Figuren hineingelegt
hat, konnte am Ende in Empathie und Menschlichkeit umgewandelt werden. Ich fand
das Ende daher richtig genial, das mich sehr tief bewegt hat.
Schützt Bildung vor Armut? In
vielen Ländern schon, leider nicht in Italien. In den 1990er Jahren sind viele
italienische Akademiker*innen ausgewandert, da sie im eigenen Land keine
Arbeitsplätze haben finden können. Die Ressourcen der jungen und gut ausgebildeten
Menschen hatte der Staat regelrecht verschwendet, die auch heute noch zu wenig für das eigene
Land eingesetzt werden.
Wie ist das Buch zu mir gekommen? Durch die Buchmesse von 2018. Es fand wieder das alljährliche
Bloggertreffen durch den Diogenes Verlag statt, das von der Pressereferentin S.
B. moderiert wurde. Hier wurden sämtliche Neuerscheinungen für das erste
Halbjahr 2019 vorgestellt. Mir war klar, dass ich durch mein Leseprojekt
italienische Autor*innen Literatur gesucht habe. Romagnolo kam mir hier sehr
recht, da ich mit meinem Projekt noch in den Startlöchern steckte. Entdeckt und
fertig gedruckt hatte ich es allerdings etwas später bei der Büchergilde bei
meinem Quartalseinkauf. Die Büchergilde bekam eine Lizenzausgabe durch die
Genehmigung des Diogenes Verlages, der zuerst die Autorin aufgespürt hatte.
Auch wenn in Amerika von den Medien häufig nur die Glitzerseiten gezeigt werden, gibt es auf Youtube kostenlos einen Spielfilm über die Armut in Amerika zu sehen. Der Film heißt Im Teufelskreis der Armut. Ich hatte ihn mir vor mehreren Jahren mehrmals angeschaut, noch bevor ich Romagnolo kannte.
Auch in diesem Film wird deutlich, wenn in einer Familie die Existenzgrundlage fehlt, dann geht es um das nackte Überleben, und man einfach nicht die Mittel hat, das Kind (weiter) zur Schule zu schicken. In diesem Film bettelt das Kind regelrecht darum, in die Schule gehen zu dürfen. Aber seht selbst.
Mein Fazit Ein Buch nicht nur
über Krieg und Armut, sondern auch über eine echte Freundschaft mit der Weisheit
behaftet, die alles vergibt und nichts vorwirft. Gehen heißt Leben und Leben
heißt, das Beste aus seinem Schicksal zu machen. Bella ciao.
Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe
Schreibweise) 2 Punkte: Differenzierte Charaktere 2 Punkte: Authentizität der Geschichte, Spannung 2 Punkte: Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt 2 Punkte: Frei von Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus 1 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Elf von zwölf Punkten.
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Familie heißt, füreinander da sein.
Niemand hat die Freiheit, einfach stehen zu bleiben. Gehen heißt Leben. (Raffaella Romagnolo)
Der Mensch ist mehr
als nur die biologische Erbmasse. Er ist, was er
innerlich denkt und fühlt. (M. P.)
Die Herkunft eines
Menschen Die Wurzeltheorie
verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere
Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten
haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo
sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.
Es lebe die menschliche Vielfalt in
Deutschland und überall. (M. P.)
1946
kommt Mrs. Giulia Masca in einer Limousine mit Chauffeur nach Borgo di Dentro
zurück. Im Ort ihrer Kindheit hat sie noch eine Rechnung offen. Vor fast
fünfzig Jahren flüchtete sie von hier vor dem Betrug durch ihre Freundin Anita
und ihren Verlobten. Als junge Frau ließ sie Italien hinter sich – allein,
schwanger und ohne Geld –, um in New York ein neues Leben zu beginnen. Während
für Giulia der American Dream wahr wurde, erlebten die Leute im Piemont das
Aufkommen des Faschismus und den Befreiungskampf. Nun trifft Giulia wieder mit
Anita und den Personen aus ihrer Vergangenheit zusammen … Eine Geschichte von
Krieg und Leid, von Mut und Liebe.
Autorenporträt
Raffaella Romagnolo, geboren 1971 in
Casale Monferrato. Sie unterrichtet Geschichte und Italienisch an einem
Gymnasium. Seit 2007 schreibt sie auch Romane – mit Erfolg. Ihr Roman ›Bella
Ciao‹ sorgte international für Aufmerksamkeit und erschien in zahlreichen
Sprachen. Für ›La figlia sbagliata‹ war sie für den Premio Strega nominiert,
ebenso mit ihrem Jugendbuch ›Respira con me‹. Raffaella Romagnolo lebt in Rocca
Grimalda im Piemont.
Meine ersten Leseeindrücke
Ich befinde mich gerade auf der Seite 250, und man wird in die Geschichte Italiens
geführt, von Beginn und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Ich finde das Buch gerade auch wegen der historischen Seite recht interessant und sehr spannend. Außerdem zeigt es, welchen Lebenskampf die Menschen hier geführt haben. Allerdings
kann ich mit den Figuren (noch) nicht wirklich warm werden. Sie wirken auf mich
alle sehr kühl.
Aber interessant, dass die Italiener*innen so etwas wie Vaterlandsliebe im Gegensatz zu den Deutschen nicht kannten. Ewig in einem Existenzkampf verstrickt ist es auch schwierig, das eigene Land lieben zu lernen, wenn eine Regierung ausbeuterische Machenschaften gegenüber kleiner Leute verübt.
Da ich gerade Urlaub habe, möchte ich die Möglichkeit nutzen, und es in dieser Zeit auslesen, weil es so schön ist, viele Seiten am Stück ohne Unterbrechungen lesen zu können. Das ist für mich Lesegenuss.
Ich lese gerne
Bücher über Italien, aber hauptsächlich von Italiener*innen geschrieben, und
nicht von Autor*innen anderer Nationen, die ihre Werke zu dem Land mit Klischees und Stereotypen vollpacken, wobei man auch hier die Spreu vom Weizen trennen muss. Schwierig, wenn man in dem Land nicht lebt, um wirklich gute italienische Literatur finden zu können.
Weitere Informationen zu
dem Buch
Das
Buch ist sowohl im Diogenes Verlag erschienen, als auch bei der Büchergilde.
Hier geht es zu der Verlagsseite von der Büchergilde.
Hier geht es zu der Verlagsseite vom Diogenes Verlag.
Gestern Abend konnte
ich diese Lektüre beenden. Es ist eine ganz andere Form von Literatur, als
ich sie bisher gewöhnt war. Der narrative Schreibstil ist ein wenig
gewöhnungsbedürftig, da man die Hintergründe und die Problematik der
Protagonist*innen ausschließlich aus einer Perspektive erfährt. Dadurch lässt
es auch wenig Raum für eigene Interpretationen. Dennoch ist es ein wichtiges
Buch, wie ich weiter unten noch beschreiben werde.
Hier geht es zum
Klappentext, zum Autorenporträt, zu den ersten Leseeindrücken und zu den Buchdaten.
Die Handlung Die Thematik dieses Buches ist eigentlich schnell
erzählt.
Die beiden Protagonist*innen Stella und Pavlos
kennen sich von Jugend an. Stella hat sich mit 15 schon zu Pavlos hingezogen
gefühlt.
Pavlos
fühlte sich für mich wie Familie an, wie ein großer Bruder, allerdings mit
beträchtigem Sexappeal. (2020; 9)
Pavlos Eltern kamen aus Griechenland, Stellas ihre aus
Kroatien. Demnach sind beide in Deutschland mit mehreren Kulturen aufgewachsen,
während die Eltern einst wieder in die Heimatländer zurückgekehrt sind. Die Handlung spielt hauptsächlich in Berlin.
Was
vermisst Stella, was sie in Pavlos sucht? Die Antwort könnte im obigen Zitat stecken. Pavlos ist fünf Jahre älter als
Stella. Beide wurden im selben Krankenhaus geboren, beide studierten später
Medizin. Beide gingen erst mal wieder getrennte Wege und sahen sich für viele
Jahre nicht mehr. Pavlos gründete in der Zwischenzeit eine Familie, die aber in
die Brüche geht. Zurück bleiben zwei kleine Kinder. Später stellt sich heraus,
dass die Ehe an einer Alkoholsucht gescheitert ist ...
Stella und Pavlos kommen wieder zusammen. Stella
ahnt noch nichts von den gescheiterten Problemen der ersten Ehe. Zwischen ihnen
beiden entwickelt sich eine starke Anziehungskraft hauptsächlich sexueller Art.
Unbedingt will Stella Pavlos heiraten, auch dann noch, als sich die Probleme
nun auch zwischen ihnen beiden immer weiter zuzuspitzen drohen, da Pavlos hier immer weiter von der Alkohol- und Sexsucht mit anderen Frauen ergriffen
wird. Rabiate Gewalteskalationen werden in dem Buch zum Dauerbrenner. Stella führt
schier einen fast unlösbaren Überlebens- bzw. Liebeskampf mit dem Partner.
Welche Szene hat mir nicht gefallen? Ich fand die Szene grauenvoll, als Pavlos es
schaffte, Stella zu überreden, sich vor ihm auf die Knie zu begeben und sie ihm eine runterhauen sollte. Obwohl sie es bescheuert fand, hat sie sich doch dafür
breitschlagen lassen. Dann erfolgte wie erwartet eine potenzielle Retourkutsche mit schweren Folgen für Stella …
Welche Szene hat mir gefallen? Mir hat gefallen, dass Stella sich nicht aufgegeben hat. Sie hat versucht, mithilfe von einer konstruktiven Selbstreflexion und diversen anderen Hilfsmitteln an die Problematik zur Überwindung heranzugehen. Gut fand ich, dass ihre Therapeutin ihr zu keiner Trennung geraten hat, da sie selbst einen Weg daraus hat finden sollen. Gefallen hat mir auch, dass ihr Freundeskreis hinter ihr stand.
Welche Figur war für mich Sympathieträgerin? Keine.
Welche Figur war mir antipathisch? Keine. Beide, sowohl Stella als auch Pavlos führten miteinander
und gegeneinander einen heftigen Überlebenskampf.
Meine Identifikationsfigur Keine. Obwohl ich mich zeitweise an eine eigene komplizierte
Paarerfahrung erinnern musste. Auch ich hatte mal einen Partner, der mich in
einen Strudel von Destruktivität mitreißen wollte. Die Beziehung dauerte nur drei
Monate, weil ich seine miese Masche, mit der er selber ziemlich verstrickt war, schnell durchschaut hatte.
Ich löste mich von ihm durch einen radikalen Cut, nachdem er mir mehrmals deutlich
zu verstehen gab, dass er nicht an seinen Problemen arbeiten wollte.
Ich hatte auch den Vorteil, dass ich durch mein
Studium und durch meine Arbeit in einer Psychiatrie ziemlich viel Hintergrundwissen
besaß, sodass ich erst gar nicht in diese Muster von Abhängigkeit jeglicher Form erst schlittern
konnte.
Cover und Buchtitel
Beides fand ich passend, wobei ich diesen freudschen Versprecher von Liebesrausch analysieren konnte. Darüber hatte ich in meiner Buchvorstellung geschrieben. Stella war so in der Liebe zu diesem Mann gefangen, dass es mir wie ein Liebesrausch mit bitterem
Beigeschmack vorkam. Das Cover bereitet auf jeden Fall die Leser*innen auf Tabus vor, und die Realität, wie sie ist, nicht wirklich sehen wollen/können, sie nicht wahrhaben wollen.
Zum Schreibkonzept Eigentlich ist das Buch als ein Roman deklariert.
Finde ich aber nicht wirklich passend, da der Schreibstil eher eine
Tagebuchform besitzt. Man hat den Eindruck, dass die Icherzählerin Stella sich schriftlich
die Nöte von der Seele herausschreibt. Diese Art von Stil habe ich bei der
Hälfte des Buches als anstrengend empfunden, weil sich die Thematik immerzu aus der selben Perspektive wiederholt
hatte.
Das Buch zeigt auf den 251 Seiten wenig Struktur. Es
gibt keine Kapitel, lediglich ein Epilog und eine übliche Danksagung zum
Schluss. Insgesamt zwei Mal schreibt Stella einen Brief an Pavlos und an dessen
Geliebte. Von der Art her aber nicht viel anders als der Erzählstil, nur dass
die Personen hier direkt angesprochen werden. Aber man erfährt inhaltlich nicht viel Neues. Ein wenig über Pavlos Reaktion auf die Briefe aber auch wieder über Stella.
Meine
Meinung Mit der im Klappentext
beschriebenen Co-Abhängigikeit bin ich nicht ganz klargekommen, wenn ich so im
Nachhinein darüber nachdenke. Warum ist Stella co-abhängig? Wo sind ihre
Schwächen? Warum bindet sie sich dermaßen sklavisch an einen Partner, der sie schwerst
misshandelt und missbraucht? Was kompensiert sie durch Pavlos? Stella ist für
mich kein Opfer, sowie Pavlos auch kein Täter für mich ist. Sie sind für mich
beide gleichwertig verantwortlich für ihre Handlungen, und beide sind krank,
nicht nur der Partner. Warum entwickelten sich beide im Laufe ihres Lebens so, wie
sie waren? Aneinandergekettet, niemand schafft es, sich über eine längere Zeit davon zu lösen,
während Pavlos erste Frau sich sehr wohl von den Gewalteskapaden zu befreien in der
Lage war. Warum hat Stella mit der Trennung solange gewartet? Was sind die tieferen und weniger die äußeren Hintergründe? Hier hätte man mehr Analysen aus der Kindheit mit einbeziehen
sollen. Manchmal wirft Stella situativ bestimmt Schlagwörter durch den Raum, wie z. B. angedeutete Identitätsprobleme durch den Migrationshintergrund, oder die vorübergehende Arbeitslosigkeit des Partners.
Auf Seite 199 begeht die Autorin
einen groben Fehler, in dem sie schreibt:
Promiskuität gehört zum Repertoire Suchtkranker
In der Arbeit mit psychisch und
suchtkranken Menschen kann ich diese Pauschalisierung überhaupt nicht
bestätigen. Das ist auch wissenschaftlich nicht belegt. Ich kenne nicht einen
Suchtkranken, der auch sexsüchtig war. Und ich kenne viele Suchtkranken, die
nicht co-abhängig waren. Einige lebten sogar ohne Beziehung, hatten noch nie in
einer festen Partnerschaft gelebt. Hier wird ein Vorurteil forciert, das ich
für gefährlich halte, wenn Leser*innen, die nicht vom Fach sind, dies einfach ungefragt
hinnehmen und sie womöglich diesen Verdacht auf ihre Alkoholbeziehung auslegen.
Und zur Co-Abhängigkeit gibt es zu sagen, dass es diese in weiter Facon gibt, es würde aber den Rahmen sprengen, sie anhand von
Beispielen zu benennen.
Ansonsten halte ich das Buch
absolut für lesenswert für Menschen, die ebenso Probleme mit der Paarbeziehung
dieser Art haben. Vielleicht bekommt man durch dieses Buch die eigene Beziehung
klarer gespiegelt und fühlt sich angespornt, sich endlich von ihr zu lösen. Es
gibt viele Menschen, wie ich dies aus meiner Berufspraxis heraus kenne, die es
nicht geschafft haben, sich von ihrer Abhängigkeit zu lösen. Ihnen, so denke ich,
sollte dieses Buch gewidmet sein und ihnen helfen, sämtliche Ketten zu sprengen.
Wie ist das Buch zu mir gekommen? Die Autorin hatte mir eine Anfrage gestellt. Als ich
den Klappentext gelesen habe, habe ich mich gefragt, ob ich das Buch in meiner
Freizeit wirklich lesen möchte?, da es mich an meine eigene Klientel erinnern
würde und ich mich privat nicht auch noch mit diesen belastenden Problemen
befassen wollte. >>Ich habe Feierabend<<, hatte ich mir gedacht.
Aber weshalb hatte ich mich doch entschlossen, das Buch anzunehmen? Weil ich dadurch
die Hoffnung hegte, dieses Buch an meine betroffene Klientel weiterzureichen. Es ihnen zu empfehlen, weil es sich so schön flüssig lesen
lässt, so richtig aus dem Leben gegriffen. Genau für Menschen, die
nicht so viel mit Theorien anfangen können. Dies war mein Ziel und ich finde, dass
dieses Ziel mit diesem Buch erreicht wurde.
Mein Fazit Die Liebe geht häufig seltsame Wege und man sollte vorsichtig sein mit vorschnellen Urteilen bei Menschen, die aus schwierigen Beziehungsverhältnissen kommen.
Meine Bewertung
2 Punkte: Sprachlicher Ausdruck (Anspruchsvoll, keine saloppe Schreibweise) 1 Punkte:
Differenzierte Charaktere 1 Punkte:
Authentizität der Geschichte. (Sie war sehr facettenarm trotz komplexer Problematik) 0 Punkte:
Fantasievoll, ohne dass es kitschig oder zu sentimental wirkt (Wenig Phantasie, da realistischer Erlebnisbericht über die Stella) 1 Punkte: Frei von
Stereotypen, Vorurteilen, Klischees und Rassismus
2 Punkte: Cover und Titel stimmen mit dem Inhalt überein
Sieben von zwölf Punkten.
Dankeschön an Karmen Jurela für das Leseexemplar.
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Jeder kann die Welt mit seinem Leben ein kleinwenig besser machen. (Charles Dickens)
Der Mensch ist mehr
als nur die biologische Erbmasse. Er ist, was er
innerlich denkt und fühlt. (M. P.)
Die Herkunft eines
Menschen Die Wurzeltheorie
verdammt Menschen zu ewigen Ausländer*innen, nur, weil sie eine andere
Hautfarbe, eine andere Religion oder einen anderen Namen tragen. Die meisten
haben ihre Wurzeln dort geschlagen, wo sie geboren wurden und / oder dort, wo
sie ihr ganzes Leben zugebracht haben.
Es lebe die menschliche Vielfalt in
Deutschland und überall. (M. P.)
Das Berliner Revival einer alten Jugendliebe eskaliert zu einem Höllentrip
aus Alkoholsucht, Co-Abhängigkeit, Obsession und Gewalt.
Während Pavlos immer tiefer in den Abgründen seiner Sucht versinkt, muss Stella
sich von ihren eigenen verhängnisvollen Verstrickungen befreien, um zu ihrem
Leben zurück zu finden.
Erstmals wird hier das verstörende Beziehungsmuster einer Co-Abhängigkeit
aus der Perspektive einer Frau erzählt.
Autorenporträt
Karmen
Jurela, Jahrgang 1974, arbeitet als Zahnärztin, ICF-zertifizierter
Consciousness-Coach®, Bloggerin und Schriftstellerin. Die Autorin führt eine
zahnärztliche Gemeinschaftspraxis und lebt mit ihrem Lebensgefährten in Berlin.
Basierend auf ihren langjährigen Erfahrungen mit medizinischer Hypnose und
inspiriert durch die bahnbrechenden Erkenntnisse der positiven Psychologie,
moderner Gehirnforschung sowie spiritueller Lehren schöpft sie ihre größte
Freude daraus, als Coach Menschen auf Ihrem Weg in ein selbstverantwortetes, gesundes,
kreatives, freudevolles Leben zu begleiten: Folge Deiner Berufung! INSPIRE!
HEAL! REWIRE!
Meine ersten Leseeindrücke
Ich habe
bisher 120 Seiten gelesen. Die Thematik ist mir durch meine Berufspraxis nicht
neu, dennoch hat es mich gefesselt.
Ich hatte
sogar einen Freud’schen Versprecher aus Rauschliebe wurde Liebesrausch. Ich
habe darüber nachgedacht und die Bedeutung herausfinden können. Ich gehe in
meiner späteren Buchbesprechung näher darauf ein.
Weitere Informationen zu
dem Buch
·Taschenbuch : 260 Seiten
·ISBN-13 : 978-3750460720
·ISBN-10 : 3750460728
·Größe und/oder Gewicht : 14.8 x 1.8 x 21 cm
·Herausgeber : BoD – Books on Demand; 2. Auflage (20. Februar 2020)