Samstag, 26. September 2020

Marcel Proust und seine Angst vor Ideenräubern

Wieder jede Menge Gedanken zu seinem Pariser Roman. Proust bittet die

Briefpartner*innen immer wieder um Stillschweigen, da er befürchtet, auf Ideenräuber zu stoßen und ausgeplündert zu werden 💓.

An Alfred Vallette
Mitte August 1909, Proust 38 Jahre alt

Dieser Brief hatte übrigens die Besonderheit, wenn schon leider höchst belanglos, so doch zugleich äußerst vertraulich zu sein. Ob meine Vorschläge Ihnen zusagen oder nicht, ich bitte Sie, Sie wenigstens in einem Punkt geheim zu halten. Sie werden gleich sehen, warum. Ich beende ein Buch, das trotz seines vorläufigen Titels gegen Saint Beuve, >Erinnerungen an einem Vormittag< ein echter Roman ist, und zwar in manchen Teilen ein höchst unsittlicher. Eine der Hauptfiguren ist ein Homosexueller. Und ich zähle darauf, dass Sie dies buchstäblich geheim halten. Würde es vor Erscheinen des Buches bekannt, dann würden zahlreiche treu ergebene und furchtsame Freunde mich bestürmen, nur ja darauf zu verzichten. Außerdem denke ich mir, dass in alldem (mit Verlaub!) Neues steckt, und ich möchte nicht von anderen ausgeplündert werden. (607)

Auch an Geneviève Straus spricht er über sein umfangreiches Buch, das er ihr als beendet bekannt gibt. Damals war ihm selbst noch nicht bewusst, dass zu diesem Band noch sechs weitere Folgen anschließen sollten.

An Geneviève Straus
Mitte August 1909
Cabourg

Ich möchte nicht, dass Sie die schon oft geäußerten, aber diesmal vielleicht ernster zunehmenden Drohungen allzu ernst nehmen, glaube jedoch, dass Sie mich dieses Jahr recht häufig in Paris sehen werden. Und zuvor werden Sie mich lesen - und zwar mehr, als Ihnen lieb ist - denn ich habe vor kurzem ein langes Buch begonnen - und beendet. Leider hat die Reise nach Cabourg meine Arbeit unterbrochen, und ich muss mich erst wieder daransetzen. Vielleicht erscheint ein Teil davon in Fortsetzungen im Figaro, aber nur ein Teil. Denn es ist zu unschicklich und zu lang, als dass man es insgesamt herausbringen könnte. Aber ich möchte damit zu Ende, ans Ziel kommen. Wenn alles fertig ist, bleibt noch viel umzuarbeiten. (611f)

Da ich ja alle Bände dieses Pariser Romans gelesen habe, finde ich es jetzt richtig spannend an der Entstehung, wenn auch nur geistig beteiligt zu sein. Es fühlt sich gut an zu erleben, wie diese Größe an Kunstwerk entstanden und welche Entwicklung es durchlaufen ist.

In der Fußnote geht hervor, dass es hier schon Zyklen zu Swanns Liebe zu erkennen gab. Ich denke, dass Proust selbst noch nicht ahnte, dass seine Arbeit sich zu einem Jahrzehnte langes Werk entpuppen wird.

In diesem Brief werden auch Weisheiten ausgetauscht. Und darüber, wie sich sein Schriftstellerfreund Robert de Montesquioi sich in Paris neu eingerichtet haben soll, und bringt einen Vergleich mit Romanen.

Wir glauben, wir sind hübscher Häuser überdrüssig, weil alles gleich ist und uns langweilt. Aber damit steht es wie mit den Romanen, wir sind sie leid bis zu dem Tag, da ein originelles Buch erscheint, das uns wieder aufnahmebereit und leselustig macht. Ich bin sicher, dass die ganze ausgesuchte geschmackvolle Einrichtung Ihnen sehr gefallen würde und dass es ihm große Freude machen würde, sie Ihnen zu zeigen. Denn er hat die ganz schlichte Natur wahrer Künstler, und wenn nur sehr wenige Menschen ihm gefallen können, so gefällt ihm an diesen wenigen alles. Sie kennen La Bruyères Ausspruch: >Mit geliebten Menschen zusammen sein, mit ihnen sprechen, nicht mit ihnen sprechen - das bleibt sich gleich, wenn man nur mit ihnen zusammen ist< (ich zitiere sehr ungenau). Das ist leider ein Vergnügen, das ich nicht habe, ich bin nie mit den Menschen zusammen, die ich liebe. in Paris habe ich wenigstens den Trost, nicht mit denen zusammen zu sein, dich ich nicht liebe, in Cabourg habe ich ihn nicht. (612)

Damit äußert Proust auch seine Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Kontakten, weshalb er Jean de La Bruyère dabei zitiert. Der französische Moralist und Schriftsteller Jean de La Bruyère ist 1645 in Paris geboren und 1696 in Versailles gestorben.

Proust sehnt sich nach geliebten Menschen. Ich denke immer noch, dass ihm seine 1905 verstorbene Mutter sehr stark fehlt. Sie war ihm einfach eine seelische Stütze, sowohl in seinen geistigen Aktivitäten als auch wenn er krank war.

 Zurück zu seinem Pariser Roman, über den er mit einem weiteren Freund spricht und zeigt, wie groß sein Bedürfnis ist, sich darüber mitzuteilen. Und auch hier bittet er um Vertraulichkeit.

An Georges de Lauris
Anfang Dezember 1909

Was die Diskretion betrifft, so können Sie sehr gern sagen, dass ich Ihnen den Anfang meines Buches zu lesen gegeben habe, und falls jemand finden sollte - worauf ich mir keinerlei Hoffnung mache!-; dies sei ein exklusives Privileg, so erklärte und betone ich nur allzu gern meine Vorliebe für Sie. Worum ich Sie bitte, ist, dass sie weder das Thema noch den Titel weitererzählen, kurzum nichts, was Einblick verschaffen könnte (…). Aber außerdem will ich weder bedrängt noch belästigt, weder erahnt noch überholt, weder kopiert noch kommentiert, weder kritisiert noch geschmäht werden. Wenn mein Denken und sein Werk vollendet hat, wird immer noch Zeit sein, der Dummheit der anderen das Feld zu räumen! (618f)

Was meint Proust damit? Ist sein Werk nur gut, wenn er auf positive Stimmen stößt, und dumm sind die Leser*innen, die es kritisch beäugen? Wie kritikfähig ist Proust selbst?

Wenn ich an meine eigenen Schreibtexte denke, war ich mein strengster Richter gewesen, der mir dadurch viel Kraft geraubt hat, bis ich das Schreiben aufgeben musste. Rückblickend betrachtet hätte es mir gutgetan, mit einem liebevolleren Blick darauf zu schauen. Bei Proust denke ich allerdings ganz häufig, dass er zu geschwollen daherredet. Viel zu viele Worthülsen, wo ich mir mittlerweile nicht mehr sicher bin, ob er sie auch wirklich ernst meint. Im Grunde will er immer nur Gutes über sich reden hören. Psychologisch betrachtet grenzt dieser Charakterzug schon gewaltig an Selbstsucht, ohne seine Schreibkunst schmälern zu wollen.

Weiter geht es hoffentlich nächstes Wochenende von Seite 630 - 640.

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Proust Zitate

Man kann nur über das gut schreiben,
was man liebt.
(Marcel Proust zitiert Ernest Renan)

Kennzeichen wahrer Originalität ist,
über ein nichtssagendes Thema nichts zu sagen.
(Brief an Georg de Lauris)

Es genügt, mit den Menschen zusammen zu sein, die man liebt; man kann träumen, mit ihnen sprechen, nicht mit ihnen sprechen, an sie denken, an unwesentlichere Dinge denken, in ihrer Gesellschaft ist das alles gleich. Wenn man mit den Menschen zusammen ist, die man liebt, ist es ganz gleich, ob man mit ihnen spricht oder nicht.
(Marcel Proust zitiert 
Jean de La Bruyère)